DIE VERWANDLUNG DES MENSCHEN IN MATHEMATIK

IMAGE uch wenn die meisten Leute es gern anders hätten und sich anderen gegenüber in Kontaktanzeigen und im Facebook-Profil als spontan, unberechenbar, individuell, auf liebenswerte Art verrückt, auf besondere Weise geprägt, auf jeden Fall aber als ganz speziell und anders als die anderen beschreiben: Spätestens an dieser Stelle müssen wir akzeptieren, dass wir durch unsere Kommunikation mit Computern berechenbar werden. Und dass sich wesentliche Teile unser aller Verhalten offenbar bereits auf Algorithmen reduzieren lassen in der Manier: »Wer gern Bücher von Tom Wolfe liest und im Winter am liebsten nach Asien fährt, der schaut auch gern Kochsendungen und trägt am liebsten ökologisch.«

Natürlich sind viele dieser Algorithmen noch ungenau. Aber je mehr Informationen wir im Netz über uns preisgeben, desto präziser werden sie. Denn die Computer, genauer gesagt: die Software großer Firmen wie Facebook, Google, Yahoo oder Amazon, liest diese Informationen, sie ordnet sie und verarbeitet sie zu neuen Fragen. Diese Fragen sind im Augenblick meistens noch Konsumvorschläge, Erkundigungen, ob dieser Wein, dieses Buch, dieses Urlaubsangebot oder diese Kamera nicht genau das ist, worauf man sein Leben lang gewartet hat. Auch die Reaktion oder Nicht-Reaktion auf diese Fragen erzeugt weitere Daten, die die Algorithmen weiter und weiter verfeinern. Das ist nicht Orwell - denn diese Daten werden anonymisiert und nur von Robotern gelesen und ausgewertet, es ist eher der Stoffwechselaustausch mit einem gewaltigen synthetischen Hirn. Wie gesagt: Noch sind es Konsumangebote. Aber schon merkt man bei einfachen Suchanfragen, dass die immer genialer werdenden Algorithmen insbesondere von Google, Ideen und Gedanken auf die einzelne Person zuschneiden.

Das ist eine Erkenntnis, die - obwohl die personalisierte Suche es einem bereits jetzt vor Augen führt - in den Köpfen der meisten Menschen noch nicht angekommen ist. Es hilft nichts, gegen sie zu protestieren. Gegen Fakten kann man nicht protestieren, so wenig wie es half, als Voltaire gegen das Erdbeben von Lissabon protestierte. Aber man muss mit naivem Blick verstehen, wie ungeheuerlich und folgenreich das ist, was vor sich geht.

Der amerikanische Journalist Stephen Baker hat in seinem Buch »Numerati« gezeigt, wie wir als Wähler, Käufer, Blogger und User bereits von leistungsfähigen Rechenprogrammen eingeordnet werden: in Stämme (»tribes«) und Subjekte, die durch Zahlen codiert werden. Hochkomplexe Software verbindet Klicks, Worte oder Töne mit digitalen Bewegungsmustern anderer User, sucht nach Übereinstimmungen oder Unterschieden. Das bedeutet nichts anderes, als dass jeder einzelne Mensch addiert mit vielen anderen irgendwann das Resultat gewaltiger Berechnungen sein wird, für die es noch vor fünf Jahren weder die Computer noch die Daten gegeben hätte. Durch die Rückkoppelung dieser Daten an das aktuelle Verhalten der User entsteht eine unendliche Spirale von Berechnungen, die dem Wesen von Algorithmen entsprechen: Und die arbeiten so lange, bis sie ihr Ziel erreichen, im Zweifelsfall ewig. Die Anonymität des Users ist nur ein begrenzter Schutz. Hat er ein Interesse daran, angesichts der Datenflut bessere Informa-

WAS IST EIN ALGORITHMUS?

