MODEN, TRENDS, BLASEN UND HYPES
ollte sie ein
Pulverfass anzünden oder nicht? Diese Frage konnte ihr Google nicht
beantworten. Es war die Frage, die sich die Schriftstellerin Karen
Herlihy in einem autobiografischen Bericht stellte, als sie eines
Tages in Facebook auf den Account ihrer leiblichen Mutter
stieß.154 Karen hatte es
bereits im wirklichen Leben versucht, hatte bereits auf anderen
Wegen die Adresse ihrer Mutter herausgefunden. Aber ein
verabredetes Treffen am Flughafen fand nicht statt. Die Mutter
erschien einfach nicht. Sie hatte Karen vor Jahrzehnten zur
Adoption freigegeben, und obwohl Karen sie verzweifelt darum
gebeten hatte, war sie nicht bereit gewesen, mit der mittlerweile
erwachsen gewordenen Tochter auch nur zu reden: Keiner in ihrem
neuen glücklichen Leben, so die Argumentation, wisse von der
Tochter, und das solle auch so bleiben.
Es gab also keine Verbindung, bis der Computer eines Tages den Kontakt herstellte. Und zwar, so wie Computer das zu tun pflegen, durch einen Knopfdruck. Karen entdeckte ihre Mutter beim googeln bei Facebook. Auf dem Bildschirm leuchtete der Schalter »Als FreundIn hinzufügen«. Sollte Karen den Account hacken, ihr Foto reinstellen und darunter schreiben »Hallo! Mich gibts auch noch!«? Die anderen Kinder ihrer Mutter anmailen, die Freunde antwittern, die Karen sich durch die Freundschaftsliste ihrer Mutter binnen Sekunden zusammengegoogelt hatte? Sie wurde geradezu überflutet mit Informationen aus der verschlossenen Welt ihrer Mutter und wusste zugleich, dass sie mit einer einzigen Information diese ganze Welt in die Luft sprengen konnte. Ob sie das tun sollte oder nicht, darauf gab der Computer keine Antwort. Es war ein Fehler, die Mutter zu googeln. »Deine Mutter ist ein Computer. Sie ändert ihr Konzept nicht«, sagte ihr Freund, und dieser Vergleich überzeugte sie.Trotz ihrer Wut verzichtete sie darauf, das Leben der Mutter zu hacken. Sie gibt auf, verstört davon, dass sie nicht wegrennen konnte und für alle Zeiten im Netz in unaufhebbarer Nähe zu ihrer Mutter existieren würde.
Interessant ist, wie Karen Herlihy diese Resignation im Zeitalter der Informationstechnologien formuliert: » Ich werde nichts mehr suchen, was nicht durch eine Internet-Suche gefunden werden kann.«
Was bedeutet das? Wir suchen nur noch das, worauf wir Antworten bekommen können. Es ist, als befände man sich ausgestattet mit modernster Technik in einem mittelalterlichen Kosmos, in dem Menschen glauben wollten, dass nicht alles eine Antwort hat. Auch die Bibel war einst eine große Suchmaschine, die eine Antwort auf alles wusste. Und wusste sie die Antwort nicht, war es besser, nicht danach zu suchen.
Aber nicht die Antworten unterscheiden uns von den Maschinen, sondern die Fragen. In der digitalen Gesellschaft, prophezeit sehr zu Recht der digitale Vordenker Kevin Kelly, werden die richtigen Fragen wertvoller sein als die Antworten.155
Worum es hier geht, ist die Verwaltung von Schicksal in der Ära der Datenbanken. Es wäre sogar möglich, die Wirkungen zu simulieren, die die Intervention von Karen gehabt hätte - vorausgesetzt, man hat genügend Daten von Mutter, Tochter und ihren Freunden. Aber das hieße immer noch nicht, dass man versteht, was sich abspielt. Es ist wie bei den Krankheits-Statistiken.
Kein Mensch, auch kein Physiker, kann sich »bedingte Wahrscheinlichkeiten zweiten Grades« wirklich vorstellen. Sie sind, unmathematisch gesprochen, sehr nahe an dem dran, was wir Schicksal nennen. Begreift man das, kehrt jene Unsicherheit in unser Leben zurück, die uns wieder zu produktiven, handelnden Menschen macht, die ihr Schicksal nicht in die Hände des großen Rechners geben. Dazu ist es nötig, dass man erst einmal begreift, dass wir Fehler machen, über die uns ein Computerprogramm nicht aufklären kann. Können wir Fehler noch erkennen? Oder anders ausgedrückt: Können wir noch die andere Perspektive einnehmen, obwohl wir das Verständnis für die Fehler verloren haben?
