GLASPERLENSPIEL

IMAGE ie Informationsexplosion steht unmittelbar vor ihrer nächsten Zündung. Das Echtzeit-Internet wird in den Alltag jedes Einzelnen eine unendliche Anzahl von Signalen senden, die unser Verhältnis zur Zeit verändern werden. Handys und mobile Geräte werden die Antreiber dieser Entwicklung sein. Cloud-Computing wird die Daten, die Programme und Betriebssysteme nicht mehr auf den einzelnen Geräten speichern, sondern in einem Archipel der Wolken, der gleichsam über uns schwebt und auf das jedes Gerät, von der Ampelschaltung bis zum Großrechner, jederzeit Zugriff hat. Wir werden zwei Hirne haben, eines im Kopf und eines in den Wolken, eines auf Erden und eines im Himmel.

»Wir würden tatsächlich in Informationen ertrinken«, sagt Eric Schmidt, der Chef von Google, »wenn wir im Echtzeit-Internet die Suche traditionell betreiben wollten. Suche wird sich jedoch immer mehr zu einer vorhersagenden Suche entwickeln.Wir werden sagen können, ob das Konzert, das Sie heute Abend besuchen wollen, gut oder schlecht ist, weil wir durchsuchen können, wie die Menschen darüber im Internet reden. Die Suche wird Ihnen eine Empfehlung geben können, wann Sie losfahren sollten, weil wir über das Internet erfahren, wie viele Fahrzeuge zu dem Konzert unterwegs sind. Wir werden schon während des Konzertes sagen können, ob es hält, was sich die Leute davon versprochen haben, weil immer mehr Leute während eines Konzertes twittern oder kommunizieren.

Und wir werden nach dem Konzert sagen können, wie das Ergebnis war und ob sich die Zuschauer schnell oder langsam auf den Heimweg machten.« Echtzeit-Internet wird unser Verhalten in die Zukunft drehen und komplexe Reaktionsmuster auslösen, die wir heute umgangssprachlich mit dem Begriff »selbsterfüllende Prophezeiung« belegen. Sie werden uns viel abnehmen. Aber man denke an Ellen Langers Patienten: Sie werden, wenn Menschen sie als reine Informationen aufnehmen, auch Geschehnisse auslösen, die nur geschehen, weil Computer sie erwarten.

»Ein aufregenderer Aspekt«, sagte Google-Gründer Larry Page vor ein paar Jahren in einem Interview, »ist die Vorstellung, dass Ihr Gehirn von Google verstärkt wird.Wenn Sie beispielsweise an etwas denken, könnte Ihnen Ihr Handy die Antwort ins Ohr flüstern.«167 Es sollte mittlerweile klar geworden sein, dass es sich bei solchen Visionen nicht um haltlose Fantastereien handelt. Schon in naher Zukunft werden Handys mit Projektoren ausgestattet sein, die jede Oberfläche, von der Handfläche bis zur Hauswand, zu einem Computerterminal machen, der Zugang zum World Wide Web ermöglicht. Das Projekt trägt den bezeichnenden Titel »The Sixth Sense«. Ist der User bereit, sich von den Computern vollständig lesen zu lassen, seine Suchgeschichte und seine Daten zur Verfügung zu stellen, verbindet sich eine Welt, die zum Computerterminal geworden ist, mit der von Google verkündeten Vision, dass der Computer Antworten liefert, ohne die Frage zu kennen.168

Es war keine Science-Fiction, als der Autor Bruce Sterlin die Ankunft der »Spimes« vorhersagte, die die uns gebaute Wirklichkeit verändern werden. Sie sind bereits bei Autos in Produktion. Spimes sind banalste Chips, die in fast jedes Produkt eingebaut werden, das uns umgibt. Sie werden, wenn man will, nicht nur Daten über seinen Zustand senden, sondern auch über die Geschichte seines Gebrauchs. Das akzeptiert man bei einem Motor. Der nächste Schritt sind Türöffner, Sportschuhe, Nahrungsmittel und am Ende der eigene Körper. Die größte Gefahr ist, dass die Welt der Vorhersagen eine Welt der Vorherbestimmung wird.

Wir erleben gerade in Echtzeit, wie eine Gesellschaft unwiderruflich die Fundamente ihres Weltbildes ändert. Erst die, die heute noch mit Lego spielen, werden es so selbstverständlich finden, wie der Fisch das Wasser. Noch hat sich nicht überall herumgesprochen, dass nicht nur die Hirnforscher, sondern auch moderne Psychologen davon ausgehen, dass der freie Wille ein Konstrukt ist, und dass in unserem Hirn »geistige Butler« arbeiten, »die unsere Absichten und Vorlieben so gut kennen, dass sie sie vorwegnehmen und die Dinge für uns (ohne Bewusstsein, F.S.) regeln«.169 John Bargh hat das geschrieben in einer der einflussreichsten psychologischen Studien der letzten Jahre, der er in Anlehnung an Milan Kunderas Roman den Titel »Der unerträgliche Automatismus des Seins« gegeben hat.

Und hier bei der Frage des freien Willens zeigt sich schließlich auch, wie wichtig der Perspektivwechsel in Zeiten des digitalen Lebens ist. Sie ist keine akademische Frage. In einer vorausberechneten und vorhergesagten Welt wird sie zu einer Alltagsfrage der Menschen. Dabei ist es völlig egal, ob es einen freien Willen gibt oder nicht, wichtig ist, dass wir an ihn glauben - ein Glaube, den uns kein Computer der Welt geben kann, ja der im Widerspruch zu seinem Programmauftrag steht. Denn wenn der Glaube an den freien Willen schwindet, verändert sich das soziale Verhalten von Menschen schlagartig. Sie werden deutlich aggressiver und weniger hilfsbereit gegenüber anderen Menschen.170 Vielleicht ist der freie Wille eine Illusion, und die Computermodelle, die ihn widerlegen, haben Recht. Aber es ist eine Illusion, die, wie Roy Baumeister schreibt, der Gesellschaft nützt, weil sie ihr das Fortbestehen ermöglicht.

