DAS COUNTER-CLOCKWISE-EXPERIMENT

IMAGE chärfen wir für einen Augenblick unser Gefühl für das Unmögliche. Im Jahre 1979 - »das letzte Jahr vor dem digitalen Tsunami« (Bill Gates) - führte Langer ihre »Gegen-den-Uhrzeigersinn«-Studie durch. Ein Experiment, das so ziemlich allem zuwiderlief, was wir an ähnlichen Experimenten kennen, und deshalb nur mit erstaunlicher Verzögerung in der Wissenschaft rezipiert worden ist.147 Langer suchte sich eine Gruppe, die traditionell am schwächsten Glied der Informationskette steht: alte Leute, die von dem auf sie einströmenden Neuen überfordert scheinen. Sie scheitern als Empfänger von Nachrichten, weil sie schlecht hören, sie können kaum mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen, und sie scheitern auch als Absender, weil sie nicht oder falsch verstanden werden. Sie sind gleichsam lebende Informationsartefakte: Sie haben alles schon einmal gehört. Ihr Aufmerksamkeits-Muskel scheint erschlafft, und die Ich-Erschöpfung kann bei ihnen chronische Züge annehmen. In gewisser Weise sind sie Symbole der Informationsüberflutung auch in Zeiten, als es noch keine Computer gab.

Langer hat einen drehbuchreifen Plan: Was würde geschehen, wenn man den alten Menschen die Kontrolle über die Informa-tionen zurückgeben würde, indem man die Uhr psychologisch zurückdreht? Sie beschloss, die Welt von 1959 wieder zum Leben zu erwecken.

Die Wissenschaftler fanden ein altes Kloster, das sie für eine Woche mieteten, und gaben den Teilnehmern - siebzig bis achtzigjährigen Männern - eine Reihe von Verhaltensregeln. Jedes Gespräch und jede Diskussion sollte im Präsens, in der Gegenwartsform, geführt werden. Die Teilnehmer durften keine Bücher, Zeitungen, Familienfotos mitbringen, die jünger waren als 1959. Außerdem mussten die Probanden ihre Lebensgeschichten im Präsens aufschreiben, als seien sie im Jahre 1959, und Fotos von sich aus der damaligen Zeit schicken, die an alle anderen Teilnehmer versandt wurden.

Eine Kontrollgruppe wurde an einen anderen Ort gebracht. Hier sollte das Jahr 1959 nur Erinnerungsstoff sein. Die Teilnehmer brachten aktuelle Fotos, Zeitungen und Zeitschriften mit, schrieben ihren Lebenslauf in der Vergangenheitsform, durften in der Vergangenheitsform reden und bekamen so die ständige Information, dass 1959 Vergangenheit sei.

Vorausgegangen waren umfassende Recherchen. Die Forscher suchten nach allen Details des Jahres 1959: Die politischen und sozialen Debatten, die Fernseh- und Radioprogramme, die Möbel, Geräte und Gegenstände - es entstand eine vollkommene Kopie der Welt von gestern.

Es muss, nach dem Bericht, den Ellen Langer gab, ziemlich filmreif gewesen sein: Gespräche über den ersten US-Satelliten, der »letztes Jahr« (1958) gestartet sei, Fidel Castros Vormarsch auf Havanna, Nat King Cole singt im Radio, und im Fernsehen läuft »Ben Hur«. Abends spricht Dwight D. Eisenhower an die Nation.

Dann wurden die Teilnehmer mit Informationen bombardiert. Ihnen wurden in schneller Folge Fotos von Groucho Marx, Elvis Presley oder Nikita Chruschtschow gezeigt und ihre Reaktionszeit gemessen. Ihre Bewegungsabläufe, Körperhaltung und ihre Gesten wurden am Anfang und am Ende des Experiments auf Video aufgenommen, ebenfalls die Art, wie sie ihre Mahlzeiten einnahmen, ob sie von selbst in die Küche gingen oder auf Hilfe warteten und so weiter.

Aufnahmen, die vor und nach dem Experiment gemacht wurden, wurden von nicht eingeweihten Betrachtern in die umgekehrte Reihenfolge eingeordnet. Sie schätzten, dass die späteren Fotos um Jahre jüngere Männer zeigten. Die Männer bewegten sich schneller, gingen mit Informationen der wirklichen Gegenwart freier um und waren insgesamt gesünder. Die überraschenden Beobachtungen ließen sich nicht durch einen »Urlaubseffekt« erklären, denn sie traten bei der Kontrollgruppe nicht oder nur sehr vermindert auf, und in vielen Fällen verschlimmerte sich deren Gesundheitszustand sogar.