»Perspektivwechsel« - menschenorientierte Heuristiken - sind mehr als nur eine nette Anregung, die Dinge auch mal anders zu sehen. Wenn die Menschen sich erst einmal daran gewöhnt haben, ihr Leben aus der verarbeiteten Datenmenge zu beurteilen und nicht mehr aus anderen Wahrscheinlichkeiten - wo wird die Vorstellungskraft herkommen, das Leben nach anderen Regeln zu beurteilen als denen, die die Rechner uns präsentieren? Das betrifft nicht nur die Menschenoptimierungssoftware, die, wie wir gesehen haben, bereits heute Kreativität, Intelligenz und künftigen Lebenslauf errechnet. Es beginnt bereits bei Facebook und Myspace, die einst als Spiel anfingen und nun in den Augen vieler mehr über einen Menschen aussagen, als der Mensch selbst - so sehr, dass sie einen ganzen Karriereweg ruinieren können. Es betrifft Schüler und Studenten, deren Leistungen computergestützt bewertet werden oder deren Lerninhalte computerverträglich sein müssen. Es betrifft die Babys, deren ganzes Leben in einer für uns heute noch nicht durchschaubaren Weise im Netzwerk beginnt und im Netzwerk endet, es betrifft Meinungsbildungsprozesse, Moden, Trends.
Auch Journalisten müssen im Netz längst nach algorithmischen Regeln schreiben, die das Denken dem Computer unterwerfen. Texte müssen nach Pyramidenstrukturen verfasst werden, in denen das Neue nach oben gehört, der Hintergrund nach unten; Schlüsselbegriffe werden vorgeschrieben und Wortlisten angelegt, und dies alles nur, damit Google die Texte findet. Je besser die Google-Codes werden, desto präziser die Werbung, die sie mit den Gedanken verbinden können - ein einziger Metatext, der etwas völlig anderes geworden ist als das, was wir bisher kennen.
»Wir scannen die Bücher, damit der Computer sie liest, nicht damit Menschen sie lesen.« Der Satz betrifft mittlerweile auch das Schreiben. Und es ist offensichtlich, dass dies bei Schreibenden wie bei Lesenden ein Denken produziert, das die Verflechtung von Informationen und Gedanken auflöst und Information in den Dienst der Verwertbarkeit stellt. Die nächste Stufe ist die dadurch immer geringer werdende Aufmerksamkeitsspanne von Leser und Schreiber. Es ist ein Teufelskreis, in dem das immer unwirtschaftlicher wird, was mehr Aufmerksamkeit erfordert. Am Ende können wir es uns buchstäblich nicht mehr leisten, ein Buch zu lesen.Wer ist hier der Handelnde? Wir oder der Computer?
Wir sind uns unserer inneren Freiheit zu sicher, weil wir immer noch glauben, die große Überwältigung käme von außen und nicht, wie sie es in der Huxley-Version tun wird, von innen. Der Computer auf unserem Schreibtisch ist kein Einstein und das Handy ist kein Newton. Die Intelligenz der Computer bezwingt uns nicht, weil sie so groß ist, sondern weil sie so verbreitet ist. Die alten Kulturen wurden von der Intelligenz der Natur umgeben, die ihnen Bilder und Maßstäbe lieferte. Unsere Urgroßeltern wurden von der simplen Intelligenz der Motoren und Maschinen geprägt, die zu einem Selbstverständnis vom Menschen als Verbrennungs- und Leistungsmaschine führte.
