WIR SIND BLIND FÜR DAS, WAS WIR NICHT ERWARTEN
ie meisten
Menschen glauben, man konzentriere seine Aufmerksamkeit so, als sei
das Hirn eine Kamera: ruhig halten, fokussieren, abwarten,
auslösen.135 Wir lernen in der
Schule, dass »aufmerksam sein« bedeutet, seine Gedanken nicht
abschweifen zu lassen. Nach allem, was die Forschung heute dazu
weiß, ist dies wohl einer der gefährlichsten Irrtümer von Erziehung
und Selbsterziehung. Ablenkung führt zu Perspektivwechseln, die
neue Gedanken und Ideen freisetzen und sogar die Gesundheit
nachhaltig verbessern können. Diese Form der Aufmerksamkeit, ein
Relikt der Lehren des Frederick Taylor, führt zu Erschöpfung und
Langeweile. Das Problem unserer Ablenkungen besteht nicht darin,
dass sie uns ablenken, sondern dass die Ablenkung statt zur
Befreiung nur zur Fleißarbeit wird.
Schauen Sie auf dieses E. Haben Sie das lang genug getan, beginnen Ihre Augen zu flimmern. So ergeht es uns auch mit Gedanken oder einer Idee, auf die wir uns zu lange konzentrieren. Sie verschwimmen an den Rändern. Wenn wir unscharf sehen, gehen wir in kleine stille Läden - Läden für die Augen, nicht für die Gedanken -, wo ein freundlicher Verkäufer uns auffordert, 66 etwas eigenwillig gestaltete Buchstaben zu lesen.
Ein sonderbarer Text, denn er ist nur gemacht, damit wir ihn nie zu Ende lesen können. Er beginnt leicht und munter und wird immer schwieriger und am Ende unlesbar. Nicht nur ein Text also, fast eine Lebensphilosophie. So sieht er aus:

Die Snellen-Augentafel ist so etwas wie eine algorithmische Rechenmaschine im Kleinen, und sie dient seit weit über hundert Jahren, um unsere Sehschärfe zu bestimmen. Sie ist eines der vielen Hilfsmittel, die, wie Stephen Baker es formulierte, die »maschinenähnlichen Teile in unserem Leben« auf Verschleiß unters uchen und fast kein Mensch denkt mehr groß über sie nach.
Und gerade das ist das Problem, denn sobald wir aufhören, aufmerksam zu sein, werden Routinen und Automatismen in Gang gesetzt oder kurz: Algorithmen. Manche sind hilfreich, etwa beim Straßenverkehr, aber unter dem Eindruck einer computerisierten Welt wird die ganze Welt zum vorformulierten Rezept, das keinen Raum mehr für Anderes lässt. Eine Gruppe von Forschern an der Harvard-Universität haben sich gefragt, was es mit diesem Automatismus des Nicht-Nachdenkens auf sich hat. Vielleicht sollte man, so ihre Überlegung, über den versteckten Algorithmus in Snellens Augentafel einmal nachdenken. »Wir glauben«, schreibt die Psychologin Ellen Langer, die das folgende Experiment durchführte, »dass es Zeit ist, die nicht-algorithmischen Dimensionen des Denkens zu untersuchen«.136 Könnte es sein, dass die Automatismen, in denen Menschen immer schon zu wissen glauben, was sie erwartet, ihnen buchstäblich den Blick auf ihre eigenen Möglichkeiten verstellt? Die Augentafel ist gewissermaßen die simple Version jedes algorithmischen Rezepts, das uns an den Computern steuert. Es schließt »Nachdenken« aus. Die Forscher fragten sich, ob unsere Augen vielleicht dadurch beeinflusst werden, dass beim Betrachten von Herman Snellens Tafel ein Programm in unserem Hirn abläuft, das unsere Aufmerksamkeit »frisst«. Es ging also darum herauszufinden, was passiert, wenn man die Karte mit der »Linse der Aufmerksamkeit« (Langer) betrachtet. Um das herauszufinden, präsentierten sie einer Gruppe von Testpersonen eine umgedrehte Tafel:

