ZUFÄLLE, DIE KEINE SIND

IMAGE ie glühendsten Liebesbriefe, die uns unsere Computer schreiben, sind Statistiken. Damit gewinnen sie unser Herz. Wie oft wurde ich geklickt? Wer zitiert mich? Wie viele Freunde habe ich auf Facebook? Welches sind die angesagtesten Themen? Manchmal sind Torten dabei oder Gebilde, die wie Blumensträuße aussehen, wie Wolken oder antike Säulen. Aber das sind nur die Diagramme. Darunter stampft der Maschinencode der Software. Nicht nur die Suchmaschinen, die intelligenten Agenten, die Ebay- und sonstigen Plattformen leben von den Statistiken, auch die Welt der Blogs und Facebooks. »Meistgelesen« oder »Meistverschickt« sind ebenso selbstverständlich wie die Wortwolken, in denen die beliebtesten Begriffe kondensieren, die Freundschaftsstatistiken in den sozialen Netzwerken, die Webprotokolle von Google, in denen man sein eigenes Suchverhalten ablesen kann. Wenn man wirklich verstehen will, wie die digitale Welt unser Gefühl von uns selbst verändert, dann ist es dieser Sieg der Statistik: Wir wollen herausfinden, wer wir sind, indem wir herausfinden, was alle tun.

Je häufiger ich im Internet surfe, so die unbewusste Annahme, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ich etwas verpasse; je häufiger ich meine E-Mails abrufe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ich die E-Mail verpasse, die mein Leben ändert; je häufiger ich nach der pulsierenden SMS sehe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass mich die Absage der Verabredung verfehlt (aber auch Dinge wie: je häufiger ein Thema meines Blogs kommentiert wird, desto wahrscheinlicher, dass es alle interessiert und so weiter) - wobei der gesunde Menschenverstand einem sagen müsste, dass all dies fast nie der Fall ist.

Es gibt keine wichtige Nachricht, die uns nicht erreicht. Das gilt nicht nur für die »Breaking News«, dass Oliver Pocher Vater wird, sondern auch für die, die wir über unser eigenes Leben bekommen. Und besonders dann, wenn die Kommunikations-form »Geld« geworden ist: An der Wall Street jedenfalls hat, wie nicht nur der veröffentlichte E-Mail-Verkehr der Lehman-Bank zeigt, dieses Verhalten niemandem genützt. Es hat nur unseren Sinn für unwahrscheinliche Ereignisse vernebelt. Oder mit Blick auf die Augentafel: »Wir sind buchstäblich blind für das, was wir nicht erwarten.«

Wenn, was alle tun, noch nicht einmal bei Snellens Augentafel stimmen muss, wie viel weniger dann dort, wo Menschen mit Menschen reden? Hydraulikpumpen lassen sich so berechnen, aber nicht menschliches Verhalten. Tatsächlich liegt der Liebesbeziehung zwischen Mensch und Computer an diesem Punkt ein tragisches Missverständnis zugrunde. Denn die Fehlertoleranz, die das menschliche Hirn entwickelt hat, um zu funktionieren - die Quelle nicht nur von Unklarheiten, sondern auch von Fantasie und Freiheit -, kennen die Computer nicht. Schon der große Computerpionier John von Neumann wies darauf hin, dass die Art, wie die Logik unseres Hirns und unser zentrales Nervensystem statistisch funktionieren, eher einem Wirtschaftssystem entsprechen als der polizeilichen Null-Toleranz des digitalen Computers. In den wunderbaren Worten von Neumann: »Wir müssen die Tatsache wieder und wieder betonen, dass kein existierender Computer zuverlässig auf einem so niedrigen Präzisionsniveau arbeiten kann, wie das menschliche Hirn.«160 Es kann deshalb - anders als der Computer - eben auch viel besser auf Unerwartetes reagieren. Allerdings nicht, wenn wir uns plötzlich in die Sprache der Computer verlieben. Wir treiben unserem Hirn die Toleranz gewissermaßen aus. Trotz vieler Probleme haben wir im wirklichen Leben immer noch Daumenregeln, Intuitionen und Bauchgefühle, was wir wissen müssen, was wir vergessen können, was wichtig ist und was nicht. In den Netzwerken nicht: Wer kann beurteilen, was 8 Millionen Abrufe eines Youtube-Videos bedeuten? Muss man die Zahl ins Verhältnis setzen zu anderen Abrufen oder ins Verhältnis zu den Milliarden, die abrufen könnten, aber es nicht getan haben?

Es geht um weitaus mehr als die Fähigkeit, Bücher zu lesen oder Statistiken - es geht um die Fähigkeit, sein eigenes Leben zu lesen. Bisher hat das immer ganz gut funktioniert. Unser menschliches Hirn lernt nach statistischen Regeln. Was häufig vorkommt, wird verknüpft, was selten vorkommt, wird vergessen. Darum pauken wir englische Vokabeln, aber vergessen sie, wenn wir sie nicht benutzen. Wenn die Autoalarmanlage zum fünften Mal in der Stunde losheult, haben wir gelernt, dass wir nicht die Polizei, sondern die Werkstatt anrufen müssen. Diese Fähigkeit ist eine geniale Überlebensstrategie in unserer natürlichen Umwelt.

Anders sieht es bei der digitalen Umwelt aus, denn es ist eine Umwelt, in der jemand die Fäden zieht.Würde ein besonders gewiefter Einbrecher die Alarmanlage deshalb immer wieder auslösen, damit wir sie genervt ignorieren und er das Auto in Ruhe stehlen kann, würden wir zwar immer noch etwas lernen, aber leider das Falsche. Wird unser Verhältnis zu Informationen ein rein statistisches - jede Google-Suche ist nichts anderes als ein statistischer Akt, den man noch dadurch einschränkt, dass man bestenfalls die ersten zwei Seiten der Suchergebnisse anklickt -, kann es zu fatalen Rückkoppelungen kommen.

Es beginnt banal: Eine E-Mail, die nicht innerhalb von 48 Stunden beantwortet wird, wird nie beantwortet. Und es endet sehr viel existenzieller: ein Mensch, dessen Facebook-Eintrag verwaist, dessen Blog nicht geklickt wird, ein Wissen, das nicht im Internet existiert, ein Mensch, der keine Spuren im Netz hinterlässt - all das hört auf zu existieren. Wenn Sie das nicht glauben, fragen Sie Ihren Arbeitgeber von 2020.