Wir werden von der Intelligenz der Rechner geprägt, der wir auf Schritt und Tritt begegnen. »Sie wird nicht sofort als Intelligenz erkannt werden«, schreibt Kevin Kelly, dessen bereits 1991 erschienenes Buch »Out of Control« die Debatte über die Zukunft der digitalen Welten wie kein anderes geprägt hat und zur Grundlage des Kinofilms »Matrix« wurde, »ihre Allgegenwart wird sie verbergen… Sie werden dieser verteilten Intelligenz überall begegnen, durch jeden digitalen Bildschirm, überall auf der Welt. Es wird schwer zu sagen sein, was es ist. Es ist eine Kombination von menschlicher Intelligenz (alles, was Menschen in der Vergangenheit gelernt haben, alle Menschen, die in diesem Augenblick online sind) und eines fremden digitalen Gedächtnisses. Ist es ein Gedächtnis oder eine einvernehmliche Vereinbarung? Durchsuchen wir sie, oder werden wir von dieser Intelligenz durchsucht?«156
Wie hat man sich das in einem konkreten Fall vorzustellen? Man muss sich klarmachen, dass Karen Herlihys Schicksal und ihre Gedanken nicht in einem Buch, sondern im Internet stehen. Dort sind sie jetzt bereits, da die »New York Times« dies durch ihre Schnittstellen gestattet, in Blogs eingebaut oder durch Twitter-Links vernetzt. Suchmaschinen greifen nicht nur auf den Text zu, sondern auch auf die, die nach ihm suchen. Sie haben jetzt bereits einen Zusammenhang zwischen »information overload« (mein Suchbegriff) und diesem Text hergestellt, einer von Tausenden, virales Marketing hat Karens Reflexion bereits infiziert und mir ein Buch über Liebe angeboten. Der Schlüsselbegriff »Facebook« ist so stark, dass er Myriaden neue Vernetzungen ermöglicht, der Absender (die »New York Times«) eine von den Agenten sehr hoch gewertete Informationsmaschine, die die Vernetzung weiter beschleunigt, Wendungen wie »Was soll ich tun?« werden in Risiko-Management-Algorithmen überführt und gleichzeitig darauf abgetastet, welche Antwort der Computer in seinen unermesslichen Datenbanken findet. Der Reflexionsprozess von Karen, einer von Milliarden, ist jetzt zu einem winzigen Teil der Reflexionsprozesse der Maschinen geworden, die ihn zerstückeln, umbauen und zu neuen Antworten modellieren. Die nächste Generation intelligenter Agenten wird - ohne »nachzudenken«, nur durch die unermessliche Verknüpfung - in der Lage sein, daraus personalisierte Entscheidungssysteme zusammenzubauen: »Übersetzungen« fremder Lebensschicksale in unser Schicksal. Programme wie »Google Wave«, die E-Mails, Blogs und Echtzeit-Funktionen ganz neu verbinden werden, geben dieser Transformation weiteren Auftrieb.
Wem die Fantasie fehlt, sich das vorzustellen, sollte sich die immer besser funktionierenden Übersetzungs-Programme von Google ansehen. Google bringt den Computern nicht Grammatik bei, Google-Software versteht kein einziges Wort von dem, was sie übersetzt, sondern die Menschen füttern die Maschinen mit riesigen Massen von Material, das von Menschen übersetzt wurde - für die Übersetzung Englisch-Französisch beispielsweise alle verfügbaren Dokumente, die in Kanada zweisprachig erstellt wurden, für Deutsch den Datenbestand von EU-Übersetzungen. Auf die gleiche Weise werden wir imstande sein, Grammatiken des individuellen Lebens zu rekonstruieren und abrufbar zu machen und damit Veränderungen in der »wirklichen« Welt auslösen können, die wir so bisher allenfalls in den Hypes und Manien des Aktienmarkts gekannt haben.
Und genau an diesem Punkt erweist sich, warum das Erschlaffen des Aufmerksamkeits-Muskels, jener Fähigkeit zum »Perspektivwechsel«, von dem Ellen Langer sprach, nicht nur eine Begleiterscheinung moderner Kommunikation ist, sondern ihr Wesen, und warum Perspektivwechsel der Ausweg ist.
Es ist der Punkt, an dem die neue Informationswelt unsere Vorstellung von Schicksal verändern wird. Es ist der Moment, wo wir nicht nur unsere Kaufentscheidungen, sondern unsere Lebensentscheidungen von dem abhängig machen, was in den Computern an Wissen gespeichert und an Erfahrungen kommuniziert wird.
Das hat damit zu tun, dass viele wichtige Entscheidungen im Leben im Grunde sehr einfach, in der Computersprache »binär«, sind.Tun oder Nicht-Tun, ein Auto kaufen oder nicht, Schokoladenkekse essen oder nicht, eine Diät machen oder nicht, ein Pulverfass anzünden oder nicht. Diese Fragen kann man sich am Ende nur selbst beantworten, und diese Selbst-Beantwortung ist die Form von Aufmerksamkeit, deren Bedeutung Ellen Langers Experimente gezeigt haben. Aber wir beantworten sie nicht selbst. Wir merken noch nicht einmal, dass wir gerade wichtige Fragen von anderen beantworten lassen.