Daraufhin waren mit Ausnahme einer einzigen Person alle Testpersonen imstande, Zeilen zu lesen, die sie vorher nicht erkennen konnten.137 Wie ist das zu erklären? Die Gruppe hatte buchstäblich etwas gesehen, was sie vorher nicht gesehen hatte. Sie hatte unter dem Eindruck der veränderten Augen-Tafel ihre Aufmerksamkeit neu geweckt. Ihr Bewusstsein konnte nicht mehr auf Informationen aus der Vergangenheit zurückgreifen, also auf statistische Muster, die unser Hirn auswertet und »Erfahrungen« nennt, sondern musste sich dem Neuen stellen. Der Grund liegt in dem gespeicherten Erwartungs-Programm in unserem Hirn. Bei der üblichen Tafel wissen wir aus Erfahrung (und auf einen Blick), dass das, was leicht beginnt, schwer endet. Das Erstaunliche ist, dass nicht nur unser Geist, sondern auch unsere Körper auf diese Information bei einem so »objektiven« Vorgang wie dem Sehen reagiert - als handele es sich um einen Marathonlauf, bei dem der Berg immer steiler und steiler und das Ziel immer ferner wird. Durch die umgekehrte Tafel wurde eine Routine gestört: Das Überraschende und Unerwartete verändert buchstäblich die Sichtweise auf die Dinge. Diese Routine ist so stark, dass die Versuchspersonen nicht einmal merkten, dass sie bei der umgedrehten Tafel besser sehen konnten. »Wir sind blind für das, was wir nicht erwarten«, schrieben anschließend die Wissenschaftler.138
Das Unerwartete ist bekanntlich nicht die Stärke der Computer. In der Regel führt das Überraschende zu »unerwarteten Ausnahmeverletzungen«. Es könnte dies einer der Gründe sein, warum wir ihnen so viel gestatten. Sie übertragen einen der tiefsten Wünsche des Menschen, den Wunsch nach Kontrolle, in eine neue soziale Wirklichkeit. Aber was die Wissenschaftler hier zeigten, war nichts anderes als das, was auch Roger Penrose aussprach, als er von der Begrenztheit der Algorithmen warnte: es gibt Dinge, die sich der Berechnung entziehen.
Computer können nicht sehen. Jedenfalls versteht ein Kleinkind besser, was es sieht, als jeder Computer. Um die Sehkraft der Computers zu verbessern, hat Google ein Spiel erfunden, in dem irgendwo auf der Welt zwei Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, über das Internet die gleichen Bilder gezeigt bekommen. Sie müssen mit Schlüsselbegriffen beschreiben, was sie sehen, und bei jeder Übereinstimmung gewinnen sie Punkte, je präziser die übereinstimmende Beschreibung, je eindeutiger die Definition, desto höher die Punktzahl.139 Wie beim »Mechanischen Türken« ist hier die Arbeit, die der Mensch für den Computer versieht, ein Spiel. Es handelt sich gewissermaßen um eine Augen-Karte für die Computer. Der »Image-Labeler« sammelt große Datenmengen, die Google wiederum in seine Algorithmen für eine immer perfektere Bildsuche einspeist. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft werden die Computer statistisch berechnen können, wie wir sehen. Sie werden durch das Feedback die Muster immer besser verstehen, die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen, daraus Algorithmen bilden und eindeutige, unhinterfragbare Antworten geben, die wiederzum zu Formeln über den menschlichen Sehsinn führen werden.
Das Experiment mit Snellens Augenkarte zeigt aber, dass gerade die Sensibilität für Neues, überraschende geistige und körperliche Stärken des Menschen zum Vorschein bringt. Aufmerksamkeit ist eben nicht das erstarrte Fixieren auf einen Gedanken, eine Idee, ein Bild, einen Gegenstand. Sie besteht nicht darin, wie beim einfachen Algorithmus einem Rezept zu folgen, das irgendwann, und sei es nach unendlichen Schritten, zu einem Ergebnis führt. Sie handelt mit Ungewissheiten. Die logische Aussage ist: »Das ist ein E«. Die schöpferische Aussage lautet: »Das könnte ein E sein«. Wie bei der Augenkarte sind die Wirkungen nicht nur geistig, sondern auch körperlich.
Die amerikanische Psychologin Ellen J. Langer und ihre Kollegin Alison Piper haben dies an einem anderen Experiment demonstriert, das nichts anderes ist als die Umkehrung der Verhaltenssteuerung durch intelligente Agenten. Es ist die Steigerung von intelligentem Verhalten durch Unsicherheit.
