DIE WISSENSCHAFT VON DER FATIGUE UND BURNOUT-ERSCHÖPFUNG

IMAGE e stärker der weiße Bär, desto schwächer werden wir, und noch ehe wir kapitulieren, tun wir, was wir nicht tun sollten: denn wir denken ja bereits dauernd an ihn. Jeder merkt das, wenn er die fünfte Kaffeemaschine gekauft hat, die er nicht braucht. Bei der Informationsaufnahme merken wir das nicht. Informationen stehen nicht irgendwo im Zimmer herum wie ein überflüssiges Gerät. Sie bevölkern den Kopf in Erinnerungsregionen, die unterhalb der vier Dinge liegen, die unser Kurzzeitgedächtnis speichern kann. In Ihrer Wohnung merken Sie immerhin noch, was nützlich ist und was nicht - zumindest merkt man, ob man es benutzt oder ob es verstaubt.

Doch die Ich-Erschöpfung durch ständige aufmerksamkeitsheischende Informationen führt dazu, dass wir nachweislich nicht mehr in der Lage sind, diese Informationen in einen logischen Zusammenhang zu überführen. Wir können sie nicht mehr in etwas anderes übersetzen als das, was sie sind. Wir wissen nicht, ob wir sie noch einmal gebrauchen können, selbst dann, wenn sie und ihre Absender längst das Haltbarkeitsdatum überschritten haben.

Stellen Sie sich einfach die Wohnung eines jener Messies vor, die Tine Wittler in ihrer Hardcore Renovierungsshow im Fernsehen präsentiert. Diese Leute wissen nicht mehr, was sie behalten und was sie wegwerfen sollen. Das ist in etwa so, wie es in unserem Kopf aussieht - inklusive der Tatsache, dass (fast jeder) weiß, wer Tine Wittler ist.

Trash-Formate im Fernsehen und im Internet erfreuen sich mittlerweile in allen Bildungsschichten wachsender Beliebtheit, und ehe man zu Recht auf ihr Verdummungspotenzial hinweist, ist es hilfreich, die Gründe für dieses Phänomen zu studieren. Wenn Menschen das Gefühl haben, sich kontrollieren zu müssen, beispielsweise sich dagegen zu wappnen, schon wieder eine Online-Seite aufzurufen, wenn sie den Ablenkungen widerstehen und im dauernden täglichen Kampf mit Multitasking-Zumutungen mal siegen und mal verlieren - nicht nur am Computer, sondern auch in der Familie, im Haushalt usw. -, wenn sie also im Großen und Ganzen durchhalten statt nachzugeben, erschöpft sich ihr Ich wie der Beinmuskel bei Kniebeugen.

Menschen schauen dann nicht nur, wie eine neuere Studie zeigt, abends Trash-Filme statt anspruchsvollerer Filme. Sie können sich offenbar auch nicht vorstellen, überhaupt jemals wieder zu etwas anderem als Trash fähig zu sein. Würde man sie am Montag bitten, einen Film für den Mittwoch auszusuchen, sind sie nicht imstande, ihre vorauseilende Erschöpfung zu relativieren.129 Der Mensch rechnet offenbar seine Ich-Erschöpfung hoch. Er macht immer weniger Pläne und reagiert immer häufiger auf unmittelbare Reize. Die offene Frage ist, wann davon nicht nur der Film für die nächste Woche, sondern die Lebenspläne selbst betroffen sind.

