MULTITASKING IST KÖRPERVERLETZUNG

IMAGE lle sind sich einig: Die größte Tugend der Informationsgesellschaft heißt Multitasking. Sie wird von Müttern, Managern, Arbeitern, Akademikern, Schulkindern, Eltern, Großeltern verlangt, und sie ist die nachweislich erste Verhaltensweise, die uns die Computer aufzwangen, nachdem sie selbst gelernt hatten, mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen. Die Funktionsweise der Prozessoren wird zur Lebensweise, die unser Hirn und mittlerweile die wirkliche Welt in großem Umfang prägt: Familie managen, Rasen mähen, Einkauf organisieren, E-Mails abrufen, freundlich bleiben - nur beim Autofahren ist Multitasking gesetzlich verboten. Es hat einen ganzen Kult des modernen Menschen ausgelöst und übt einen enormen sozialen Druck aus.

Alles spricht dafür, dass Multitasking Körperverletzung ist.

Die Ideologie des Multitasking, eine Art digitaler Taylorismus mit sadistischer Antriebsstruktur, hat deshalb so weitreichende Wirkungen in die wirkliche Welt, weil sie voraussetzt, dass Menschen jederzeit mehrere Dinge gleichzeitig machen können. Sie ist damit das ideale Gefäß für eine Gesellschaft, in der die Gleichzeitigkeit von Informationen zur Norm und zum Arbeitsplatzprofil wird. Mehrere Dinge gleichzeitig zu tun heißt nichts anderes, als ständig abgelenkt zu werden und die Ablenkung wieder unter Kontrolle bringen zu müssen.

Die Menschen verlieren buchstäblich all das, was sie von den Computern unterscheidet - Kreativität, Flexibilität und Spontaneität -, und sind gleichzeitig immer mehr gezwungen, im Privatleben oder am Arbeitsplatz nach den Vorgaben der Rechner zu funktionieren. Die verheerenden Konsequenzen dieser Ideologie erkennt man besser, wenn man statt auf die Hightech-Arbeitsplätze auf die Arbeitswelten schaut, in denen die wirkliche private Armut des Einzelnen mit der Notwendigkeit, an einem industriellen Arbeitsplatz Geld zu verdienen, in Konflikt gerät, sei es an der Supermarktkasse oder in der Werks-halle.

Genau das hat Sendhil Mullainathan getan, ein junger Verhaltensökonom, den der amerikanische Präsident Barack Obama als Berater ins Weiße Haus geholt hat. Seine Erkenntnisse belegen, dass das Leiden unter Multitasking kein Luxusproblem ist, sondern an existenziellen Fragen der Lebensvorsorge rührt, in reichen wie in armen Ländern. Mullainathan fiel auf, dass in Statistiken immer wieder behauptet wurde, arme oder schlecht bezahlte Arbeitnehmer würden weniger arbeiten als andere. Die gängigen Theorien überzeugten ihn nicht und er fand eine andere Antwort: Der Zwang, seine Aufmerksamkeit ständig anderen Problemen zu widmen, erzeugt eine ökonomische Spirale des Versagens. Mullainathans Entdeckung lautet, dass der Produktivitätsunterschied zwischen armen und besser gestellten Arbeitnehmern damit zu tun hat, dass die Besserverdienenden mehr Geld in Vorkehrungen investieren können, die Ablenkungen von ihnen fernzuhalten - vom Babysitter bis zur gesicherten Wasserversorgung. »Menschen können sich nicht konzentriert ihrer Arbeit widmen, wenn sie von häuslichen Sorgen abgelenkt werden. Aber wenn sie sich nicht um die häuslichen Probleme kümmern, zahlen sie ebenfalls einen Preis: Frühe Anzeichen der Erkrankung eines Kindes werden nicht bemerkt, der Wasservorrat ist erschöpft, es fehlt Brennstoff für die Lampen, sodass man seine Hausarbeiten nicht mehr machen kann usw.«56

Zwar müssen sich Bewohner der westlichen Hemisphäre um Wasserversorgung und Petroleum keine Sorgen machen, aber sehr wohl um die Wasser- und die Stromrechnung. Und was für die materielle Daseinsvorsorge gilt, gilt ebenso für die mentale. Multitasking ist eine sich selbst beschleunigende Abwärtsspirale, bei der man am Ende nur noch dafür lebt und arbeitet, die Ablenkungen, die sie produziert, von sich fernzuhalten.

Reichtum - und zwar materieller wie seelischer Reichtum - in der gegenwärtigen Welt zeigt sich daran, wie viel Geld man investieren kann, um Ablenkungen von sich fernzuhalten. Nicht zufällig stellt das »Time Magazine« bereits 2006 überrascht fest: »Einige der reichsten und produktivsten Menschen der Welt weigern sich, ihr Gehirn den Datenströmen zu unterwerfen.«57 Die anderen freilich müssen es weiter tun.