Die meisten Leute wundern sich, wenn Moden, Trends, Blasen oder Hypes plötzlich aus dem Nichts entstehen und ebenso plötzlich wieder verschwinden. Aber wir wissen mittlerweile genau, wie sie entstehen. Es sind »Informations-Kaskaden«, die einem sehr einfachen Prinzip folgen. Jeder kennt das, dass er sich plötzlich einer Mehrheitsmeinung anschließt, obwohl er nicht überzeugt ist. Oder einen Kult-Drink trinkt, nur weil ihn alle trinken. Der Jurist Cass R. Sunstein hat das an einem eingängigen Beispiel illustriert.157 Nehmen wir an, Sie sitzen in einer Gruppe zusammen, in der eine Entscheidung getroffen werden soll, ob man sich ein Elektroauto oder einen Benziner kaufen soll. Keiner im Raum hat bei so einer Frage die wirklich entscheidende, absolut eindeutige Information, die die Antwort selbstverständlich macht - sonst säße man ja nicht beieinander. Es geht der Reihe um, jeder spricht nacheinander. Jeder hat eine Meinung, was er für richtig hält, aber jeder hört natürlich auch auf das Urteil der anderen.
Als Erstes meldet sich Maria, die sich sicher ist, dass man ein Elektroauto kaufen sollte. Jetzt kommt Peter. Entweder will Peter auch in ein Elektroauto investieren, dann ist die Sache klar. Es könnte aber auch sein, dass Peter zum Benziner tendiert. Wenn er Marias Urteil so traut wie seinem eigenen, ist die Sache unentscheidbar - er könnte genauso gut würfeln. In unserem Fall entscheidet sich Peter auch für das Elektroauto. Als Dritter meldet sich Hans. Hans ist überzeugt, dass Elektroautos nichts taugen. Er glaubt an Benziner, hat aber auch keine endgültige schlagende Information. Was nun folgt, ist eine Informationskaskade: Hans könnte sich nämlich trotzdem für das Elektroauto entscheiden, auch wenn er die Entscheidung für einen Fehler hält. Person 1, so lautet unsere unbewusste Überlegung, muss etwas gewusst haben, um sich mit 51-prozentiger Sicherheit für das Elektroauto entschieden zu haben. Person 2 hat entweder Informationen gehabt, die auch für das Elektroauto sprechen, oder sie hatte Informationen, die für den Benziner sprechen. Die waren aber augenscheinlich nicht überzeugend genug. Alles spricht also dafür, das Elektroauto zu wählen, wer weiß, vielleicht wissen die anderen ja mehr als wir. Sitzen an diesem Tisch noch drei weitere Personen, alle mit unvollständigem Wissen ausgestattet (und wer könnte bei solchen Dingen schon wirklich wissen, welcher Weg zum Ziel führt), ist es mehr als möglich, dass sie sich dem Urteil von Maria anschließen, auch wenn sie das Urteil für einen Fehler halten.
Solche Kaskaden erklären viele Moden und Massenphänomene, wo Menschen, die unsichere Informationen haben, sich anderen anschließen, ohne dass das, siehe Aktienblasen, irgendwas über den Wert der Information aussagt. Im Gegenteil: Maria könnte alle, die sich ihr anschließen, ins Unglück führen, etwa so, wie die Börsengurus des Jahres 2008 es mit vielen Menschen getan haben.
Diese Kaskaden sind das Wesen des Internets, denn sie werden durch die Algorithmen, die die Entscheidungen in Links oder Suchbegriffe, in Traffic oder Feedbacks übersetzen, noch gesteigert. Wie dramatisch synthetische Informationskaskaden funktionieren können, zeigt im Augenblick Twitter, der populärste Vorbote digitaler Kommunikation. Twitter, dem in Kürze weitaus mächtigere Systeme im Echtzeit-Internet folgen werden, ist nichts anderes als ein Gerät, um mit minimalen Mitteln Informations-Kaskaden zu erzeugen. 140 Zeichen Text können durch eine Art soziale Infektion potenziell globale Lemming-Effekte auslösen.
Wenn Ashton Kutcher, der mehr Followers hat als fast alle deutschen Tweeds zusammen, den Satz schreibt »Schaue aus dem Fenster«, könnte diese Information schon ausreichen, eine Kaskade auszulösen. Das Problem liegt auf der Hand: das kann einerseits zu aufklärerischen Effekten führen, wie die rein aus dem Internet geborenen Aktionen gegen die Netzsperren.