Es ist der wichtigste Begriff, den man kennen muss, um im digitalen Zeitalter zu überleben. Algorithmen sind im Grunde nichts anderes als Rezepte, Vorgehensweisen, mit denen man ein Ziel in mehreren Stufen erreicht. Nehmen Sie den Fall des Computer-Freaks Danny Hillis. Hillis hatte seine Socken immer chaotisch in einem riesigen Berg in seinem Schrank gelagert. Brauchte er neue, war es schwer, in dem Chaos zwei zugehörige Socken zu finden. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Man nimmt eine Socke und sucht die nächste. Hat man eine falsche erwischt, wirft man sie wieder zurück in den Schrank usw. Auf diese Weise dauert die Suche ewig. Anders das algorithmische Vorgehen: Man sucht eine Socke, passt sie nicht, legt man sie auf einen Tisch, bei der nächsten verfährt man ebenso, passt sie weder zur ersten noch zur zweiten, legt man sie daneben. Dieser Algorithmus spart Zeit, Umwege und führt mit Sicherheit zum Ziel. Der Unterschied zwischen menschlichen Algorithmen und denen der Computer ist, dass Computer niemals aufgeben. Wenige Programmzeilen reichen für eine Tätigkeit, die Wochen, ja Monate dauern kann: »Ordne so lange, bis du dein Ziel erreichst.« Das macht die Computerhirne so mächtig. Viele Computer-Ingenieure, Philosophen und Neurowissenschaftler glauben, dass man jedes menschliche Verhalten mit Algorithmen erklären kann. Das aber ist eine Annahme, die Menschen im Informationszeitalter zu Maschinen machen wird.

tionen zu bekommen, muss er zumindest online identifizierbar sein. Und selbst wenn er es nicht ist, genügen bald die Daten vergleichbarer User, um ihn immer besser einzukreisen.

Der Mensch ist eine statistische Datenmenge, die bei genügender Dichte nicht nur Rückschlüsse über sein bisheriges, sondern auch über sein zukünftiges Verhalten ermöglicht. Dies alles dient dem Zweck, dass die Maschinen wiederum den Einzelnen besser lesen können - ein Ziel, das viele von uns, man darf sich nichts vormachen, begrüßen, ja sehnsüchtig erwarten und das für das Funktionieren unserer digitalen Gesellschaft unerlässlich ist. Je besser der Computer uns kennt, desto besser die Suchergebnisse, mit denen er uns aus der Datenflut, die er selbst erzeugt, retten kann.

»Wir verwandeln die Welt der Inhalte in Mathematik, und wir verwandeln SIE in Mathematik«, sagt Howard Kaushansky, einer der Softwareingenieure, die diese Systeme für Unternehmen entwickeln, einem ziemlich fassungslosen Stephen Baker. Wie man sich das genau vorzustellen hat, zeigt Baker am Beispiel der Softwarefirma »Umbria«, die Sprache in ihre kleinsten Komponenten zerlegt, nicht nur in Worte und Sätze, sondern auch in Emotionen - und alles zusammen in mathematische Gesetzmäßigkeiten verwandelt.

Was das Ganze bringt? Zunächst Profit. Nehmen wir ein reales Beispiel: Der anonyme Käufer auf einer Einkaufsplattform schaut sich ein Parfum an - und erhält plötzlich die Empfehlung, doch einen Bademantel für Herren zu kaufen.

Warum? Weil die Software weiß, dass zu bestimmten Zeiten an bestimmten Tagen der Woche Frauen für Männer einkaufen, und dass Frauen, die mittwochs Parfum einkaufen, offenbar eine besonders hohe Neigung haben, auch etwas für ihre Männer einzukaufen.83 Was wiederum die Chancen für den Bademantelabsatz steigert.

Das ist ein harmloses Beispiel aus der Welt des Shoppings. Es ist eine Prognose, die sich erfüllt oder nicht erfüllt. Sehr viel weniger harmlos ist es, wenn die intelligenten Agenten in anderen Bereichen ihre unsichtbaren Dienste leisten. Ein Beispiel für die katastrophale Wirkung, die sie haben können, zeigte sich, als nicht nur, aber auch unter ihrem Einfluss 2008 eine der größten Finanzkatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg an der »Wall Street« ausgelöst wurde.

