WENN MENSCHEN NICHT DENKEN

IMAGE in mittlerweile berühmt gewordenes Experiment, das auch eine Parallele zu den schmeichelnden Computern aus der Stanford-Studie ist, fand vor ein paar Jahrzehnten in New York statt:

In einem Bürogebäude bildet sich regelmäßig eine Schlange vor dem Xerox-Kopierer. Die Wissenschaftler schickten an verschiedenen Tagen einen als Angestellten getarnten Studenten zu den Anstehenden. Dieser Student hatte den Auftrag, den Wartenden klarzumachen, dass er auf keinen Fall die Zeit hätte, sich hinten in der Schlange anzustellen. Und zwar gab er dafür an den unterschiedlichen Tagen zwei verschiedene Gründe an.

Der erste lautete: »Entschuldigung, ich muss mir Kopien machen, darf ich den Kopierer benutzen, ich bin nämlich in Eile…«

Im zweiten Fall war die Begründung eigentlich gar keine, zumindest war sie offenkundig absurd, nämlich: »Entschuldigung, ich muss nur fünf Kopien machen, darf ich den Kopierer benutzen, weil ich kopieren muss?«93

Obwohl im zweiten Fall die Information, die der Student lieferte, völlig sinnlos war, reagierten die Menschen nicht anders als im ersten Fall, in dem er zumindest Eile als Grund angab. In beiden Fällen wurde der Student vorgelassen.

Man könnte nun sagen: Die anderen Anstehenden belohnten den Studenten allein dafür, dass er mit ihnen in Kontakt trat, was sie als Zeichen von Dringlichkeit werteten. Aber das wäre ein bisschen sehr profan.

Denn tatsächlich waren, wie die Studien ergaben, die Reaktionen ein Resultat von Unaufmerksamkeit. Beziehungsweise ein Zeichen dafür, dass sie nach einem Drehbuch, nicht nach gesundem Menschenverstand handelten.

»Unachtsamkeit«, »Unaufmerksamkeit« oder »Geistlosigkeit« (»mindlessness«) ist inzwischen ein fest umschriebener Begriff der Sozialpsychologie. Es geht dabei nicht nur um Informationen, die wir bereitwillig annehmen, und auch nicht um solche, die wir ignorieren, weil sie irrelevant sind, sondern um solche, die wir ignorieren, weil wir glauben, dass wir sie bereits kennen.

Noch einmal: Die Frage, um die wir uns nun kümmern müssen, lautet nicht, was wir tun, wenn wir denken, sondern was wir tun, wenn wir nicht denken. Was geschieht, wenn wir routiniert auf Erfahrungen zurückgreifen, ohne über sie nachzudenken? Mit anderen Worten: Was geschieht, wenn unsere Aufmerksamkeit aufgefressen worden ist? Und warum geschieht es? Ist es dieser Zustand, den der Computer nutzt und verstärkt, ohne dass wir es merken?

Kurz gesagt: Ja, er ist es.

Unsere Aufmerksamkeit verschiebt sich zunehmend, und wir handeln nach einem »Skript«, einem Programm oder Drehbuch. Das heißt, wir verlassen uns auf erlernte Muster, reagieren nicht mehr spontan und wechseln in Gesprächen oder menschlichen Interaktionen nicht mehr oder zumindest zunehmend weniger die Perspektive.

Und statt also die relevanten Informationen zu sichten, reagieren wir voreilig und gedankenlos, indem wir vereinfachte »Skripte« aus unserer Erfahrung abrufen.

Solche Skripte beeinflussen unsere soziale Intelligenz, unsere Fähigkeit zur Empathie, aber auch, wie wir mittlerweile wissen, tatsächlich unsere intellektuellen Fähigkeiten, ja sogar unsere Gesundheit. Es sind also weder das Internet noch die Technologien, die Menschen verengen und verdummen, sondern unsere Angst vor Kontrollverlust und das daraus resultierende Handeln nach Skripten.

Wir haben gelernt, solche Automatismen für sehr nützlich zu halten: Nicht mehr über Dinge nachzudenken, Routinen zu entwickeln, macht nicht nur das Autofahren, sondern auch das Leben leichter. Allerdings spricht mittlerweile alles dafür, dass dies ein Trugschluss ist und nichts anderes als eine Erfindung des industriellen Zeitalters, das Menschen brauchte, die wie Maschinen funktionierten.94

Der britische Mathematiker - und einer der Väter der Informatik - Alfred North Whitehead hat die dazugehörige Ideologie stellvertretend für viele formuliert: »Zivilisation entwickelt sich in dem Ausmaß, in dem wir die Anzahl der Operationen ausdehnen können, die wir ausüben können, ohne über sie nachzudenken. Operationen des Nachdenkens sind wie die Kavallerie in Schlachten - sie sind zahlenmäßig begrenzt, sie benötigen frische Pferde und dürfen nur in entscheidenden Momenten eingesetzt werden.«95

Das ist nicht falsch, sofern wir selbst es sind, die entscheiden, was oder wem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden können. Es wird aber verstörend, wenn immer mehr Dinge unsere Aufmerksamkeit verlangen und wir nicht mehr wissen, was uns wichtig ist.

Das Beunruhigende ist, dass wir mittlerweile die Skripts der Informationsverarbeitung wie permanente Computerprogramme in fast alle Winkel unserer Seelen eingepflanzt haben. Stephen Baker ist alles andere als ein Romantiker. Auch kein Mann der Übertreibung. Er ist Ökonom und blickt sehr nüchtern auf die Vorteile und Nachteile unserer digitalen Zukunft, und wahrscheinlich haben wenige Außenstehende einen so tiefen Blick in die Maschinenräume der Computercodes geworfen wie er.

Doch auf meine Frage, ob er nach all dem, was er gesehen hat, glaubt, dass sich unsere Gehirne verändert haben und das Denken nach außen wandert, antwortet er: »Ja, ich glaube, dass das externe Gehirn, also das Netz, das wir alle nähren und von dem wir uns ernähren, das Hirn, das wir zwischen den Ohren tragen, dramatisch verändern wird. Wir werden künftig zwei Hirne nutzen. Eines in unseren Köpfen und eines in den Wolken. Und wir müssen herausfinden, wie wir zwischen den beiden unsere Fähigkeiten erhalten.«96