DIE ZUKUNFT DER BILDUNG

IMAGE m Jahre 2007 tauchte im Internet ein Video auf, in dem ein paar Studenten einer relativ unbedeutenden amerikanischen Universität ihre Zukunft beschrieben. Innerhalb kürzester Zeit war »Eine Vision der Studenten von heute« mit über 8 Millionen Downloads eines der populärsten im Netz und löste eine Informationskaskade in Universitäten auf der ganzen Welt aus.161 Dabei war das, was der Film zeigte, dramaturgisch und ästhetisch ziemlich unspektakulär: Studenten sitzen in einem Vorlesungssaal und halten nach und nach Schrifttafeln hoch, auf denen sie Aussagen über ihr Leben machen.

Der Regisseur des knapp fünfminütigen Videos war der Anthropologe Michael Wesch und dadurch wurde der Film nicht nur ein Film sondern eine Expedition. Wesch blickte auf eine Population junger Menschen mit dem Blick des Forschungsreisenden, der einer fremden Kultur begegnet. Die fremde Kultur bei dieser Expedition sind keine fremden Stämme, sondern die »digitalen Eingeborenen« des Jahres 2007, Menschen, die keine Welt ohne Computer, Handy und Internet kennen. Im Durchschnitt sind die Studenten in Weschs Video 17 Jahre alt. Das bedeutete, sie waren vier Jahre alt, als das World Wide Web, wie wir es kennen, entstand, und sieben, als Google zum ersten Mal online ging. Der Zuschauer des Films wird in einen zunächst schwarz-weißen leeren Hörsaal geleitet, mit seinem heruntergekommenen Mobiliar, seiner Kreidetafel, seinen verwitterten Graffiti. Es könnte heute sein oder vor 40 Jahren. Dann wechselt die Farbe, und man sieht die Studenten von heute, die ihre Botschaften in die Kamera halten:

  • In meinem Seminar sind 115 Leute.
  • Ich beende 49 Prozent der Bücher, die ich lesen muss.
  • Ich kaufe für 100 Dollar Seminarbücher, die ich niemals aufschlage.
  • Ich werde dieses Jahr acht Bücher lesen, 2300 Webseiten und 1281 Facebook-Profile.
  • Ich bin 3 1/2 Stunden pro Tag online.
  • Ich verbringe 2 Stunden am Tag an meinem Handy.
  • Ich werde dieses Semester 42 Seiten Seminararbeiten schreiben und über 500 Seiten E-Mails.
  • Dieser Laptop kostet mehr, als manche Menschen im ganzen Jahr verdienen.
  • Ich facebooke durch die meisten meiner Vorlesungen.
  • Nach meinem Examen werde ich wahrscheinlich einen Job bekommen, den es heute noch gar nicht gibt.
  • Das bringt mir nichts (Student zeigt Multiple-Choice-Test).
  • Ich bin ein Multitasker (Ich bin dazu gezwungen).

Dann endet der Film mit einer letzten Botschaft: »Manche sagen, die Technologie rettet uns. Manche sagen, nur die Technologie rettet uns«.

Weschs Video war keine Kulturkritik eines frustrierten Lehrers mit ebenso frustrierten Studenten. Es war deshalb so wirkungsvoll, weil es den fast verzweifelten Konflikt zwischen zwei Formen von kommunikativer Arbeit zeigte. Seine Studenten leiden unter der verstaubten Art der Lehre. Sie leiden aber auch erkennbar unter den modernen Kommunikationsformeln, die von ihnen wie Zwangshandlungen Besitz zu ergreifen schienen.Wesch hatte zuvor mehrere Jahre als Anthropologe in Guinea die Auswirkungen der Alphabetisierung in einer schriftlosen Kultur untersucht und wendete nun den Blick, den er damals eingeübt hatte, auf die digitalen Eingeborenen des einundzwanzigsten Jahrhunderts an. Seine Erfolge zeigen, dass der Sinn für nichtalgorithmisches Denken, für Heuristiken, für Denkprozesse tatsächlich gelehrt werden kann. Aber um das zu erreichen, muss man zunächst einmal die Aufmerksamkeit erzeugen, die die notwendige Voraussetzung dafür wäre, dass sich Schüler und Studenten überhaupt auf das faszinierende Spiel mit Perspektivwechseln einlassen?