Wie gesagt, natürlich irrt sich diese prognostische Software noch, aber sie wird immer besser. Und im Übrigen - gesetzt den Fall, man wolle den vom Online-Anbieter empfohlenen Bademantel wirklich kaufen, nachdem der Computer es uns vorgeschlagen hat (und das nur, weil Mittwoch ist und obwohl der Mann bereits drei ungetragene im Schrank hängen hat): Was bedeutet es eigentlich für unsere künftige Einschätzung der eigenen Willensfreiheit, wenn wir erkennen müssen, dass der Computer vor uns gewusst hat, was wir wollen werden?

Was, wenn es irgendwann nicht mehr um Bademäntel, sondern um politische Entscheidungen oder das eigene Leben geht?

Was, wenn - wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden - mit jenem »Parfum« noch eine ganz andere Witterung verbunden ist? Was, wenn über die besagten »intelligenten Agenten« Ihre Facebook-Lebensgeschichte mit Ihrem Arbeitsplatz, Ihren Lesegewohnheiten, Ihren Freunden, Ihrer Wohnung auf Google-Earth, der Krankengeschichte und den Zeitparametern verglichen wird, die Sie im Netz verbringen?

Die Mehrheit würde jetzt wohl antworten: Dann haben wir das, vor dem George Orwell uns schon vor 60 Jahren gewarnt hat. Eine von einer kalten Macht überwachte, durchkalkulierte und gesteuerte Gesellschaft. Oder auch den, wie man ihn Jahre später taufte, »gläsernen Menschen«.

Allein: Es geht hier nicht um Überwachung. Sie ist ein ernstes Problem, wenn Staaten die modernen Kommunikationsmittel unter ihre Kontrolle bringen, und es ist legitim und dringend geboten, beispielsweise bei der Debatte um Netzsperren die Motivation des Staates infrage zu stellen. Aber wie der ehemalige Wired-Chefredakteur Kevin Kelly zu Recht sagte: Die Chancen, sich von modernen Technologien leiten und beraten zu lassen, hängen vom Willen ab, sich selbst transparent zu machen. Überwachung ist nicht nötig, wenn Menschen beschlossen haben, ihre Fotos ins Netz zu stellen, ihre Hobbys und Abneigungen der Welt mitzuteilen, die Wände ihrer Intimsphäre wegzusprengen, kurz: ihr Herz und ihre Seele ins Netz zu schütten. Denn Menschen, die sich dauerhaft und freiwillig so offenbaren, Menschen, die ständig ihre Scheiben putzen oder vielmehr - gleich die Fenster öffnen, damit man ihnen noch problemloser ins Wohnzimmer gucken kann: Solche Menschen kann man gar nicht überwachen. Dann gibt es auch keine anonyme Macht mehr, die sie ausbeutet. Sie selbst sind diese Macht. Sie beuten sich selbst aus.

Die Software derweil modelliert Drehbücher für uns Menschen, die zu einer völlig neuen Bewertung von Zufall und Notwendigkeit führen werden. Auf der Ebene der Freundschafts- und Partnersuche findet vielleicht nur die Übertragung von Suchalgorithmen statt, die es auch im wirklichen Leben bei Heiratsvermittlungen und Ähnlichem gab. Das virale Marketing und seine Konsumangebote sind die Fortsetzung der Werbung mit anderen Mitteln. Doch wenn ein Algorithmus damit beginnt, Hunderte von Variablen auszuwerten, Interpunktion, Wortkombinationen, Smileys, Signale und diese mit unzähligen anderen Daten verbindet, legt sich ein Netz der Vorausberechnung, des Determinismus über die Handlungen der Menschen.

Der eigentliche Rädelsführer dieser Entwicklung ist übrigens nicht der Laptop oder das heutige Internet, sondern unser Handy. Die Netzbetreiber verfügen potenziell über eine unvorstellbare Anzahl unserer persönlichen Daten von Gesprächen, Fotos, SMS-Nachrichten, Internet-Zugriffen und Gewohnheiten, und einzig der Datenschutz verhindert, dass diese Daten unter Klarnamen ausgewertet werden. Durch die Vorratsdatenspeicherung sind sie für staatliche Stellen abrufbar und erlauben die Modellierung außerordentlich genauer sozialer Profile.