Das Netzsperrengesetz ist ein Paradebeispiel unvollständiger Information von Seiten einer Regierung. An ihm stimmten weder die behauptete Marktplatzfunktion des Netzes, noch die Angaben über ökonomische Struktur des Marktes, noch die Behauptungen über die technische Wirksamkeit.
Aber viele Informationskaskaden produzieren Konformismus, vorhersehbare Entscheidungssituationen und Herdeneffekte, die das Gegenteil von individueller Aufmerksamkeit sind. Auch das ist einer der Automatismen, der zwar in unserem Leben tief verankert ist, den aber die neuen Technologien massiv verstärken. Es ist schwer, dagegen Widerstandskraft aufzubringen, wenn die Aufmerksamkeit bereits aufgefressen worden ist. Gleichzeitig kann es in jede Richtung ausschlagen. »Flaming«, Cyber-Mobbing und permanente Gruppenaggressionen sind laut David Goleman so alt wie das Arpanet, der Vorgänger des Internets.158
Was aber wird geschehen, wenn die handelnde Politik den Raum des Netzes als neue Bühne erobert? Im Augenblick sind es in Deutschland gerade die traditionellsten Debattenforen - einfache Blogs, die auf die Kraft von Argument und Quelle bauen -, die neue Öffentlichkeiten schaffen. Darunter sind staunenswerte Erfolge. Wie zum Beispiel die »Nachdenkseiten« des einundsiebzigjährigen Albrecht Müller, die er zusammen mit Wolfgang Lieb betreibt. Allerdings ist die Frage, ob solche im besten Sinne alteuropäischen Diskurse im Augenblick nur deshalb so wirkungsvoll sind, weil die Politik die Einfluss- und Manipulationsmöglichkeit digitaler Kommunikation noch nicht verstanden hat. Künftig würden nicht mehr die Medien die Wirklichkeit mal besser, mal schlechter abbilden, sondern informelle Trends, deren Glaubwürdigkeit niemand nachprüfen könnte. Es wäre für die Politik ein Leichtes, mithilfe von Informationskaskaden ein völlig verändertes Bild der Wirklichkeit zu schaffen.
Was, wenn Kaskaden, wie sie erst seit der Erfindung des Netzes möglich sind, aus Gedanken und Gefühlen bestehen? Man darf nicht übersehen: Sie werden durch das Prinzip der algorithmischen Vernetzung durch Software so verstärkt, dass sie buchstäblich durch die Decke schießen können. Vorstufen davon kennt man. Ob gekaufte Blogeinträge und ähnlicher, oft robotererzeugter Spam. Das ist aber immer noch nichts im Vergleich zu dem, was die Zukunft bringen wird. Noch ist nicht jedermann bewusst, dass wir im Internet die gleiche Sprache wie die Maschinen sprechen. »Bot Mobs«, Informationskaskaden, die von Robotern, intelligenten Agenten ausgelöst werden, machen es unmöglich zu unterscheiden, ob Menschen ein Thema ernst nehmen oder Roboter. Bots werden durch menschliches Kommunikationsverhalten nicht nur »geweckt«, sie lernen auch systematisch und immer besser dazu. »Alles, was wir über menschliches Verhalten und menschliche Kommunikation wissen, muss im Lichte der Bots umdefiniert werden«, schrieben Studenten der Universität Kansas, die im Netz groß geworden sind und die zunehmend anonymen Kommunikationserfahrungen ausgesetzt waren, bei denen sie nicht wussten, ob sie auf Menschen oder Maschinen reagierten.159 Im Augenblick reagieren die Bots, eine Unterabteilung der »intelligenten Agenten«, vor allem auf Kauf- und Kommerzreize, die durch Schlüsselworte ausgelöst werden. Aber sie sind gerade dabei, die Grammatik unserer Gefühlswelten zu lernen.
Da im Internet nicht nur Waren ausgetauscht werden, sondern auch Gedanken und Gefühle, werden wir immer häufiger Gedanken-Moden und Gefühls-Trends erleben. Zu ihnen gehört auch die Facebook-Erfahrung von Karen. Wenn ich Freunden erzählte, dass eine amerikanische Schriftstellerin verkündet, nichts mehr zu suchen, worauf sie keine Antwort im Netz findet, war das mitleidige Befremden groß. Dabei ist es nur folgerichtig in einer Welt, in der nicht existiert, was nicht digital existiert.