Die Antwort liegt im Jagdtrieb nach Informationen. Wesch benutzt die Computer zu dem, worin sie sehr gut sind: als Jagdgebiete für fette Informationsbeute. Der einzige Unterschied besteht darin, dass nun nicht mehr Google allein die Korrelationen herstellt, sondern die beteiligten Studenten ihr eigenes und das Jagdverhalten und die Beute ihrer Kommilitonen beobachten müssen.

Das ist ein »Smart Mob«, ein kognitives Computermensch-spiel, in dem Studenten erleben, dass der letzte Schritt der Kommunikation, die Urteilsfindung, im eigenen Kopf, also außerhalb des Computers stattfindet. Wie schafft man es beispielsweise, dass jeder einzelne Student vor Semesterbeginn 94 Aufsätze gefunden und gelesen hat? Wesch beauftragte jeden Studenten, 5 Artikel zu lesen und schriftlich zusammenzufassen. Die Zusammenfassung wurde auf einer gemeinsamen Website veröffentlicht, die sie sofort allen anderen Studenten zugänglich machte. Alle Resümees mussten 36 Stunden vor Semesterbeginn online sein. Das gab den Studenten die Möglichkeit, alle Zusammenfassungen und Kommentare ihrer Kommilitonen zu lesen. Alle sechzehn Studenten hatten in der ersten Seminarstunde 5 Artikel gelesen und die entscheidenden Gedanken von 94 weiteren Aufsätzen aufgenommen. »Uns hielt es praktisch nicht auf unseren Stühlen«, schreibt Wesch auf seinem Blog, »wir fanden Verbindungen und debattierten Querverweise, wie ich es niemals zuvor in einem Proseminar erlebt habe.«162

Freunde pädagogischer Disziplin werden die Stirn runzeln und verkünden, dass, wer nicht lesen will, auch nicht studieren soll. Aber mittlerweile sollte klar geworden sein, dass der kognitive Akt des Lesens und der menschlichen Informationsverarbeitung nicht mehr ausschließlich eine Frage des freien Willens ist. Beispiele wie diese zeigen, dass die Vorstellung des nach DIN-Normen erfassten und in Aktenordnern archivierten Subjekts ebenso unpraktisch ist, wie es Aktenordner selber geworden sind. Die Computer tun nichts anderes, als mit der menschlichen Faszination der Suche zu spielen, mal zu ihrem Vorteil, mal zu ihrem Verderben. Aber Glücksbotenstoffe wie Dopamin werden nicht nur durch googeln freigesetzt; jeder, der einen Gedanken oder eine Lösung gefunden hat, ein Kunstwerk geschaffen oder eine Erkenntnis verinnerlicht hat, kennt das »Heureka« kognitiver Beglückung. Die Testpersonen, die Snellens Augenkarte verkehrt herum lasen, waren blind für das, was sie nicht erwarteten. Doch als man ihnen den Prozess erklärte, der sich eben vor ihren Augen abgespielt hat, waren sie imstande, daraus sofort Konsequenzen für ihr weiteres Leben zu ziehen. Die Ärzte, denen intuitive Regeln für den Umgang mit Statistiken beigebracht wurden, entwickelten eine neue Kreativität und ein sehr viel freieres Verhältnis zur angeblichen unwiderstehlichen Autorität von Zahlen.