Bei der ersten Gruppe hingegen entwickelte sich Arthritis zurück, die Beweglichkeit verbesserte sich, erlernte Hilflosigkeit oder Passivität verschwand fast vollständig. Die Menschen saßen aufrechter, Fingerfertigkeiten nahmen zu, die Sehkraft verbesserte sich signifikant. Am deutlichsten aber war der Gewinn an geistigen Fähigkeiten: In Intelligenz- und Konzentrationstests schnitten die Männer viel besser ab als vor dem Experiment - und weitaus besser als die Kontrollgruppe.

Hier ging es nicht nur um eine Verbesserung mentaler und körperlicher Fähigkeiten bei Menschen, denen nur noch Verfall unterstellt wird. Entscheidender ist eine andere Erkenntnis: Die Menschen wurden gesünder, weil ihr Gehirn sich die Informationen unterordnete. Keine Information konnte in dieser Zeitreise so dringend sein, dass man ihr nachhetzen musste, denn alles war schon geschehen, und doch war alles neu. »Wir lesen in Zeitschriften Artikel um Artikel«, schreibt Ellen Langer, »es gibt Berge von Büchern und Fernsehsendungen. Wir sind besessen von Gesundheit und Fitness. Doch wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir, dass wir nichts wissen. Aufmerksamkeit für die Gesundheit hat nichts damit zu tun, ärztliche Empfehlungen anzunehmen oder zu ignorieren, noch mit New-Age-Medizin. Es geht einzig und allein darum, uns von begrenzenden Denkweisen zu verabschieden.«148

Die Ergebnisse dieser Studie wurden in Hunderten anderen Arbeiten bestätigt, aus dem Bereich der Gesundheit, des Lernens, der Kreativität. So wurden an Patienten Bewältigungsstrategien bei Operationen untersucht. Eine Gruppe bekam sämtliche statistische Informationen über zu erwartende Schmerzen, Operationsverlauf, statistische Gefahren, den Genesungsprozess, Erklärungen - in der Hoffnung, ihnen damit das Gefühl zu geben, durch die Informationen das Gefühl von Kontrolle zu bekommen. Einer anderen Gruppe wurden keine solchen Informationen gegeben. Stattdessen wurde ihnen klargemacht, dass nur sie selbst die Operation einordnen konnten, und das jede Information immer nur eine Expertenvorhersage sei, also aus der Perspektive eines Beobachters und einer vergangenen Erfahrung stamme. Jetzt sollten sie etwas anderes tun: die Ergebnisse nicht aus dem Blick ihres vergangenen Wissens, sondern ihres künftigen Lebens beurteilen.

Die Wissenschaftler forderten die Patienten auf, sich die Vorteile klarzumachen, »beispielsweise, dass man Zeit hat, seine Ziele zu sichten und zu prüfen, sich wieder intensiver den Freunden und Angehörigen zu widmen, deren Beziehung man als zu selbstverständlich hingenommen hat«. Im Ergebnis benötigte diese Gruppe weniger Schmerz- und Beruhigungsmittel als die informationsgesättigte Gruppe. Immer ging es darum, Fakten nicht als Gesetze anzuerkennen und stattdessen neue Hypothesen zu entwickeln; kurz »den eigenen künftigen Erfahrungen Bedeutung zu verleihen«.149

In gewisser Weise wurden die Patienten »abgelenkt«. Aber diese Ablenkung bestand nicht darin, sie mit anderen Informationen zu füttern oder den Fernseher anzuschalten. Ihnen wurde klargemacht, dass selbst ärztliche Informationen kontextbezogen sind, keine hundertprozentige Aussage über die Zukunft treffen können und dass nur sie selbst es seien, die die Antwort geben. Diese Denkoperation, die genau nicht in Rezepten (Algorithmen) bestand, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Patienten bei und nach der chirurgischen Operation. Mathematisch wären diese Ergebnisse, in der Lieblingsformulierung der Statistiker, »anekdotisch« gewesen. Aber für den Einzelnen steckt in dieser nicht verallgemeinerbaren Anekdote seine ganze Lebensgeschichte. Und eine also doch verallgemeinerbare Erkenntnis: Nicht die Information selbst, der Perspektivwechsel trainiert den Muskel.

Was zeigen diese Geschichten? Sie zeigen, dass, wenn wir unser Leben nicht an Statistiken hängen, wir im Zweifel besser damit fahren. Und Statistiken sind nicht nur Zahlentabellen: Sie betreffen jeden Informationsreiz, dem wir eine Bedeutung zumessen.