Die Wissenschaftlerinnen luden zwei Gruppen von Testpersonen unter dem Vorwand ein, psychologische Untersuchungen zum Verbraucherverhalten durchführen zu wollen. Der ersten Gruppe präsentierten sie eine Reihe von Gegenständen mit folgenden Worten: »Das ist eine Verlängerungsschnur«, »Das ist ein Föhn«, »Das ist ein Kauspielzeug für Hunde«. Bei der zweiten Gruppe zeigten sie die gleichen Dinge, aber sie bauten eine Unsicherheit in ihre Information ein: »Das könnte ein Haartrockner sein«, »Das könnte ein Kauspielzeug für Hunde sein« und so weiter. Am Ende dieser Aktion verteilten sie Formulare, die die Testpersonen mit Bleistift ausfüllen sollten. Doch kaum war das geschehen, riefen die Wissenschaftlerinnen scheinbar verzweifelt: »O nein, wir haben Ihnen falsche Anweisungen gegeben. Wir haben aber keine Formulare mehr und auch keinen Radiergummi. Was sollen wir jetzt tun?« Aufgeregt taten die Wissenschaftlerinnen so, als sei nun alles umsonst gewesen, weil sie ihre Untersuchung nicht beenden könnten.
Nun geschah Folgendes: die zweite Gruppe, denen die Objekte mit der unsicheren Information präsentiert wurden, hatten unbewusst verinnerlicht, dass man alle Gegenstände auch als etwas anderes sehen könnte als das, was sie zu sein schienen. Sie schauten sich das Kauspielzeug genauer an und benutzte es als Radiergummi. Der ersten Gruppe entging dieser Lösungsweg ausnahmslos.140
Wir lieben die Eindeutigkeit, denn je stärker sie ist, desto stärker unser Gefühl der Kontrolle. Das ist unsere Art, mit Risiken umzugehen. Wir entwickeln dann Routinen, die denen der Computer ähneln. In einer Umwelt der Uneindeutigkeit müssen wir neue Kategorien entwickeln, in einer Welt des Eindeutigen bleiben wir in den Kategorien gefangen. Menschen haben ein Bedürfnis danach, dass Dinge so und nicht anders sein können. Intelligenztests sagen zum Beispiel wenig über das wirkliche Potenzial eines Menschen aus. Sie sagen, in den Worten Ellen Langers, nichts anders, als wie schnell jemand von Punkt A nach Punkt B gelangt.141 Und dennoch werden sie zur Grundlage von fundamentalen Aussagen benutzt.
Ein anderes aussagekräftiges Experiment wurde lange vor der Wikipedia-Zeit mit Studierenden in Harvard durchgeführt. Den Studenten und Studentinnen wurde eine Aufgabe gestellt, in der sie ausgehend von dargebotenen Fakten sich Gedanken über Stadtentwicklung machen sollten. Wie bei dem vorangegangenen Versuch wurden ihnen die Fakten entweder als absolute Aussage oder als Möglichkeiten präsentiert, wobei in beiden Fällen diese angeblichen Fakten Widersprüche aufwiesen. Die Gruppe, denen die Fakten als Möglichkeiten und nicht als absolute Tatsachen vorgestellt wurden, fand kreative Lösungswege, während die andere Gruppe versagte. Ein Hinweis darauf, wie die Wissenschaftler bemerken, dass die Lehre in Schulen und Universitäten sehr viel mehr mit Unsicherheiten als mit vermeintlichen Sicherheiten operieren sollten.
Ein ganz einfaches Experiment war das »Lehrbuch-Experiment«.142 Die Wissenschaftler nahmen sich das Prüfungsmaterial für eine der wichtigsten Examensprüfungen in der Finanzwissenschaft vor. Alles, was sie taten, war, jede Aussage, die absolut formuliert war, etwas bedingter auszudrücken, zum Beispiel wurde aus: »Kommunalobligationen werden von Einzelstaaten ausgegeben« die Version »In den meisten Fällen werden Kommunalobligationen von Einzelstaaten ausgegeben«. Die Versuchspersonen waren Harvard-Studenten, die in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Die eine Gruppe bekam den absoluten Text, die andere die flexiblere Version.