Die scheinbare Kostenlosigkeit der Informationen im Netz beeinflusst auch die Ökonomie unseres Denkens. Wir springen darauf schnell, als könne es uns jemand wegnehmen oder zuvorkommen. Ein Versuch, in denen Menschen schlechtere Hershey-Trüffel für 1 Cent und bessere Lindt-Trüffel für 24 Cent angeboten wurde, zeigt, wie nicht anders zu erwarten, dass etwas mehr Menschen sich für die billigere Schokolade entscheiden. Bietet man aber Lindt für 23 Cent und Hershey für 0 Cent, dann wechseln 90 Prozent der Lindt-Esser zu Hershey, obwohl sich die Preisdifferenz zwischen den beiden gar nicht verändert hat.130

Das erklärt, warum die Bremse nicht funktioniert, die im wirklichen Leben funktioniert: der finanzielle Aufwand.Wir spüren die Kosten, die unserer Aufmerksamkeit und unserem Gedächtnis entstehen, nur indirekt. Im wahren Konsumleben wissen wir, dass es wichtig ist,Verführungen zu widerstehen und nur das Notwendige zu kaufen, Geld zu sparen, statt alles nur darum auszugeben, weil man sich nach dem Kauf besser fühlt. In der Informations-Wirtschaft befinden wir uns, ewig hungrig wegen des regelmäßig abstürzenden Glukosespiegels, im Zustand des permanenten Mundraubs. Der Informationsaustausch funktioniert wie der menschliche Stoffwechsel: Jedes Byte ist ein Cookie, der, wie man weiß, sehr schnell nur noch hungriger macht.

Deshalb sollte man sich genauer überlegen, was man zahlt, wenn »alles gratis« ist. Für »all you can eat« muss der Körper blechen. Für »all you can read« der Geist. Wir haben nicht genug geistige Rücklagen für das, was wir kostenlos konsumie-ren.Wir konsumieren nicht nur, wir arbeiten auch kostenlos im Netz. Und nicht nur das: wir werden auch immer schlechter in dem, was wir tun, weil sich Multitasking eben nicht trainieren lässt. Ich-Erschöpfung macht uns nicht nur passiv, der IQ und ausgerechnet die höheren Fähigkeiten des menschlichen Geistes, zum Beispiel logisches Denken, werden in Mitleidenschaft gezogen, und das, was Sie jetzt gerade tun: Bücher lesen ist Mühsal.

Nach einem langen Einkaufstag können wir uns ins Café setzen und eine Limonade trinken.

Doch ob wir unsere Kraft zurückbekommen, rationale Entscheidungen zu treffen (und nicht nur impulsive), hängt, wie Roy Baumeister lakonisch schreibt, davon ab, ob wir eine Cola-light trinken oder eine mit Zucker.

Haben Informationen Kalorien? Klingen deshalb Ratschläge gegen Erschöpfung wie Diätvorschläge: abschalten, Pausen machen und vor allem keine Kohlenhydrate. »Sind Kartoffeln besser oder Brot?« Wenn es ein Preis-Kosten-Verhältnis in der freien Netzökonomie gibt, dann ist es dieses.Wir werden überhäuft mit kostenloser Nahrung und vergessen dabei, dass wir selbst eine ganz besondere Delikatesse unter diesen Gratishappen sind.

Aber es gibt einen Ausweg. Man kann den Muskel, also die Willenskraft, stärken. Allerdings taugen dafür weniger die Verfahren, die manchen Menschen im Stress des Alltags helfen, wie Lebensratgeber und Meditation. Die Veränderung durch Informationstechnologien ist grundsätzlich anders: Sie verändern unsere kognitive Fähigkeit, sie verdrahten unser Hirn neu, und die Reize, denen wir ausgesetzt sind, sind komplexer, subtiler und effizienter als alles, was wir im Alltag kennen. Deshalb müssen wir das stärken, was nur wir als unvollständige, fehlerhafte und schöpferische Wesen können. Das ist das Gegenteil des »mechanischen Türken« und aller ähnlichen Projekte, die die stupide Arbeitswelt Frederick Taylors ins 21. Jahrhundert übertragen.

Der Preis, den wir zurückfordern können, ist erstaunlich hoch, und er stärkt die Selbst-Regulation, die »Trumpfkarte der Persönlichkeit«131, die alles andere aussticht. Jogger werden heute längst nicht mehr belächelt wie in den sechziger Jahren, als die Trimm-Dich-Bewegung startete. Und was damals für das Leben in Fleisch und Blut galt, gilt nun auch für die Leben in Bytes und Bites.