Solange die Konsequenzen der Informationsrevolution keine Konsequenzen in Schulen und Hochschulen haben, werden Wirtschaft und Politik nicht akzeptieren, dass die kognitiven Veränderungen der Menschen ein gesellschaftliches Faktum und keine Privatangelegenheit einzelner überforderter Menschen sind. Dabei geht es nicht darum, schon Kindergärten mit Computern auzustatten - im Gegenteil. Es ist absurd, schon Kleinkinder auf Systeme zu schulen, die, wenn sie groß geworden sind, so veraltet sein werden wie heute der Rechenschieber. Alles spricht dafür, dass die Bildung der Zukunft darin bestehen muss, Unsicherheiten zu entwickeln. Sie muss Subjektivitäten, nicht Subjekte unterrichten. Das ist das Gleiche, was Ellen Langers Patienten die Angst genommen und das Leben gerettet hat. Das ist kein einfacher Vorgang, denn er zerstört die Illusion von Kontrolle, die uns Computer und ihre Algorithmen verschaffen. Der Psychologe Thomas Szasz hat es eine Verwundung des eigenen Selbstwertgefühls genannt, weil man auch von lieb gewonnenen Perspektiven Abschied nehmen muss, die einen bisher definierten.163

Doch die Erfolge von Wesch, der Langers »Aufmerksamkeit« in die Pädagogik übersetzt, sind offensichtlich, und es liegt auf der Hand, was zu tun ist. Es ist gar nicht besonders schwer, wenn man sich vom Zertifizierungswahn und der grotesken Verschulung heutiger Hochschulausbildungen verabschiedet. Und jenseits aller psychologischen und didaktischen Gründe: In Deutschland wird ein Großteil der heutigen Studenten Berufe ausüben müssen, die es zum Zeitpunkt ihres Studiums noch gar nicht gibt. Die Informationsgesellschaften sind gezwungen, ein neues Verhältnis zwischen Wissensgedächtnis und Denken zu etablieren. Tun sie es nicht, sprengen sie buchstäblich das geistige Auffassungsvermögen ihrer Bewohner.

Das pure Wissensgedächtnis stammt aus Zeiten, in denen Information nicht nur rar war, sondern auch geschützt werden musste. Bibliotheken konnten verbrennen, und das Wissen, das ein Lehrer im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, verschwand mit seinem Tod. Heute ist das Wissen buchstäblich in der Luft, die uns umgibt und die wir atmen. Eine kleine UMTS-Karte, nicht größer als ein Daumennagel, reicht aus, es abzurufen. Wir wissen nicht, was wir wissen müssen, indem wir statische Lehrpläne aufstellen. Im Informationszeitalter ist das notwendige Wissen abhängig von dem Kontext, in dem wir uns bewegen. »Wissen on demand«, wie der Internet-Vordenker Danny Hillis es formuliert, mag für viele eine schauderhafte Vorstellung sein, aber das ändert nichts an ihrer Wirksamkeit und daran, dass so unsere Zukunft aussehen wird. Und es ist weitaus weniger schauderhaft als das, was in den letzten Jahren mit unserem Bildungssystem geschehen ist, das den finanzindustriellen Standards von weltweiten Abschlüssen und weltweit identischen Lerninhalten nacheiferte und so die deutsche Universität zu einer intellektuellen Controlling-Agentur machte.

Cornell, ohne Zweifel eine der angesehensten Universitäten der USA, hat beispielsweise das Programm »Gute Fragen« mit großem Erfolg eingeführt. Einige Stunden vor der Vorlesung stellen Studenten über eine interaktive Webseite ihrem Professor Fragen zum spezifischen Vorlesungsthema. Der Lehrer kann nun »just in time« seine Vorlesung an die Fragen der Studenten anpassen. Sie lernen nicht mehr, was sie wissen müssen, sondern was sie nicht verstanden haben. Die Erfolge des »tiefen Lernens«- ein Zwilling des »tiefen Lesens«, von dem Maryanne Wolf spricht - sind enorm. »Just in time«-Bildung ist in Wahrheit nichts anderes als die Wiederkehr des alten platonischen Symposiums mit den Mitteln moderner Technologie. Sie funktioniert selbst für die klassische Vorlesung, die sich am stärksten am alten Sender-Empfänger-Modell (einer spricht, alle hören zu) der Vergangenheit orientiert.