Aber auch hier ist Überwachung nur die eine Seite des Sachverhalts. Womit wir zunächst zu tun haben, ist die Auswertung der anonymisierten Datenmengen für Verhaltensvorausberechnungen von Menschen. Sie sind eine unschätzbare Ressource, und da die mobilen Geräte in der unmittelbaren Zukunft eine noch viel größere Rolle spielen werden, ist es gut, sie im Auge zu behalten. Je stärker die Codes unser Informationsverhalten prägen, desto größer ist die Gefahr, dass wir uns selbst und andere nur nach vorgegebenen Mustern beurteilen, ohne die Chance, aus ihnen auszubrechen - weil das Muster uns immer wieder einholt.

»Millionen Menschen«, schrieb 2008 die »New York Times« über die Datenhaie im Internet, »sind mit einem breiten Spektrum von Werkzeugen ausgestattet worden, um ihre Individualität auszudrücken, und eine kleinere Gruppe von Menschen hat die effizientesten Methoden ausgearbeitet, um diese Menschen zu Zahlen auf einer Tabelle zu konvertieren«.84

Wir sind also in einer Zwickmühle: Wir brauchen die Software, die uns analysiert, um mit der Informationsflut fertig zu werden. Aber indem sie uns analysiert, reduziert sie immer mehr unser Gefühl dafür, dass wir wählen können und einen freien Willen haben. Wenn Sie sich völlig durchschaubar machen, »wäre es denkbar«, sagt Eric Schmidt, »dass eines Tages eine vergleichbare Software mit ganz anderen Daten entsteht, beispielsweise der menschlichen DNA. Plötzlich erkennen wir, dass jemand mit einer menschlichen Anomalie (oder einer Krankheit) eine Art Doppelgänger irgendwo in der Welt hat. Wir könnten Lebens- und Ernährungsgewohnheiten miteinander vergleichen, Übereinstimmungen feststellen und zu ganz neuen medizinischen Erkenntnissen kommen. Das gilt auch für Krankengeschichten allgemein. Die Frage ist natürlich, ob Menschen das überhaupt wollen… Es könnte sein, dass sie es wollen, weil es ihnen hilft.«85 Vielen, die die technischen Möglichkeiten unterschätzen, erscheint das heute undenkbar, und ihr erster Gedanke ist der Datenschutz. Aber sie vergessen nicht nur, dass Datenschutz mürbe wird, wo persönliche Interessen im Spiel sind, sondern auch den evolutionären Sprung, der durch eine Generation von Menschen ausgelöst werden wird, die nichts anderes als die modernen Kommunikations-formen kennen.

Man sieht: Das alles entspricht sehr genau dem, was der Mathematiker Steven Strogatz oben über das »Ende der Einsicht« in der Mathematik sagte.Wie dort die Mathematiker sich dem Computer unterwerfen, dessen Beweisführung sie nicht mehr nachvollziehen können, so unterwirft sich der Durchschnittsbürger bei immer mehr Entscheidungen seines Lebens: Er kann vielleicht noch sagen, ob die Resultate richtig sind oder nicht, aber wie er darauf kam, einen Bademantel zu kaufen, ist ihm schleierhaft.

Auch Stephen Baker, der die Numerati wie kein zweiter kennt, ist gespalten in der Beurteilung. »Ich glaube, die Software-Ingenieure werden uns mit ihren Systemen wirklich viel abnehmen und damit unsere Hirne für die wirklich wichtigen Dinge freimachen, zum Beispiel für die Liebe.«

Stephen Baker ist überzeugt, dass die Programmierer schon sehr bald Algorithmen entwerfen werden, mit denen noch viel klügere Voraussagen über unsere Leben, Hoffnungen und Verzweiflungen getroffen werden können. »Ihre Spezialität«, so sagt er, »wird aber in all den Bereichen sein, wo wir Routinen entwickeln.«86

Facebook, Twitter, der eigene Blog: Viele glauben, das seien nur Spielzeuge unter anderen, Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung, Plattformen des Selbst. Möglicherweise sind sie es. Aber alles, was wir auf ihnen treiben, ist Input.