Menschen spüren längst, worum es hier geht. Nur deshalb sind die Instinkte so wach, die Zensur, Manipulation und Überwachung von Seiten des Staates schon im Keim ersticken wollen. Aber der Staat ist nur ein Spieler in diesem Spiel. Andere Mitspieler sind die großen Internet-Unternehmen, Parteien und Lobbyisten. Aber sie alle sind nichts gegen die Gefahr, die droht, wenn sich durch die Computerisierung des Lebens sanft und unwiderstehlich unser eigenes Menschenbild zu verändern beginnt. Die Vorstufen - von den Schuldgefühlen und den Krankheitsbildern des misslingenden Multitaskings bis zur totalen Ich-Erschöpfung des Einzelnen - haben wir in diesem Buch kennengelernt. Und all das kann ohne Zweifel zu einem Leben permanenter, panikartiger und sogar erzwungener Vernetzungen führen. Aber die Chancen, dass daraus etwas Gutes wird, sind ebenso groß. Ich habe keine Angst um das Papier, auf dem dieses Buch gedruckt wird. Es ist kein Informationsträger der Vergangenheit, und es kann neben den Bildschirmen bestehen. Es wird anders gelesen werden, denn es ist ein Gedanken-Träger, aus dem bei der Lektüre keine digitalen Schlüsse gezogen und keine soziale Vernetzung erzwungen werden können. Je stärker Menschen in der elektronischen Welt in digitale Savannen geführt werden, desto größer wird das Bedürfnis nach der uneinnehmbaren Festung des dünnen Papiers. Vielleicht nur deshalb, damit Menschen herausfinden können, ob sie noch selbstbestimmt denken und Ziele definieren können. Aber es ist nur ein Symbol. Es geht darum, Verzögerungen in unser Denken einzubauen, um den Aufmerksamkeitsmuskel zu stärken. Auch der aller Romantik unverdächtige John Bargh sieht darin einen Ausweg aus den natürlichen und selbstauferlegten Automatismen des Lebens. Menschen übernehmen Automatismen und Stereotype, Skripts und Drehbücher, weil die Reize und das menschliche Denken zu schnell für uns sind, als dass wir wirklich unseren Gedanken folgen könnten. Wir bemerken sie oft zu spät. Darum zwingen uns die lichtschnellen Computer immer stärker dazu, routiniert auf die Welt zu reagieren. Doch wenn man aufmerksam zuhört, so Bargh, kann man die Gedanken hören.

»Ich hab es selbst probiert und es stimmt. Sie können folgen. Die Geschwindigkeit ist das Problem. Sie müssen gleich nach einem äußeren Reiz zuhören, und Sie können es hören und jedem einzelnen Glied Ihrer Gedankenkette folgen.«171

Es gibt eine Utopie für unseren künftigen Umgang mit unserem Wissen und den sekündlich neu eintreffenden Informationen. Hermann Hesses »Glasperlenspiel« beschreibt eine Welt, in der der Umgang mit Informationen nicht mehr vom nie zu stillenden Hunger geprägt wird, sondern vom Spiel. Das gesamte Wissen der Menschheit wird von den Glasperlenspielern nicht konsumiert, sondern »gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit. Theoretisch ließe sich mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt im Spiele reproduzieren«. Durch die Computer sind die Gesellschaften längst in die Phase des Spiels eingetreten, aber haben es bislang denjenigen überlassen, die an Börsen und Finanzmärkten verhängnisvolle Wetten auf Informationen abschließen.

Der Computer beendet eine lange Geschichte, in denen Organismen ihre Informationen in Speichern ausgelagert haben. Beginnend mit der ersten DNA der Bakterien, über die Artefakte, die Schriften, die großen Bibliotheken. Jetzt sind Menschen an den Speicher ebenso angeschlossen wie an ihr Gehirn. Zu wissen, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr wissen müssen, hat nur Sinn, wenn wir aufräumen und den frei gewordenen Platz nutzen, wenn das nicht geschieht, wird uns, wie der Neuroethiker Thomas Metzinger schreibt, die Kontrolle über unsere eigene Aufmerksamkeit entrissen und wir flirren dahin in einer »Mischung aus Traum, Rausch und Infantilisierung«.172

Es geht um Realitäten. In Schulen, Universitäten und an den Arbeitsplätzen muss das Verhältnis zwischen Herr und Knecht, zwischen Mensch und Maschine neu bestimmt werden. Die Gesellschaft, die die Kontrolle über ihr Denken neuartig zurückgewinnt, ist eine, in der in Schulen und Hochschulen Meditationen als Teil des Unterrichts angeboten werden. Sie werden zu Institutionen, in denen Denken gelehrt wird und nicht Gedanken, indem wir lehren, in Zeiten der Suchmaschine den Wert der richtigen Frage zu erkennen.

Es gibt Äonen von Gedanken, die wir in dieser Sekunde mit einem einzigen Knopfdruck abrufen können. Aber kein Gedanke ist so wertvoll und so neu und schön wie der, dessen erstes Flügelschlagen wir gerade jetzt in unserem Bewusstsein hören.