Hat man einmal in seinem Kopf die Vorstellung vom »Muskel« für unsere kognitive Überforderung etabliert, wird klar, wie sehr unsere Anpassungsprobleme mit den großen Debatten über die Erschöpfung von Arbeitern im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert vergleichbar sind. Nur dass es diesmal weniger um den Bizeps als um das Hirn selbst geht.

Das Wort »Kalorien« kommt bei Darwin noch nicht vor. Es taucht erst auf, als Menschen wie Maschinen berechnet werden mussten. Um die Arbeitsleistung zu optimieren, verfiel man auf die Kalkulation von Kalorien. Es ging, in den Worten der damaligen Wissenschaftler, um den »menschlichen Motor« und die Frage, wie viel Energie er braucht, um sinnvolle Leistung zu erbringen. Daten von Gefangenen in französischen Gefängnissen wurden ebenso zugrunde gelegt wie die von Soldaten und Fabrikarbeitern. Auch hier ging es nur um Erschöpfung, allerdings nicht die Ich-Erschöpfung, sondern die des Körpers. Durch richtige Ernährung sollte der fatigue - das große Schlüsselwort des

19. Jahrhunderts für körperliche Erschöpfung - Einhalt geboten werden, der schlimmsten Geißel des menschlichen Motors.132 Man nannte das die »Wissenschaft von der Erschöpfung« und propagierte eine »Hygiene der Effizienz«.133

Das klingt, wenn man ein paar Worte vertauscht, wie eine aktuelle Studie zu den Folgen von Multitasking und Informa-tions-Überflutung. Damals sollte der Muskelaufbau nicht mehr dem eines Bauern oder Schmiedes ähneln, sondern etwas ganz Neues werden: Die moderne Industrie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts brauchte Menschen, die zu feineren und kleineren Bewegungen fähig waren. Hier bereiteten sich die großen Choreografien der kollektiven Arbeitswelt des letzten Jahrhunderts vor, in denen, wie bei einem Ballett, alle Kräfte ineinandergreifen mussten.

All das können wir getrost auf uns übertragen, und darum fühlt sich mancher, der heute von Maschinen und Gesellschaft wie selbstverständlich zum Multitasking gezwungen wird, an die Ausbeutungsökonomie der Vergangenheit erinnert. Der Muskel aber ist das Gehirn. Es war schwer genug, die Muskeln an die Räderwerke der modernen Fabriken anzupassen. Es ist viel schwerer, die Neuronen und Ganglien unseres Gehirns anzupassen. Aber alles ist wie damals: Die Informationen liefern die Kalorien, und ihr Wert für die geistige Leistung liegt in ihrer Verwertbarkeit. Vielleicht wird man eines Tages Diätpläne für den Informationskonsum aufstellen, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie ebenso widersprüchlich sein wie die »Fit for Fun«-Bibliotheken der Gegenwart.

Die kalorischen Verbrennungszahlen sind Maschinensprache. Sie kommen unserer Liebe für die totale Berechenbarkeit von Informationen entgegen. Ob jemand 110 Kalorien aus einer Portion Cornflakes verbrennt, wie es auf jeder Packung steht, ist, wie wir mittlerweile wissen, von Mensch zu Mensch höchst verschieden.134 Genauso wenig werden wir den Wert von Informationen berechnen können. Es gibt Menschen, die aus einem Computerspiel Nutzen ziehen können und gleichzeitig aus einem wissenschaftlichen Text auf Google-Scholar. Es ist an der Zeit, die trügerische Verankerung unserer Lebenssicherheit in Zahlen zu durchschauen. Jetzt geht es um das, was jeder tut, wenn er zu viel Kekse gegessen hat. Es geht um Krafttraining für den Muskel der Selbstkontrolle.