REZEPTE FÜR DAS ZERLEGEN UND ZUBEREITEN VON MENSCHEN

IMAGE ir werden vielleicht nicht Mr. Spock, aber wir werden von ihm gelesen. Was liegt da näher als anzunehmen, dass die Art und Weise, wie der Computer für uns denkt, unserem Ich selbst entspricht?

Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der die Technologie sich entwickelt hat, führt zu einer der grundsätzlichsten Fragen überhaupt. Zu der Frage, wer man selbst überhaupt (noch) ist.

Die Tatsache, dass man sich immer häufiger als digitale Nachbildung im Netz begegnet, verändert das Selbstbild. Und hier ist nicht die Rede von gepiercten Avataren, also Spielfiguren, die man in »Second Life« animieren kann, und auch nicht von jenen Fabelwesen, deren Gestalt man in »World of Warcraft« annimmt.

Nein: Unsere digitalen Doppelgänger sind unsichtbar, sie speisen sich aus den Informationen, mit denen wir unsere Computer gefüttert haben, sie hausen in den Tiefen der Codes und melden sich, oft ohne dass wir es bemerken, wenn wir mit den Computern zu kommunizieren beginnen.

Da sie auf statistischer Analyse beruhen, können Computer sehr gut Gruppen analysieren, tun sich aber schwer bei dem Individuum. Problematisch wird es in dem Augenblick, wo der potenzielle Arbeitgeber, die Krankenversicherung oder man selbst tatsächlich glaubt, man sei der, der in den statistischen Daten abgebildet wird.

Denn was theoretisch für alle gilt, gilt eben, wie jeder weiß, der Wahlprognosen kennt, noch lange nicht für einen selbst. Das Beste, was diese Codes oder »intelligenten Agenten« leisten können, ist, uns die Vision eines Lebens zu geben, das von »jemandem-wie-ich-es-bin« gelebt wird. Es ist eine Annäherung an den Menschen, der wir nach mathematischer Wahrscheinlichkeit sein könnten - ein Verfahren, das in den Personalbüros der Welt, in den Krankenkassen und bei den Lebensversicherern längst gang und gäbe ist.

Diese Codes suggerieren, je länger man mit ihnen zu tun hat und je zuverlässiger sie zu arbeiten scheinen, eine totale Sicherheit, auch im Urteil über Menschen und im Urteil des Menschen über sich selbst. Die Personalabteilung von IBM ist dabei, eine Bewertung der Fähigkeiten seiner 300 000 Mitarbeiter durchzuführen. Arbeitnehmer werden, wie Stephen Baker es formuliert, »in kleine Stücke zerlegt«, das, was sie mit anderen gemein haben, wird ebenso erfasst wie ihre besonderen Charakteristika, dazu zählen ihre Kreativität und Dynamik, wie sie beispielsweise aus E-Mails ablesbar sind - nur ob sie unrasiert sind, ist in den Daten, die Baker zu Gesicht bekam, nicht verzeichnet.

Aber die Datenerfassung ist nur das eine. Das Entscheidende passiert, wenn diese Profile mit dem Datenmaterial von unzähligen anderen in Verbindung gebracht werden. Dann zeigen sich Logiken, Übereinstimmungen, Abweichungen und Tendenzen. Wenn ein heute fünfzigjähriger Arbeitnehmer unter Burnout leidet, aber mit 25 Jahren die gleichen persönlichen und sozialen Charakteristika eines 25-Jährigen von heute aufwies - was sagt das wohl über die Zukunft dieses 25-Jährigen? Hier wiederholt sich im Kleinen, was im Großen mit uns allen in den Netzwerken geschieht: die Verknüpfung und Berechnung individuellen Verhaltens mit dem Verhalten aller. Zwar taucht im Internet kein Chef auf, der uns eine Analyse oder eine Prognose stellt, aber wir selbst begegnen uns zunehmend als mathematisch berechnete Einheiten.

Es ist bezeichnend, dass in dem großen Menschen-Erfassungswerk der Personaldatenbanken von IBM nicht nur Software-Entwickler, sondern auch Psychologen, Anthropologen und Linguisten arbeiten.

Die Anthropologen sind laut Stephen Baker entsetzt von diesen Codes, weil sie glauben, dass sie menschliches Verhalten zu sehr vereinfachen. Denn die mathematischen Modelle verstärken den Glauben daran, dass Menschen berechenbar denken und handeln; wir tun es aber - glücklicherweise - nicht. Algorithmen unterstellen, dass jedes menschliche Verhalten durch Rezepte zu erklären ist. Doch wenn Menschen unvollständige oder widersprüchliche Informationen haben, wenn sie nicht wissen sollen, was tun oder wofür sich entscheiden, verlassen sie sich nicht auf Algorithmen, sondern auf Faustregeln und Intuitionen.

Wir gehen nicht unter, wenn wir die Faustregeln für mathematische Formeln nicht mehr kennen oder die Tricks, mit denen man Abkürzungen in der Stadt erkundet. Aber wenn wir die Faustregeln für uns selbst verlieren, verlieren Menschen das Gefühl dafür, wer sie sind. Nicht vollständige Information hilft, sondern das Bewusstsein, dass jede Information, die wir über Menschen bekommen, über uns selbst wie über andere, unvollständig ist.

Erst dadurch entsteht jene Form von Aufmerksamkeit, die nichts mehr mit den Kopfnoten in der Schule zu tun hat. Unsicherheit, das Gefühl, dass nichts so sein muss, wie es ist, und Perspektivwechsel wichtiger sein kann, als jede Information, sind, wie wir später sehen werden, das Rettungsboot in der Sturmflut der Informationen.