DER DUFT, DER DIE WILLENSKRAFT LÄHMT
ehmen wir an,
wir müssten morgen auf SMS, E-Mails, Tweets, Facebook verzichten.
Für die meisten Menschen der westlichen Welt wäre das so, als
würden sie verhungern. Schon eine Woche Abstinenz außerhalb der
Urlaubszeit käme vielen so vor, als würde man ihnen vorschlagen,
sich acht Tage von Dr. Liebigs Fleischersatz zu ernähren. Wann
immer für ein paar Stunden Datenleitungen oder für ein paar Minuten
Google nicht erreichbar sind, melden Blogger Symptome, die an
Nahrungsentzug erinnern.
Der Schriftsteller Peter Handke hat vor vielen Jahren den Fall eines Mannes geschildert, der jeden Morgen erwartet, im Briefkasten den Brief zu finden, der sein Leben ändert. Bei Franz Kafka kommen die Nachrichten über Telefon oder die Haustür: Es klingelt an der Tür, es klingelt das Telefon, es klopft am Fenster und das Leben nimmt eine völlig neue Wendung. Diese Figuren haben immer ein schlechtes Gewissen. Es ist das Schuldgefühl, das auch wir mehr oder minder bewusst entwickeln, weil wir merken, dass sie der Information, auf die sie warten, niemals gewachsen sein werden.
Nehmen wir einmal an, mit der täglichen Informationsflut wäre es so, wie wir sie behandeln: Unser Leben hinge davon ab. Oder seien wir etwas bescheidener und nehmen nur an, dass wir wirklich alle diese Informationen nur mit einem Minimum an Aufmerksamkeit konsumieren. Oder seien wir ganz bescheiden und unterstellen, dass unter den unzähligen personalisierten Informationen, die täglich unsere Aufmerksamkeit konsumieren, nur zwei oder drei wären, die wirklich Konsequenzen für uns hätten.Wie geht der geistige Stoffwechsel von uns informavores damit um? Besorgen wir uns die Antwort aus dem Reich der Nahrung.
Weil wir auswählen, also bestimmte Informationen vernachlässigen und andere bevorzugen müssen, ist ein Mindestmaß an Selbstkontrolle notwendig. Sie arbeiten an einem drögen Bericht oder führen ein langweiliges Telefongespräch und neben Ihnen leuchtet die E-Mail, und es ist, als würde der Ofen blinken, wenn die Croissants fertig sind. Oder Sie suchen eine Antwort im Netz, und plötzlich strömt Ihnen der Duft von einer von Peter Pirollis wunderbar frischen Websites zu.
Wir brauchen nicht erst zu recherchieren, dass die Klatsch-Website keine besonders relevanten Informationen haben wird und ahnen auch, dass in Facebook in den letzten zehn Minuten nicht die sensationelle Information aufgetaucht ist, die die Unterbrechung rechtfertigen würde. Aber wir wissen auch automatisch, welches Essen gesund oder nicht gesund ist. Und dennoch hängt unsere Nahrungswahl sehr viel stärker davon ab, ob wir gerade durch eine Fußgängerzone mit netten Restaurants gehen oder gerade eine Anzeige für Bademoden gelesen haben.126
Im wirklichen Leben wie im Netz werden Witterungen aufgenommen. Hier der Grill, dort die Information, die wir zumindest einmal mit unseren Augen streifen müssen. Wo uns Düfte umwittern, wird derjenige, der sich Selbstkontrolle beim Essen auferlegen muss, schwach und denkt nicht mehr an Nahrung, sondern an Geschmack. McDonald's kann noch so viele Salate anbieten, es werden dort immer Hamburger reißenden Absatz finden. Eine Webpage mag seriös sein; ihre Dieter Bohlen- und Paris Hilton-News werden selbst bei seriösen Suchern als Erstes und oft auch am häufigsten konsumiert. Die Ausrede ist sprichwörtlich und entspricht der Snack- und Fast-Food-Welt im wirklichen Leben: »nur mal schnell zwischendurch«, »hab jetzt grad Hunger«, »kostet nicht viel«. Und dennoch zwingt die Masse der Informationsflut zur Selbstkontrolle. Die Frage ist, was uns diese Daten-Bytes oder »Bissen« kosten - und ob wir überhaupt genug zahlen können.
Welchen Preis wir zahlen müssen, hat an der Universität Florida der Kognitionspsychologe Roy Baumeister untersucht und ist in einer bekannten Studie auf das Phänomen der »Ich-Erschöpfung« gestoßen. Ein ständiger Zwang, wählen zu müssen zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen, höhlt uns schon nach kurzer Zeit buchstäblich aus und führt dazu, dass wir den Autopiloten im Gehirn einschalten. Wir können gar nicht anders, als uns in diesem Zustand treiben zu lassen. In einem Einkaufszentrum können wir immerhin den Laden verlassen, in der digitalen Welt merken wir gar nicht, dass wir ihn betreten haben. Wir sind online, selbst wenn wir es nicht sind. Denn wir denken permanent an die Informationen, die uns entgangen sind oder die auf uns warten könnten.