»Erziehung ist viel mehr als der Transfer von Informationen«, erklärt ein Harvard-Physiker, der das Programm übernommen hat, »die Information muss assimiliert werden. Die Studenten müssen die Information mit dem verbinden, was sie bereits wissen, geistige Modelle entwickeln, das neue Wissen in völlig unbekannten Situationen testen und anwenden lernen.«164

Wir befinden uns mit unseren Köpfen noch zwischen zwei Welten: die alte, in denen Wissen im Kopf gespeichert werden musste, und die neue, in der die Systeme die Speicherung übernehmen. Systeme, die uns Wissen und statistische Informa-tionen im Bruchteil eines Wimpernschlags zur Verfügung stellen können. Vor Kurzem habe ich einem Gast den Weg zu unserem Treffpunkt erklären wollen, als mir einfiel, dass er bei Google arbeitet und diese Information von mir am wenigsten benötigt. Bald wird sie auch gar keinen Sinn mehr machen, weil über die Vernetzungen sein Handy ihm nicht nur den Weg sagt, sondern auch, wann er am besten losfährt, um pünktlich anzukommen. Das ist ein einfaches Beispiel, aber man kann es hochrechnen: nie wieder Wegbeschreibungen geben, heißt mehr Zeit zu haben. Für die künftigen Patienten von Ellen Langer heißt es: Die Information ist da, zugänglich und verschwindet nicht. Also kann man die Zeit dazu nutzen, mit dem Patienten Perspektivwechsel einzuüben, ihm klarzumachen, dass das, was statistisch stimmt, für ihn nicht zutreffen muss. Auch die Probanden von Ellen Langer aus den internetfreien Zeiten erlebten längst ihre Version von Informationsüberflutung. Und in vielem hatten sie es schwerer als wir, damit umzugehen.

Heute haben wir noch immer das Gefühl, dass die Informationen vor uns davonlaufen, wenn wir nicht schnell genug sind, sie zu absorbieren. Aber sie laufen nicht davon, sie werden gespeichert. Selbst die SMS verschwindet nicht wieder und lässt uns hungrig zurück. Nur denken wir das, weil wir selbst mit E-Mails so umgehen, wie wir es in der Schule gelernt haben: Aufpassen, Information aufnehmen, auswendig lernen, verinnerlichen. Aber das führt automatisch dazu, dass jede Information den gleichen Rang bekommt und wir nicht mehr unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht.

Wir scheinen zu glauben, dass wir unsere Intelligenz, Bildung und Kreativität dadurch sichern, dass wir mit den Computern in einer Art spannungsgeladener Koexistenz leben. Aber es gibt keine Koexistenz. Wir müssen die Computer tun lassen, was sie tun können, damit wir frei werden in dem, was wir können, um sie mit neuen Befehlen zu versorgen. Digitale Informationen verschaffen uns die Möglichkeit, die Informationen zu überdenken, statt sie zu sammeln. Wir müssen den Weg nicht mehr beschreiben, also können wir über das Ziel nachdenken. Wir müssen nicht erst mühsam auf Nahrungssuche gehen, wir können uns gesund ernähren. Die heutige Babyboomer-Generation, die aufgewachsen ist zwischen der Schule der siebziger Jahre, der Kinderstunde und MTV, hat die größten Mühen, die Lern-Disziplinierungen der Vergangenheit zu verlernen. Sie stammt aus einer Welt, in der Bildung ebenso Massenproduktion war wie die Herstellung von Autos.