»Cataphora« heißt eine hocheffiziente Softwarefirma in Kalifornien, die sich auf ihrer Website so vorstellt: »Beinahe jeder von uns hinterlässt im Laufe eines Tages digitale Fußspuren. Wir schreiben E-Mails und Berichte. Wir telefonieren, simsen, chatten, bloggen, twittern und hinterlassen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Wir aktivieren elektronische Türschlösser.

Diese und viele andere Aktionen werden aufgezeichnet. Cataphora kann alle diese Teile zusammensetzen, um Verhaltensmuster abzubilden, die niemals zuvor verfügbar waren. Unsere Technologie kann von Ermittlern, Kontrollbeamten, Bildungsbeauftragten und auch sonst jedermann benutzt werden, der ein legitimes Interesse am Verhalten von Menschen in Organisationen hat.«87

Lassen wir für einen Augenblick beiseite, dass dergleichen in Europa im Augenblick aus Datenschutzgründen nicht möglich ist - wobei die Schutzmauern zu bröckeln beginnen. Es reicht, dass es im mächtigsten Land der Welt möglich und technisch machbar ist. Aus den »Cataphora«-Selbstanpreisungen leiten sich zwei sehr wesentliche Informationen ab:

  • Vernetzung heißt nicht mehr nur das Internet, wie wir es heute kennen, Vernetzung heißt alles, vom Heizungssensor im Wohnzimmer bis zum Handy bis zur Facebook-Seite - durch alles und mit allem werden wir gelesen.
  • Firmen wie »Cataphora« trauen sich mithilfe ihrer Algorithmen zu, Kreativität zu bestimmen: Sie glaubt, durch Auswertung von E-Mails diejenigen Mitarbeiter zu identifizieren, die Generatoren und Sender von neuen Ideen sind.

Es wird aber noch mehr geschehen. Besser gesagt: Es geschieht schon. Programmierer werden in der Lage sein, auch solche Vorgänge in maschinenhafte Routinen zu übersetzen, die sich der Berechnung bislang widersetzten; spontane Einfälle, Assoziationen, unbekannte Reiserouten und die Frage, ob ein Konzert, das in einer Stunde beginnt, gut sein wird oder nicht.

Statt also das Internet immer nur wie einen großen Spielplatz zu betrachten, sollte man sich, rät Stephen Baker, lieber vorstellen, »wie die mathematischen Modellierer eines Tages an der Tür Ihres Arbeitgebers erscheinen werden, entweder als Phalanx blau gewandeter Unternehmensberater oder vielleicht in einem Computerprogramm codiert. Sie werden Sie fest ins Visier nehmen.«88

Denn so wie besagter Online-Buchhändler heute schon weiß, was Sie morgen interessieren dürfte, können die Leute bei großen Unternehmen wie beispielsweise IBM bereits bei in der Entwicklung befindlichen hochkomplexen Menschenbewertungssystemen kalkulieren, was jeder einzelne Arbeitnehmer mit seinen Fähigkeiten, Angewohnheiten, Launen und Krankheiten wert ist und in der Zukunft noch wert sein wird.

Jetzt, in dem Augenblick, da Sie dieses Buches lesen, werden gleichzeitig in allen großen Maschinenräumen unserer Gesellschaft die Fäden eines gigantischen Netzes gesponnen, und jeder Bewohner der digitalen Welt, ob mit Handy oder Laptop, spinnt eifrig an dem Netz jeder seiner Lebensinformationen mit: an den Arbeitsplätzen (über die wir gleich mehr erfahren werden), im Internet und in den Wissenschaften. Jedermann spürt den Grusel, den solche Möglichkeiten auslösen, und er steigert sich noch, wenn man an die Missbrauchsmöglichkeit von Seiten des Staates denkt. Aber es fällt Menschen schon sehr viel schwerer nachzuvollziehen, dass sie sich gar nicht gruseln werden, weil ihre Art zu denken sich längst mit den neuen Verhältnissen arrangiert hat, weil das Denken selbst sich verändert hat.

