WARUM DER ARZT NICHT HELFEN KANN

IMAGE s ist also schwieriger geworden, ein Buch zu lesen, weil unser Gehirn sich unter dem Druck digitaler Informationsfluten umzubauen beginnt. Millionen von Spezialisten, unzählige Nervenzellen, die die mühsame Technik erlernt haben, sich einarbeiteten, Fehler berichtigten, Sensorien des Sehens, Hörens, Riechens und Schmeckens miteinander vernetzten, neue Straßen in die Gedächtniszentren bauten, um die Kulturtechnik Lektüre möglich zu machen, scheinen in heller Aufregung zu sein. Jedenfalls sind die Veränderungen des Lesens nur ein Anfang.

Wieso fällt es uns auch zunehmend schwerer, einem Gespräch zu folgen oder eine Nachricht zu ignorieren? Wieso wächst bei der Mehrzahl der Bewohner der westlichen Welt das Gefühl, keine Kontrolle mehr über ihr Leben, ihre Zeit, ihren Alltag zu haben? Was genau geschieht mit unserem Gehirn, unserer Auffassungsgabe, unserer Konzentration? Und wie kann man es schaffen, im Netz und in seinem eigenen Kopf zu Hause zu sein?

Woher kommt das Gefühl, ständigen Anweisungen unterworfen zu sein? Wieso führt die Effizienzsteigerung zu keinen Verbesserungen? Wieso spürt man immer häufiger, dass der Befehl, das Schlüsselelement aller Programmiersprachen, direkt auf uns selbst zielt? Wieso haben die Dinge kein Ende mehr, weder Texte noch Informationen, aber auch nicht der Tag und das Jahr?

Wer vergesslich ist, geht zum Arzt, aber im Fall von Konzentrationsstörungen wäre davon abzuraten. Die Ärzte sind womöglich schlimmer dran als wir.

Gerd Gigerenzer, Chef des Max-Planck-Institus für Bildungsforschung in Berlin und einer der brillantesten Lehrer des Selbst-Denkens in einem auf Fremd-Denken getrimmten Bildungssystem, hat in einer Studie gezeigt, dass selbst viele Wissenschaftler verlernt haben, die von ihren Computern erstellte Statistiken richtig zu lesen - etwa bei der Auswertung bildgebender Verfahren und bei medizinischen Fundamentalfragen wie der Krebsvorsorge. Zwanzig Prozent Risikominderung durch Brustkrebsvorsorge heißt nicht, wie selbst viele Ärzte glauben, dass zwanzig von hundert Frauen gerettet werden können. Es heißt nur, dass von tausend Frauen, die sich keinem Screening unterziehen, fünf sterben, und von tausend Frauen, die eines machen, vier sterben werden. Der Unterschied von vier zu fünf ergibt die zwanzig Prozent.26

Natürlich stecken in vielen solcher Statistiken auch Manipulationen der Pharma-Industrie, denn sie eignen sich wunderbar, um die Wirksamkeit von Medikamenten zu übertreiben und mit den Ängsten und Hoffnungen der Patienten zu spielen. Aber das erklärt nicht, wieso sie so lange Zeit niemandem auffielen. Während schon ein falsches Komma in einer Webadresse zur Meldung »Page not found« führt, führt es bei den medizinischen Statistiken zu ganzen Bibliotheken von falschen Heilsversprechen.

»Es gibt keine einzige Informationsquelle, die korrekte Informationen liefert«, sagt Gigerenzer zu den Brustkrebsstatistiken.27 Das Gleiche gilt für eine Unzahl anderer medizinischer Statistiken.

Ausgerechnet das viel gepriesene Multitasking, so berichten Professoren der »Harvard Medical School«, habe dazu geführt, dass immer häufiger Textbausteine von einer Krankenakte in die nächste wanderten, Ärzte und Krankenschwestern übernehmen unter Zeitdruck vollständige Krankengeschichten und die Beschreibung der akuten Krankheit von anderen Patienten mit gleichen Beschwerden und kopieren sie ohne Prüfung in die neue Akte, noch ehe der Patient überhaupt in der Klinik erschienen ist.

Professoren fanden Diagnosen, die sie für ganz andere Patienten mit ähnlichem Krankheitsbild erstellt hatten, in anderen Krankenakten wortgenau wieder, eine Form des, wie die Harvard-Wissenschaftler schreiben, medizinischen Plagiats, das lebensgefährlich werden kann, weil in der Kette des Multitasking und der sich stets erneut kopierenden Kopien niemand mehr eigene Schlüsse zieht oder vorhandene Diagnosen auch nur überprüft. Es ist eine Kommunikation, in der Absender und Empfänger Maschinen sind.

Der Chefarzt einer Herzklinik in Kansas berichtet in der gleichen Studie, dass er mittlerweile gezwungen ist, jeden Tag die wirklich wichtigen Entwicklungen seiner Patienten vom Computer auf Karteikarten umzuschreiben, um sich die Abweichungen überhaupt bewusst machen zu können. Denn weil sich in den elektronischen Krankenberichten bedeutungslose Aussagen durch endloses copy and paste ewig wiederholen, entsteht bei den behandelnden Ärzten ein Aufmerksamkeitsdefizit. Sie denken über die Diagnose nicht mehr nach, sondern kopieren sie auch mental. Es ist wie bei »Wo ist die Maus?«, sagt die Studie nach ausgiebiger Befragung der Ärzte: Die Computerakte wird zum Wimmelbild, in der man die wichtigen Informationen mit großer Mühe suchen muss.

Die Autoren der Studie im renommierten »New England Journal of Medicine« sehen sich sogar dazu veranlasst zu betonen, dass sie keine Verrückten sind, die aus Prinzip gegen den Computer opponieren. Umso wirkungsvoller, was sie mit Blick auf den Computergebrauch feststellen: »Kommentare und Diagnosen, die konzentriert und trennscharf sein sollten, werden aufgebläht und schablonenhaft und führen dazu, dass sich die Aufmerksamkeit von der eigentlichen geistigen Aufgabe vollständig verabschiedet.Wir müssen es schaffen, dass die Technologie für uns arbeitet, statt dass wir für sie arbeiten.«28

Dieses mathematische und diagnostische Analphabetentum selbst bei Experten und zudem in einem Zeitalter, wo die gesamte Kommunikation auf den statistischen Verfahren von Computern beruht, ist vielleicht noch nicht einmal Zeichen einer Rückwärtsentwicklung. Die Fähigkeit, Statistiken zu lesen, bemerken die Autoren der letztgenannten Studie, war nie besonders entwickelt. Es ist eher eine Seitwärtsentwicklung: Wir sammeln heute unendliche Informationen. Aber sie führen uns nirgendwo mehr hin.