Doch wir wissen nicht mehr, was Lernen und Lehren bedeutet. Das zeigt sich dort, wo über unsere Zukunft entschieden wird: im Bereich des Lernens und der Bildung. Unsere Praxis ist hoffnungslos veraltet und gut gemeinte Versuche, eine Art digitale Alphabetisierung durchzuführen, benutzen die Werkzeuge, so wie die Buschmänner in »Die Götter müssen verrückt sein« die Cola-Flasche.Völlig desinteressiert daran, dass die digitale Welt im Begriff ist, unsere Hirnverdrahtungen zu verändern wie seit der Erfindung des Lesens nicht mehr, behandeln viele Schulen und Universitäten die Maschinen weiterhin so, als seien sie Fernseher, die nur senden, und verschlimmern damit die kognitive Krise. Denn nicht nur die Computer sind reine Sender, auch die Lehrer und Professoren sind es allzu oft. Sie senden vom Pult ihre Informationen an die Empfänger, die Schüler, Studenten, die Lehrenden, und die wiederum halten es für »Aufmerksamkeit«, wenn sie den Professor anschauen.Wenn es je eine Maschinisierung gab, dann ist es diese.

»Bücher werden bald nicht mehr nötig sein… Der Erfinder dieses Systems verdient es, als einer der wichtigsten Beförderer des Lernens und der Wissenschaften gefeiert zu werden, ja womöglich ist er der größte Wohltäter der Menschheit überhaupt.« Das schrieb Josiah F. Burnstead, allerdings bereits 1841 zur Einführung der Kreidetafel in amerikanischen Schulen. Die Kreidetafel war in der Tat eine geniale Erfindung und brach mit Traditionen des bloßen Diktats. Aber das ist über 160 Jahre her. Zum Vergleich: Kann man sich vorstellen, dass im Jahre 2170 an irgendeiner Hochschule noch mit Powerpoint-Präsentationen unterrichtet wird? Auch Snellens Augentafel hielt fast so lange durch wie die Kreidetafel. Man muss sie umdrehen, um das Unerwartete zu sehen.

Denn die Antwort lautet nicht, dass Powerpoint-Präsentationen und Computer der Ausweg sind - wir haben gesehen, wie sie gedankenloses Denken produzieren können -, sie sind noch nichts anderes als Folterinstrumente, solange unsere Vorstellung vom Lernen weiter so funktioniert, als stünde einer an der Tafel und verbreite Informationen. Die Informationen hat jeder. Aber was Menschen verzweifelt lernen müssen, ist, welche Information wichtig und welche unwichtig ist. Das ist womöglich die große Stunde der Philosophie. Denn egal wie viele Computeranimationen man benutzt - wenn man nicht begreift, dass wir heutzutage Wissen nicht mehr nur aufnehmen, sondern permanent selbst produzieren - so wie jede Google-Anfrage eine Antwort für Google ist, jede GPS-Abfrage eine Antwort für GPS -, dass jede Diskussion in einem Seminar oder Klassenzimmer potenziell über Youtube oder das Google-Scholar zum Wissen beiträgt (worauf dann zu entscheiden ist, wie sehr), ersticken wir in der Eindimensionalität des bloßen Lernens. Wir rasen »auf dem Datenhighway«, aber wir produzieren, was der große Medientheoretiker Marshall McLuhan den »Rückspiegel-Effekt« nannte: »Wir übersetzen alles Neue in die Formen der Vergangenheit.«165 So entstehen die verhängnisvollen Scripte, die uns wie Drehbücher in vorgegebene Rollen und Verhaltensmuster zwingen. Den Blick fest in den Rückspiegel gerichtet, übersehen wir fast vollständig die neuen Wege, die wir nehmen könnten.

»Informelles Lernen« war lange Zeit ein Geheimtipp idealistischer Pädagogen in der Erwachsenenbildung. Gemeint ist heute damit ein Lernen, das das pure Wissensgedächtnis entlasten will und stattdessen zu dem erziehen will, was auch die Patienten von Ellen Langer erlebt haben: Perspektivwechsel, nicht-algorithmische, also völlig unberechenbare Lösungsansätze. Wie überall in der Welt der neuen Technologien gibt es auch hier Extremisten und Evangelisten, die oft nichts anderes als ein Geschäftsmodell an den Kunden bringen wollen. Aber ob die Methoden nun auf das (sehr begrüßenswerte) »Ent-Konferenzen« von Arbeitsplätzen zielen oder auf die Befreiung von den Erinnerungen an das falsche Lernen in der eigenen Schulzeit, wie es der Managementberater Jay Cross versucht, es geht im besten Fall darum, Menschen das tun zu lassen, was sie am besten können - und das zu entrümpeln, was die Computer uns abnehmen.