Die Systeme, die Baker beschreibt, zielen auf Profit, Konsum, Werbung. Aber gleichzeitig verändert sich ein anderes System: die Wissenschaft und damit sehr bald schon die Art, wie wir denken werden. Was hier geschieht, wird einem klarer, wenn man sich an Steven Strogatz' Bemerkung über die Mathematik erinnert und sie auf seine eigenen Lebensverhältnisse überträgt: Strogatz, wie wir gesehen haben, beschrieb, dass Mathematiker zwar Resultate komplexer Berechnungen noch überprüfen können, nicht aber die Beweisführung, und er befürchtete, dass daraus ein Autoritarismus entstehen könnte, der uns zwingt, den Computern zu glauben, ohne zu wissen, warum.

Das »neue Denken« entsteht dadurch, dass man mithilfe des unvorstellbaren mächtigen Daten-Inputs aller Menschen, die mithilfe der modernen Technologien reden, schreiben, kaufen, denken, sehen, gehen, fahren, fliegen, Türen öffnen und schließen, und der noch mächtigeren Algorithmen keine Modelle mehr benötigt, um sie zu analysieren, zu erklären oder zu deuten.

Solche Visionen sind realistisch, seitdem es kein Problem mehr ist, Datenmengen im Umfang vieler »Petabytes« (2 Petabytes entsprechen sämtlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den USA in einem Jahr) zu speichern, zu organisieren und miteinander zu verbinden. Man muss nur noch nach Korrelationen suchen, nach Übereinstimmungen und Zusammenhängen zwischen den Daten. Das ist gemeint mit der Veränderung des Denkens.

Es bedeutet, wie der Chefredakteur der Zeitschrift »Wired« Chris Anderson hellsichtig feststellt, nichts weniger als das Ende der Theorie, auch das Ende von Modellen. »Wer weiß, warum Menschen tun, was sie tun?«, fragt er. »Der Punkt ist: sie tun es, und wir können, was sie tun, mit nie da gewesener Präzision verfolgen. Wenn wir genug Daten haben, sprechen die Daten für sich selbst«.89

Konsequent hat Google-Chefentwickler Peter Norvig verkündet: »Alle Modelle sind falsch, und wir werden bald ohne sie auskommen können.«90 Anderson begrüßt ein Denken, das nicht mehr nach Ursachen, sondern nach Korrelationen fragt. Doch er ignoriert, dass die Vernetzung der Daten auf mathematischen Gesetzen beruht, die die Dynamik einer selbsterfüllenden Prophezeiung annehmen können. Es existiert nur noch das, was sich »computen« lässt. Es existiert nur noch, was digitale Informationen liefert. Was nicht ins Innere des Rechnerhirns wandert, gibt es nicht und schließt sich aus der Gesellschaft aus.

Nicht ohne tiefe Faszination, aber auch mit ziemlichem Erschrecken muss man erkennen, wie dieser Prozess sich seit 2008 noch ein weiteres Mal revolutioniert hat. Damals gründeten etliche amerikanische Universitäten, IBM und Google »Cluster Exploratory«, eine Art paralleles wissenschaftliches Internet, das geniale Google-Technologie mit den Daten der Hochschulen und der Hardware von IBM vereinte: 1600 Prozessoren, viele Terrabyte an Speicher und ein besonderes Google-Verfahren, das den Zugriff auf Datenbanken revolutioniert, werden neue Zusammenhänge herstellen, zum Beispiel durch den Vergleich riesiger Mengen an Röntgenfotos, den Ausbruch von Epidemien, Ernteschäden - aber das ist nur die praktische Seite. Die ersten Projekte werden Hirnsimulationen sein und neurobiologische Berechnungen zwischen »wetware«, dem Menschen, und der »software«, dem Computer.91 Niemand kann voraussehen, welche Erkenntnismuster diese Kalkulationen im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften, der Literatur, der Psychologie hervorbingen werden. Doch die Zeichen sind eindeutig: Es entsteht der »eine Computer«, und selbst der sonst so bedächtige George Dyson, der die Erfolge und die schalen Angebereien des Computerzeitalters durchschaut hat wie kein anderer, spricht in Anlehnung an Nietzsches Begriff vom Übermenschen vom »Über-Geist« (»overmind«) und notiert: »Es könnte sein, dass es das eigentliche Schicksal unserer Spezies ist, dass wir eine Intelligenz aufbauen, die sehr erfolgreich ist, egal ob wir sie verstehen oder nicht.«92