Baumeister lud Testpersonen unter dem Vorwand ein, Geschmackstests für Marketingforschungen durchzuführen. Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, sollten die Kandidaten drei Stunden vor dem Experiment keine Nahrung mehr zu sich genommen haben. Im Laboratorium hatten die Wissenschaftler unterdessen alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. In einem Ofen wurden Schokoladenkekse gebacken und der Raum war erfüllt von dem Geruch von Schokolade und Gebäck. Dann wurden den Testteilnehmern die Kekse und eine Schale mit weißem und rotem Rettich vorgesetzt. Der Experimentator erzählte, wie er selbst sagt, seine »Cover story«: Der Geschmackstest erfordere, dass die Kandidaten ausschließlich ein paar Scheiben Rettich, aber keine Kekse essen (und umgekehrt: Kekse, aber keinen Rettich). Die Kandidaten wurden fünf Minuten alleine gelassen, dabei allerdings beobachtet, dann kehrte der Wissenschaftler zurück und unternahm, aus statistischen Gründen, wie er sagte, eine Reihe Tests.127
Was geschah? Es stellte sich nach acht solcher und ähnlicher Experimente (zum Beispiel die Anweisung, jeden Gedanken an einen »weißen Bären« zu unterdrücken) heraus, dass schon ein geringfügiger Akt der Selbstkontrolle - die Kekse nicht anzurühren - die Fähigkeit eines Menschen ernsthaft erschöpft, sich einer weiteren, völlig anders gearteten Aufgabe konzentriert zu widmen. So gaben die Probanden, die auf die Kekse verzichten mussten, bei einem schwierigen (tatsächlich unlösbaren) Puzzle sehr viel früher frustriert auf als die anderen Teilnehmer. Andere hatten nicht einmal mehr die Energie, lösbare Rätsel zu lösen. Selbstkontrolle scheint, wie das Wort »Willenskraft« verrät, wie ein Muskel zu funktionieren, und wie ein Muskel verfügt sie nur über eine erstaunlich begrenzte Spannkraft. Wer in den Experimenten aufgefordert wurde, einen bestimmten Gedanken zu unterdrücken (den an den weißen Bären), konnte bei einer anschließend gezeigten Film-Komödie, vor deren Vorführung die Testpersonen gebeten wurden, möglichst ernst zu bleiben, die Aufgabe nicht mehr erfüllen. In einem weiteren Versuch konnten Personen sich nach konzentriertem Korrekturlesen nicht mehr dazu aufzuraffen, einen todlangweiligen Fernsehfilm abzuschalten. Und wer sich in Tests dazu zwingen musste, möglichst keine Gefühle bei der Informationsaufnahme zu zeigen
- zum Beispiel bei einem Film -, war danach kaum mehr in der Lage, kleinere Worträtsel zu lösen.128
Diese Ich-Erschöpfung überkommt eine von Informations-Reizen überflutete Gesellschaft eben nicht nur bei Fragen der Ernährung, Gesundheit, der realen Welt, sondern viel mehr noch bei allen Fragen des Informations-Konsums. Das verstärkt sich, wenn die Web-Designer immer stärkere Reize setzen, die der Verführungskraft von Dingen entspricht, die man haben will, aber die man nicht haben sollte. Unser Verhalten ist vergleichbar mit Impulskäufen im Kaufrausch.
Also sind wir unablässig gezwungen, Akte der Selbstkontrolle auszuführen, und die meisten Reize kommen von den Bildschirmen, aber nicht mehr aus der realen Welt - da stehen keine Kekse mehr, sondern es vibriert die SMS und der Gedanke, ob es höflich ist, sie nicht gleich zu beantworten, oder es wartet der Link, der zu Abertausenden anderen führt, von denen jeder ein darwinistischer Schalter ist, der, wenn man ihn drückt, seinen immer besser perfektionierten »Informations-Duft« verströmt. Wir wittern und krabbeln los, wie der Getreideplattkäfer, aber wir krabbeln im Kreis. Denn wir können nicht aufhören. Eine wartende Mail, die SMS, das Wissen um sich ständig aktualisierende Informationsinhalte auf den Lieblingswebseiten, der Facebook-Update, der Youtube-Link und all die anderen Multitasking-Anforderungen zwingen uns, wenn wir ihnen nicht allen folgen, den Gedanken an sie zu unterdrücken. Das ist das böse Spiel, das der junge Fjodor Dostojewski mit seinem Bruder spielte: »Denk jetzt nicht an den weißen Bären«. Sein Bruder soll Stunden danach verwirrt gewesen sein. Wie jeder weiß: Wenn wir den Gedanken an etwas unterdrücken, denken wir daran.
Man kann sich nicht auffordern, nicht an etwas zu denken. Der weiße Bär steht immer schon im Zimmer und blinkt. Wir befinden uns in diesem Augenblick gewissermaßen an der existenziellen Klippe der Informationsgesellschaft am Rande der Zwangshandlung: Wir wissen und wissen nicht, und je mehr wir uns zusammenreißen, desto stärker wird der unterdrückte Gedanke. Wir wissen, dass eine Nachricht konsumiert werden will. Aber wir wissen nicht, was sie bedeutet. Das Informations-netz mit seiner faszinierenden Freiheit erzwingt in entscheidenden Momenten Selbstkontrolle selbst in winzigsten Details und tut doch alles, um sie zu unterminieren.