Warum aber fällt uns dieser Perspektivwechsel so schwer? Warum halten wir die »Gegen-den-Uhrzeigersinn«-Studie gern für Hokuspokus? Und warum wird diese Unfähigkeit zum Perspektivwechsel im digitalen Zeitalter bei manchen Menschen sogar zur Lebenskrise? Weil wir ständig alarmiert sind statt aufmerksam. Der Hauptgrund unserer Unfähigkeit zum Perspektivwechsel ist die Angst vor Kontrollverlust. Zur Bekämpfung der eigenen Unsicherheit brauchen wir das, was die Computer so perfekt beherrschen und was sie uns aufdrängen: eine statistische Vorhersage. Doch um die zu deuten, muss der Mensch selbstbewusst die Perspektive wechseln, um nicht nur einer Illusion von Kontrolle zu erliegen. Und in manchen Fällen entscheidet die Illusion über Leben und Tod.

Erinnern wir uns als Beispiel an die Fehldeutungen von Brustkrebs-Statistiken, die der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer aufgedeckt hat.Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wirklich Krebs habe? Man würde meinen, dass es in Zeiten der Computer darauf eine allgemeinverbindliche Antwort gibt. Doch die Antworten der Ärzte variieren von 1 Prozent bis in den zweistelligen Bereich. Ein Drittel der Ärzte, die Gigerenzer befragt hat, darunter Klinikchefs mit langjähriger Erfahrung, gaben aufgrund der Statistiken eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent an.Wie lautet die richtige Vorhersage? Gigerenzer klärt die Ärzte auf, indem er die statistischen Daten auf ihre eigene Lebenswirklichkeit herunterbricht. »Stellen Sie sich 100 Frauen vor. Eine von ihnen hat Brustkrebs. Das ist 1 Prozent. Diese Frau wird mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit getestet. Von 99 Frauen, die keinen Brustkrebs haben, werden neun oder zehn Frauen positiv getestet. Wie viele von ihnen haben wirklich Krebs? Eine von zehn. Nicht 90 Prozent, nicht 50 Prozent, sondern eine von zehn.«150

Ähnliches gilt für die Diagnose von Prostata-Krebs durch den PSA-Test, der die Gefahr einer Erkrankung sogar noch steigern kann. Die Untersuchung kann, wenn man sie häufig macht, das Positiv-Resultat selbst produzieren. »Es ist wie der Auto-Alarm, der dauernd angeht.«151 Aber das Entscheidende ist auch hier, dass die einzig relevante Information der statistisch nicht verallgemeinerbare eigene Körper ist. Einer von vier Männern, die nicht an Prostatakrebs sterben, weisen bei der Autopsie Prostata-Krebszellen auf. »Jeder hat Krebszellen. Wenn jeder dieser armen Kerle sich einem PSA-Test unterzogen hätte, hätte er die letzten Jahre oder Jahrzehnte seines Lebens mit körperlichen Verstümmelungen leben müsssen.«152

Es geht nicht darum, dass die Computer falsch rechnen - was sie unter Umständen auch tun. Es geht darum, dass die Art, wie wir die Informationen präsentieren, uns die Chance zur freien Wahl nimmt. Sie wiegen uns in falscher Sicherheit, weil man nicht in der Lage ist (die Berliner Wissenschaftler würden sagen, nie gelernt hat), den begrenzten Aussagewert der Statistik zu übersetzen.

Gut, sagen die Softwarefirmen, dann erklären wir, wie man die Informationen versteht: per Computerprogramm.Wenn ein Computer schon benutzt wird, um über die geistige Produktivität von Tausenden von Mitarbeitern zu urteilen, warum nicht auch dazu, ihre geistigen Defizite auszugleichen? Allerdings selbst wenn das gelingt, entgegnet Gerd Gigerenzer, »kann der Computer bestimmte kognitive Fähigkeiten nicht ersetzen.Wenn zum Beispiel ein Arzt nicht versteht, dass 5-Jahre-Überlebensraten beim Krebs-Screening nichts darüber aussagen, ob ein Patient durch Screening länger lebt, dann hilft auch das Programm wenig. Wir führen gerade eine Untersuchung von Ärzten zu diesem Thema durch, und die vorläufigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass etwa 90 Prozent der Ärzte diese Statistik falsch verstehen. Am Ende muss man erst lesen lernen, bevor man zum Computer geht.«153