WO FÄNGT DER COMPUTER AN, WO HÖRT DAS HIRN AUF?

IMAGE ie fast unbeantwortbare Frage, vor der nun die Menschen hinter Google, Xerox oder Microsoft stehen, lautet: Wie kann man die gefährdete Aufmerksamkeit lenken, ohne Aufmerksamkeit zu manipulieren?

Da es der Mensch nicht mehr kann und womöglich angesichts der Informationsfülle nie mehr können wird, müssen es ja die Maschinen übernehmen.

Doch wie gehen wir, wie gehen die Kinder des digitalen Zeitalters damit um, wenn die Fantasie aus dem wilden Urwald der Bücher in eine berechenbare und berechnete Disney-Savanne verpflanzt wird? Diese Frage ist umso berechtigter, als in den Kreisen der Entwickler eine Veröffentlichung aus der seriösen Wissenschaftszeitschrift »Science« aus dem Jahre 2008 für fortdauernde Erregung sorgt.

Die Arbeit mit dem Titel »Vorhersage der menschlichen Hirnaktivität in Verbindung mit Hauptwörtern« gilt selbst bei Skeptikern als vielversprechender neuer Forschungsansatz. Unter Verwendung von 3 Milliarden Worten aus den Google-Datenbanken (und finanziert von Yahoo) konnten die Forscher vorhersagen, auf welches Hauptwort eine Person blickte, indem sie die Hirn-Aktivität der betreffenden Personen maßen.

Computer können also bereits, wenn auch im Augenblick nur für einfache Dinge wie Hauptworte, menschliche Bedeutungs-Assoziationen sichtbar machen, ja unser Hirn »lesen«, und wir können vorhersagen, welche Teile des Hirns bei welchem Wort, bei welcher Bedeutung eines Wortes aktiviert werden. Mit anderen Worten: Bald wird nicht mehr auseinanderzuhalten sein: Wo hört der Computer auf - und wo fängt das Hirn an.

Führt diese Ununterscheidbarkeit nun zum berechneten Menschen, zur Roboterisierung unseres Denkens und Fühlens, oder werden die Maschinen durch Mathematik anschmiegsamer und emotionaler? Nicht nur bei Pirollis Forschungen, fast überall stoßen wir darauf, dass der Computer, den wir vor uns haben, ganz gleich ob er mit dem Internet verbunden ist oder nicht, dass unser Handy, der Blackberry, sogar das Navigationssystem im Auto sich konkreter, in Mathematik verwandelter psychologischer Erkenntnisse bedienen.

Der Computer soll sich mit uns gewissermaßen wie mit einer fremden Spezies unterhalten. Aha, soll das Rechnerhirn denken, so tickt der Mensch, er mag schimmernde Dinge, weil sie ihn irgendwo in den Tiefen seiner urzeitlichen Seele ans Wasser erinnern. Also geben wir ihm ein paar schimmernde Dinge.

Was spricht dagegen, kann man sich fragen, wenn die Computer von uns lernen? Wenn sie also gleichsam unsere Seele, unsere Art des Denkens lernen, um besser mit uns reden zu können?

Allein - nicht die Algorithmen, Kalkulationen und Agenten sind ein Drehbuch für die menschliche Seele, sondern es ist genau umgekehrt: Die Seele ist der wirkliche Autor unserer Computer-Programme.

Bei George Miller, dessen psychologische Forschungen am meisten zur modernen Informationstheorie beigetragen haben und auch Voraussetzungen für eine Reihe von Suchmaschinen-Anwendungen sind, klingt das dann so: »Die gesamte psychologische Literatur sieht aus wie ein Katalog für Kleinteile einer Maschine, die bisher noch nicht gebaut wurde.«111

Die Frage klingt ungeheuerlich, aber es macht Sinn, sie hier zu stellen:

Fanden wir erst heraus, wie unsere geistigen und seelischen Prozesse ablaufen und übertrugen dann die Erkenntnisse auf den Computer, oder haben wir auf den Computer gewartet, um uns selbst zu verstehen?

Oder zugespitzt: »Wer war zuerst da - Seele oder Computer?«

Fest steht: Unsere Werkzeuge verändern unsere Umwelt, vor allem aber verändern sie uns selbst.

Die meisten Menschen denken, dass man eine Idee haben muss, um ein Werkzeug zu konstruieren. Aber sehr viel häufiger hat man ein Werkzeug in der Hand und überlegt sich dann erst, ob man damit nicht auch an unserer Vorstellung von der Welt herumbasteln kann.

Wahrscheinlich hat der Urmensch erst den Faustkeil entdeckt und sich dann überlegt, was er mit ihm anstellen kann. Eine Pumpe ist eine Pumpe und das Herz der Sitz der Seele. Aber im neunzehnten Jahrhundert wird das Herz eine Pumpe, und aus dem Bild entsteht nach und nach die Vorstellung des menschlichen Körpers, der aus Ersatzteilen besteht.

