CHAOS IM KURZZEITGEDÄCHTNIS

IMAGE er moderne Arbeitsplatz ist heute zu einem Ort äußerlicher Reglosigkeit und innerlichen Leistungssports geworden: Der durchschnittliche Bürobewohner wechselt ständig zwischen 12 verschiedenen Projekten, die er verfolgt, gerade beginnt oder noch zu Ende bringen muss. Dabei hält er es ungefähr 20 Sekunden vor einem geöffneten Bildschirmfenster aus.

Als diese Zahlen vor ein paar Jahren bekannt wurden, haben Firmen wie Microsoft viel Geld ausgegeben, um ein Betriebssystem zu bauen, das noch intuitiver, ablenkungsfreier und unsichtbarer arbeitet. Denn die Kosten dieser Ablenkung für die Produktivität - 588 Milliarden Dollar und zweieinhalb Arbeitsstunden pro Tag - sind enorm.

Bekanntlich ist das Gegenteil Realität geworden, und die Störfeuer sind durch SMS und Twitter nur noch mehr geworden, weil es geradezu der Sinn dieser Technologien ist, gegeneinander in einen Wettstreit um Aufmerksamkeit zu treten.

Somit sind die meisten Menschen heute mehrmals täglich in der Situation, dass sie vergessen haben, was sie gerade tun oder sagen wollten. Unter normalen Bedingungen ist das kein Problem: Man konzentriert sich, sucht Anker (»Was hatte ich vorher gesagt?«), geht die letzten Minuten vor dem Blackout wie eine Kurzgeschichte durch (»Erst war ich in der Küche, dann habe ich den Schrank geöffnet, dann hat das Handy geklingelt«), wartet ab oder erklärt die Sache für nicht relevant (»wird schon nicht so wichtig gewesen sein«).

Doch wenn Blackouts systematisch werden und wir immer weniger unterscheiden können, was wichtig war und was nicht, verliert auch unsere Fähigkeit, uns die eigene Geschichte zu erzählen, um unserem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, immer mehr an Bedeutung.

Weil unsere Bewusstseins-Störungen - denn um solche handelt es sich eigentlich - zuerst am Arbeitsplatz auftauchten, glaubten wir lange, sie seien darauf beschränkt, oder anders gesagt: Sie seien eine Angelegenheit des Betriebssystems.

Da, wie Donald Norman es formulierte, Menschen von der Erde stammen, Computer aber von einem anderen Planeten, mussten Mensch und Computer überhaupt erst lernen, miteinander zu kommunizieren. Charlie Chaplin musste mit der modernen Fließbandtechnik fertig werden, wir mit der modernen Kommunikation.

Nur ist in diesem Falle offen, wer am Ende wessen Sprache lernt: Microsoft hat im Jahre 2006 eine Technologie patentiert, »mit deren Hilfe Puls, Blutdruck, Hautwiderstand und Mimik von Büroangestellten erfasst werden können. Laut Patentantrag soll das System Manager jedes Mal informieren, wenn ihre Mitarbeiter unter erhöhter Frustration oder Stress leiden.«53

Wir werden neue Betriebssysteme bekommen, verspricht die Industrie, die es für Menschen noch einfacher macht, Computer zu bedienen. Das stimmt.

Nur versäumen die Ingenieure hinzuzufügen, dass sie, wie George Dyson feststellt, es auch einfacher für Computer machen, den Menschen zu bedienen.54

Wie das konkret aussieht, haben weltweite Studien an Arbeitsplätzen gezeigt. Denn es ist dieser Moment, wenn die SMS vibriert und die E-Mail ertönt, an dem wir zum ersten Mal ganz genau sagen können, was es heißt, wenn wir bedient werden und die Kontrolle verlieren.

Es dauert dann durchschnittlich fünfundzwanzig Minuten, bis wir nach einer Unterbrechung wieder zu unserer ursprünglichen Tätigkeit zurückkehren, und zwar deshalb, weil wir einfach vergessen haben, was wir überhaupt getan haben, und das so entstandene Vakuum schnell mit noch zwei anderen Projekten füllen. »In vierzig Prozent der Fälle«, erfährt die »New York Times«, »wandern die Arbeitenden sogar in eine ganz andere Richtung, sie werden magisch angezogen von der technologischen Version eines schimmernden Gegenstands. Die wirkliche Gefahr von Unterbrechungen ist gar nicht die Unterbrechung. Es ist das Chaos, das sie mit unserem Kurzzeitgedächtnis veranstalten: ›Was zum Teufel habe ich gerade getan?‹« 55

Das Problem dieser ständigen Ablenkung ist mittlerweile so endemisch, dass mehrere große Computer- und Softwareunter-nehmen von Intel bis Xerox, einschließlich des US Marine Corps und der Stanford Universität die Operation »Information Overload« gestartet haben, eine Forschungsgruppe, die sich der Informationsüberlastung des Menschen widmen soll.