Beim »Multiple choice« schnitten beide Gruppen ungefähr gleich gut ab, aber dort, wo die Informationen kreativ umgesetzt werden sollten, war »die Gruppe, die sich mit der flexibleren Information auseinandergesetzt hatte, der anderen Gruppe deutlich überlegen«.143
Das Erstaunliche ist, dass die Forscher positive Effekte unsicherer Information in vielen konkreten, vor allem medizinischen Fällen nachweisen konnten. Es ist, wie Ellen Langer in einem schönen Bild formuliert, wie der Unterschied zwischen einer analogen und einer digitalen Uhr.Wenn Sie jemanden mit einer digitalen Uhr nach der Uhrzeit fragen, wird er Ihnen meist die absolut korrekte Zeit nennen. Bei der analogen Uhr tauchen vage Formulierungen auf wie »kurz nach«, »gleich ist es« usw.144
Sogar für die körperliche Regenerationsfähigkeit macht es manchmal einen großen Unterschied, ob medizinische Diagnosen als Information oder Möglichkeit weitergegeben werden. Worte wie »vielleicht« oder »womöglich« spielen dabei eine Rolle, doch sind die meisten Menschen nicht mehr in der Lage, darin offene Möglichkeiten zu erkennen. Die beiden französischen Psychologen Jean-François Bonnefon und Gaëlle Villejoubert haben in einer Studie Ärzte aufgefordert, sich sehr viel klarer über die Grenzen ihres Wissens zu äußern. Es stellt sich bei ihren Experimenten heraus, dass ein einfaches »vielleicht« nicht ausreicht, um Unsicherheit auszudrücken. Werden Menschen harmlose Diagnosen gestellt (»Sie werden vielleicht nicht schlafen können«), interpretieren sie die Einschränkung als Möglichkeit, oft sogar als Unwahrscheinlichkeit. Bei ernsten Diagnosen (»Sie werden vielleicht taub werden«) empfinden Menschen das »vielleicht« als einen Ausdruck des Takts und der Höflichkeit und neigen dazu, das Allerschlimmste zu befürchten.145
Unser Glaube daran, dass unser Leben eine berechenbare Information ist, hat Folgen: Die »Aufmerksamkeitsdefizite« betreffen uns selbst und die Art, wie wir uns sehen.
Seit den siebziger Jahren sucht Ellen J. Langer nach einem Ausweg aus unserem selbstgebauten Gefängnis.Von ihr stammt das Experiment mit der Augentafel, und es ist nur eines von vielen, die zur Grundlage ihrer Theorie von »Mindfulness« wurden.146 Eines von Langers spektakulärsten Experimenten ist die »Counter-Clockwise«-Studie. Wörtlich: »Die Gegen-den-Uhrzeigersinn-Untersuchung«. Wir werden sie uns nachher genauer anschauen. Im Kern geht es um Folgendes: Wir können die Informationsflut nicht bändigen, aber wir können lernen, ohne Ich-Erschöpfung aufmerksam zu werden. Wir können ohne Anstrengung und auch ohne meditative oder mystische Verfahren den Muskel Selbstkontrolle stärken. Und dies gelingt im besten aufklärerischen Sinne durch Denken und Perspektivwechsel. Langer nennt das »Mindfulness«, was in Deutschland mit »Achtsamkeit« übersetzt wird, aber der von allen pädagogischen Ermahnungen befreite Begriff »Aufmerksamkeit« trifft es besser.
Langers Arbeit ist untrennbar mit dem Aufkommen der Computer verbunden. Sie war eine der Ersten, die ihre Bedeutung klar erkannte, und bis heute hält sie es für undenkbar, dass wir auf Computer verzichten. Eben deshalb - weil die Antwort nicht Abschaffung sein kann - plädiert sie umso nachdrücklicher dafür, dass wir Wege finden müssen, um dem Zwang von Berechenbarkeit,Vorhersage und Kontrolle zu entgehen.
Menschen können »geweckt« werden, sie reagieren, wenn sie mit einer anderen Perspektive konfrontiert werden. Sie sind bereit, ihre eigenen Annahmen infrage zu stellen und neu zu denken. Das allerdings setzt voraus, dass sie begreifen, dass keine Information Ungewissheiten beseitigt, sondern dass Ungewissheiten die Voraussetzung ihrer Freiheit ist.