Die Befreiung, die digitale Informationen für all die Aufgaben bedeuten, die Computer besser können als wir, ist in den meisten Schulen oder Universitäten noch nicht angekommen. Stattdessen hat ein darwinistischer Wettlauf zwischen Mensch und Maschine begonnen. Nur wenige haben erkannt, dass es wichtiger ist, Hypothesen, Faustregeln (Heuristiken) und Denkweisen zu lehren und zu lernen als statistisch abfragbare Fakten. Wir aber beharren auf den Lerninhalten des letzten Jahrhunderts und prüfen gleichzeitig aber die Qualität von Schülern und Studenten mit den statistischen Mitteln des 21. Jahrhunderts. Höheres Lernen in Deutschland, gekennzeichnet durch Fehlentwicklungen wie den »Bologna-Prozess«, gibt sich gern den Anschein des Bildungsbürgerlichen, ist aber in Wahrheit nichts anderes als die Zwangsverschickung des Geistes in die Vergangenheit. Wir gehen mit der Erfahrung mit dem Wissen von heute um und muten uns und der nachwachsenden Generation zu, das Telefonbuch zu lesen, auswendig zu lernen und gleichzeitig zu benutzen - und das in Zeiten, wo es selbst Telefonbücher gar nicht mehr gibt.

Umgekehrt kann der Computer nicht der letzte Richter über Informationen, menschliche Denkprozesse oder Leistungsnachweise sein. Je stärker die Computer in unsere Sprache und in unsere Kommunikation eingreifen, desto dringender wird eine Erziehung, die zeigt, dass die wertvollsten menschlichen Verhaltensweisen durch Nicht-Vorausberechenbarkeit gekennzeichnet sind.

Man darf nie vergessen, dass Algorithmen Garantien sind. Algorithmen erreichen irgendwann immer das Ziel, das sie anstreben. Das entspricht in gewisser Weise der kapitalistischen Lebensphilosophie des »wer was kann, setzt sich durch«, aber jeder weiß auch, dass sie im wirklichen Leben keine Lebensphilosophie sondern oft eine Lebenslüge ist. Und dass es im wirklichen Leben keine Garantie gibt. Je stärker Menschen ihre gesamte kommunikative Umwelt von Mathematik kontrollieren lassen, desto geringer werden die Abwehrkräfte gegen solche Ideologien. Aber Wissen, das zeigen die Arbeiten von Michael Wesch, erlangt man nur, wenn man sich selbst als nicht berechenbares Wesen wahrnimmt. Menschen, die die Welt und sich selbst nur noch als Bestandteile algorithmischer Prozesse sehen, wehren sich nicht mehr gegen Überwachung, sei es durch Kameras, sei es durch eine Software, die jede ihrer Lebensäußerungen bewertet und hochrechnet. Schulen müssen Computer als Instrumente integrieren, die Schüler nicht nur benutzen, sondern über die sie nachdenken müssen. Sie müssen erkennen lernen, dass die verführerische Sprache der Algorithmen nur Instrumente sind, dafür da, um Menschen Denken und Kreativität zu ermöglichen.

Denn das, worum es beim Erfassen von Ich, Welt und Weltall wirklich gehe, so hat es hat der große Physiker Roger Penrose in einer Antwort auf seine Kritiker geschrieben, »ist nicht durch Computer zu berechnen. Es ist etwas vollkommen anderes.«166 Der Computer kann keinen einzigen kreativen Akt berechnen, voraussagen oder erklären. Kein Algorithmus erklärt Mozart oder Picasso oder auch nur den Geistesblitz den irgendein Schüler irgendwo auf der Welt hat. Die Bildung der Zukunft lehrt Computer zu nutzen, um durch den Kontakt mit ihnen das zu lehren, was nur Menschen können.