Bis vor Kurzem war Multitasking wie das Tennis-Racket des sportlichen Weltbürgers von heute. Im Sommer 2009 stellte Stanford-Forscher Clifford Nass das Ganze dann in ein etwas anderes Licht. Im Auftrag der amerikanischen »National Academy of Science« hat er eine aufsehenerregende Studie veröffentlicht, die zum ersten Mal die Unterschiede zwischen Menschen aufzeigt, die sehr viel multitasken - die also zwischen verschiedenen Medien, vom Blackberry über das Internet bis zum Fernsehen hin und her surfen, E-Mails abrufen und keine Nachricht verpassen wollen - und solchen, die es selten tun.

Nass fand heraus:

  • Je intensiver Menschen dem Medien-Multitasking nachgehen, desto weniger können sie auswählen, was ihr Arbeitsgedächtnis speichert und desto stärker wird ihre Zerstreutheit.
  • Multitasker verlieren systematisch die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem in ihrer Umgebung zu unterscheiden. Aber nicht nur in der Umgebung: Auch das Gedächtnis vermag nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden, was dazu führt, dass wir immer weniger in der Lage sind, ein Fazit zu ziehen.
  • Multitasker reagieren häufiger auf »falschen Alarm«, das heißt, sie sind bereit, alles stehen und liegen zu lassen, wenn ein neuer Informationsreiz eintrifft, und sie verlieren sogar die Fähigkeit, später zu beurteilen, wo es sinnvoll war, die Aufmerksamkeit abzulenken, und wo nicht.
  • Multitasker werden nicht immer effizienter, sondern immer schlechter, selbst im Bereich des Multitaskings. Sie werden langsamer bei allen Tätigkeiten, die keinen Aufgabenwechsel erlauben, und können sich auf Aufgabenwechsel auch schwerer einstellen. Ein Phänomen, das die Forscher besonders überraschend finden angesichts der Bedeutung, die dem permanenten Aufgabenwechsel zukommt.
  • Die geistigen Leistungen von Multitaskern werden in einigen Bereichen immer fehlerhafter, beginnen sogar zu sinken. Die Fähigkeit des Menschen zu denken, wird immer fehlerhafter.58

Diese Ergebnisse zeigen, dass die neuen Technologien geistige Anforderungen stellen, die man nicht erlernen kann - im Gegenteil: Intensive Multitasker werden selbst im Multitasken schlechter, je länger sie ihm nachgehen.

In einer Vollständigkeit und Kühle ist das eine Diagnose, wie sie nicht einmal Skeptiker hätten erwarten können. Haben die Stanford-Forscher recht, dann können wir uns Multitasking nicht durch Lernen, nicht einmal durch Training aneignen.

Die Menschen müssen etwas lernen, das sie nicht lernen können. In diesem einfachen Satz stecken nicht nur alle Frustrationen des Informationszeitalters, sondern er erklärt das diffuse Gefühl vieler Menschen, trotz immer größerer Informationsfreiheiten immer mehr eigene Freiheit zu verlieren. Es gibt nichts, was wir einerseits können müssen und anderseits niemals können werden. Eine ziemlich ungewöhnliche Lage, in der wir uns befinden. Wenn Menschen nicht multitasken können, dann verbringen sie einfach weniger Zeit mit allem, Schuldgefühle und Versagensängste inklusive.59

Multitasking ist der zum Scheitern verurteilte Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden.

Die Zunahme der permanenten Ablenkungen führt immer mehr zu einer grundlegenden Unterhöhlung der geistigen Kontrolle, die wir über unsere Welt zu haben glauben, und zwar nicht aus philosophischen, sondern aus fast medizinischen Gründen: Weil im Gehirn sowohl Gedächtnis- wie Aufmerksamkeitsregion betroffen sind - mit Folgen nicht nur fürs Lernen, sondern auch für die Manipulationsanfälligkeit und Verführung von Menschen.

»Viele Menschen«, so lautet die Prognose von Clifford Nass, »werden immer unfähiger werden, mit der sich verändernden medialen Welt zurechtzukommen. Klarheit darüber, was Ursache und Wirkung sind, ist entscheidend für unser Verständnis von Denken im 21. Jahrhundert.«60

Was ist gespeichert und wo ist es gespeichert: In den Maschinen oder im Kopf?

Ein Denken, das ständig seine eigenen Defizite spürt, sucht Halt. Es verlässt gewissermaßen den Kopf und wird in immer größerem Umfang an die Maschinen abgegeben. Dadurch wird es angreifbar. Und es gerät in heillose Konfusion. Und wird manipulierbar, denn es spielt sich auf Plattformen eines Mitspielers ab, der in den Worten Amperes »mit unbegrenzten Chancen« ausgestattet ist.

Das Denken wandert nach außen.