Nicht nur Theorien führen zu Werkzeugen, sondern auch, wie Gerd Gigerenzer und David Goldstein gezeigt haben, Werkzeuge schaffen durch ihr pures Vorhandensein und ihren Gebrauch die neuen Theorien, die Menschen über sich und ihre Gesellschaft zusammenschrauben - einfach weil in ihnen alles zum Ausdruck kommt, worin die Gesellschaft sich spiegelt.

Die frühe Neuzeit hat nach der Erfindung der Uhr den ganzen Kosmos als Uhrwerk und Gott als Uhrmacher gesehen.112 Der Darwinismus hat die Welt in den Kategorien der industriellen Gesellschaft erklärt und aus den Fabrikhallen des Viktorianismus, wo Maschinen Teil für Teil zusammengesetzt wurden, ein mechanistisches Bild des organischen Lebens gezogen.

Gott wurde also zum Ingenieur.

»Beinahe ein jeder Teil eines jeden organischen Wesens«, schrieb Darwin über die Organismen, »ist den komplexen Erfordernissen seines Lebens so wunderbar angepasst, dass es nicht minder unwahrscheinlich scheint, dass irgendeines dieser Teile mit einem Schlag so vollkommen geschaffen worden sei, wie es unwahrscheinlich ist, dass ein Mensch eine komplexe Maschine in vollkommenem Zustand erfindet.«113

Das war, wenn man so will, der rhetorische Trick, mit dem noch einige Jahrzehnte Gottvertrauen in der modernen Gesellschaft möglich war. Auch die Maschinen sind natürlich, sie sind nur ein weiteres Beispiel für Gottes großartiges Design.

Obgleich der menschliche Körper und auch das Hirn also schon lange als Maschinen verstanden wurden, kam jahrhundertelang niemand auf die Idee, das Bild auf das Denken zu übertragen. Als der Vergleich zum ersten Mal auftaucht, ist die Reaktion weithin ein »shock-horror«. Tatsächlich gibt es bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts niemanden, der ernsthaft auf die Idee gekommen wäre, geistige Prozesse mit der Funktionsweise einer Maschine zu vergleichen. Noch 1960 nannte der amerikanische Neurophysiologe Warren McCulloch, der als Erster auf die Idee eines Vergleichs von Geist und Computer kam, seine Theorie »eine Ketzerei«.114 Das brauchte niemanden allzu sehr zu interessieren, solange die Theorie nur in wissenschaftlicher Quarantäne der Grundlagenforschung und in den Laboratorien existierte - ähnlich wie die Ergebnisse der Hirnforschung heute. Doch mit dem Siegeszug des PC begann der Siegeszug der Theorie.

»Menschen sind Tiere« war im späten neunzehnten Jahrhundert die Ableitung aus dem Darwinismus, und sie führte dazu, dass wir über unser Hirn und unsere Instinkte über die Erforschung von Tieren verstehen wollten.

»Menschen sind Maschinen«, war dann die Parole in der Ära unserer Großeltern. Und wie der Körper, so wurde auch das Gehirn mit jeder neuen technischen Erfindung mit einem anderen Design versehen und ebenso schnell wieder ausgemustert: Es wurde mit der Dampfmaschine verglichen, mit dem Telegrafen und dem Telefon und in den zwanziger Jahren sogar mit der Jukebox, weil, wie man glaubte, ein Signal im Hirn ausreichte, um eine ganze Platte an Verhaltensregeln ablaufen zu lassen.115

Am hartnäckigsten hielt sich der - aus heutiger Sicht höchst harmlose - Vergleich mit einer Telefonvermittlungszentrale, der erst in den fünfziger Jahren zögernd aufgegeben wurde.

Seit den siebziger Jahren wird Gott offenbar immer mehr zum Großen Programmierer, und der Computer wird das Werkzeug, an dem wir ablesen, wie wir funktionieren. Und vielleicht ist er sogar, wie manche meinen, das endgültige Bild für den menschlichen Verstand:

»Der Computer ist die letzte Metapher«, schrieb der amerikanische Psychologe Philip Johnson-Laird, »sie wird niemals wieder verdrängt werden.«116

Der Vergleich unseres Hirns mit dem Computer ist so effektiv, einleuchtend und logisch, dass wir ihn zum Gleichnis unseres Geistes und unserer sozialen Realität gemacht haben: Der menschliche Geist ist ein Computerprogramm. Das ist, auch wenn manche es nicht so unumwunden zugeben, die entscheidende Grundannahme, auf die sich große Teile der heutigen Wissenschaft geeinigt haben.

Wir mögen das nicht akzeptieren. Aber wir werden längst so gelesen, wie Mikrochips die Maschinensprache lesen.

Dass unsere ganze Welt - vom Sportschuh bis zum von der NASA entwickelten »interplanetarischen Internet« - eines Tages mit dem Netz und den Rechnern verbunden sein wird, ist längst keine Vision mehr, sondern greifbare Wirklichkeit.

Aber wir sollten erkennen, wie allumfassend das geistige Konstrukt ist, das hier entsteht.