Natürlich steht ihr Auftrag letztlich in direktem Widerspruch zu den wirtschaftlichen Interessen der Hersteller, für die der Kampf um Aufmerksamkeit lebensnotwendig ist. Und gleichzeitig befördern sie wiederum eine ganz andere Branche: Bücher wie »Simplify your Life«, Sendungen über mal eben selbst gemachte Drei-Sterne-Menüs oder sonstige Verheißungen bezüglich Kompakt-Wissen: Mittlerweile hat sich unter dem Stichwort »Sein Leben geregelt kriegen« eine ganze Beratungs-Industrie und gleichzeitig eine Kultur des Kurzzeitgedächtnisses etabliert; starke Indizien für einen tief greifenden kulturellen Wandel.

Fast eine Kultfigur bei allen Getriebenen und Informationsbeladenen ist David Allen geworden, ein amerikanischer Zeit-Doktor, der keine hoffnungslosen Fälle kennt. »Sie haben mein Leben mit einem Turbo versehen«, schreibt ein dankbarer Kunde, »seit ich Ihr Seminar besucht habe, ist meine Produktivität entfesselt, und ich wache nicht mehr um 2 Uhr morgens auf, weil ich irgendetwas vergessen habe…« Ganz überzeugend sind solche Bekehrungserlebnisse allerdings nicht; der dankbare Kunde war in diesem Fall der Direktor von »Fannie Mae«, der zahlungsunfähig gewordenen amerikanischen Hypothekenbank.

Software mit Software schlagen empfiehlt dagegen Gina Trapani, die in ihrem Blog lifehacker.com die Dinge angeblich cool geregelt bekommt. Allerdings lesen sich ihre Ratschläge und Maßnahmen so, als müssten Junkies von ihrer Droge loskommen. Zum Beispiel empfiehlt sie den »Leech-Block« (»Blutsauger-Stopp«), ein Programm, das man sich in seinen Webbrowser lädt und das wie ein Tresor mit Zeitschloss verhindert, dass man zu besonders attraktiven Websites surft. Das Besondere am Leech-Block: Man kann ihn so einstellen, dass man an dem Zeitfenster nachträglich nichts mehr ändern kann.

Sehr wirkungsvoll sind diese Methoden nicht, jedenfalls nicht sehr lange. Das hat damit zu tun, dass es bei Weitem nicht nur um eine Organisation unseres Arbeitsplatzes geht, und auch nicht darum, dass wir gewissermaßen virtuelle Abwesenheitsmeldungen in unser Bewusstsein pflanzen, die uns für ein paar befreiende Momente isolieren. In Wahrheit geht es darum, dass die Maschinen uns bereits überwältigt haben.

Es geht nicht darum, das großartige Instrument loszuwerden, das uns die Technologie in Gestalt der Kommunikationsmittel geschenkt hat. Sondern eher darum, herauszufinden, was die Überwältigung für das Geschenk bedeuten würde, das uns die Natur gegeben hat: Geist und Gehirn, die bisher auf solche Herausforderungen durch Lernen reagiert haben.

Für viele Menschen heute ist es kein Problem, ein Blog zu installieren, ein Textverarbeitungsprogramm zu bedienen oder auf dem Handy zu twittern. Es fällt uns sehr leicht, weil es eben sehr leicht ist, den Anweisungen der Maschine zu folgen; sie scheinen auf perfekte Weise dem menschlichen Geist angepasst. Es fällt aber vielen von uns sehr schwer, uns daran zu erinnern, was wir vor zwanzig Minuten an diesem Computer getan haben.

Noch schwerer ist es, sich einzugestehen, dass man allein in der letzten Stunde Dinge nur deshalb gemacht hat, weil der Computer sie empfohlen hat.

Viele Daten sprechen dafür, dass dieses Phänomen längst nicht mehr auf den Arbeitsplatz beschränkt ist, sondern zu einem Lebensgefühl geworden ist. Wir werden später sehen, dass diese Erinnerungslücke, die in Wahrheit ein Kontrollverlust ist, den Programmierern längst bewusst ist. Mehr noch: dass sich bereits neue Seelen-Informatiker darauf gestürzt haben mit dem Ziel, uns glauben zu lassen, wir könnten uns an Dinge erinnern, die wir nie erlebt haben. Die Manipulation von Vergangenheit entspricht dem immer größer werdenden Zwang zu absoluter Gleichzeitigkeit. Dahinter versteckt sich unter dem animierenden Titel »Multitasking« eine ernste Deformation, gewissermaßen die Staublunge des digitalen Zeitalters.