DAS NEUE HIRN

IMAGE er erste Computer stand beim Militär. Er kümmerte sich um Aufklärung im buchstäblichen Sinn: um Luftverteidigung und Artillerievorausberechnungen. Dann tauchten ein paar bei den Banken auf. In den siebziger Jahren eroberten sie die Universitäten und die Medizin. Dann zog er in die Praxen ein, und überall, wo er angeschlossen wurden, veränderte er die Menschen, die mit ihm arbeiteten. Mittlerweile steht in jedem zweiten Kinderzimmer einer.

Im Jahr 1923 schenkte ein Unbekannter einem kleinen elfjährigen Jungen zu Weihnachten ein Kinderbuch. Es hatte 365 Seiten und viele Bilder von Käfern, Gehirnen und Dinos. Das Buch hieß »Wunder der Natur, die jedes Kind kennen sollte«, und es war, wie wir heute wissen, eines der folgenreichsten Weihnachtsgeschenke der Weltgeschichte. Der pädagogisch befeuerte Verfasser, ein Dr. Edwin Brewster, wollte im Stil einer Wikipedia der Jahrhundertwende Kindern das Wissen der Natur und der Technik des Lebens vermitteln.7 Der kleine Junge las begeistert wie niemals wieder in seinem Leben. Noch nach vielen Jahren, längst ein Erwachsener und im Begriff, mit seinen Gedanken die Welt zu revolutionieren, schrieb er seiner Mutter, dass kein Buch ihn mehr beeinflusst habe als Dr. Brewsters Enzyklopädie.8

Brewsters Buch war erstaunlich ambitioniert. Kapitelüberschriften lauteten »Wo wir denken«, »Was Pflanzen wissen«, »Über Sprechen und Denken« und »Sehen ist Glauben«, eine Beschreibung optischer Täuschungen. Er erklärte, warum Papageien, die reden können, trotzdem nicht verstehen, was sie sagen, und führte als Beweis an, dass sie ja auch niemals miteinander reden würden. Entscheidend für das Naturverständnis Brewsters waren zwei Stellen. Er verglich den Menschen mit einer Maschine, die nach den gleichen Algorithmen arbeitet wie ein Motor. Und er beschrieb die biologische Notwendigkeit von Aufmerksamkeit, die die Voraussetzung von Denken ist. »Natürlich ist der Körper eine Maschine«, heißt es, »es ist eine unglaublich komplizierte Maschine, viel, viel komplizierter als irgendeine Maschine, die je von Menschenhand gebaut wurde, aber es ist immer noch eine Maschine. Sie ist mit der Dampfmaschine verglichen worden. Aber das war, bevor man so viel wusste, wie man heute weiß. In Wahrheit ist sie ein Benzinmotor, wie beim Auto, Motorboot oder dem Flugzeug«.

Und über die Aufmerksamkeit: »Verstehst Du jetzt, warum Du fünf Stunden am Tag zur Schule gehen musst, auf einem harten Stuhl sitzt und noch härtere Aufgaben lösen musst, während Du lieber schwimmen gehen würdest? Das geschieht, damit Du diese Denk-Punkte in Deinem Gehirn aufbaust… Wir fangen jung an, während das Hirn noch wächst. Jahr für Jahr bauen wir durch Lernen und Arbeit ganz langsam diese Denk-Punkte über unserem linken Ohr auf und benutzen sie für den Rest unseres Lebens. Wenn wir erwachsen sind, können wir keine neuen Denk-Punkte mehr formen.«9

Der kleine Junge war Alan Turing, einer der größten Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts und ohne Zweifel der legitime Erfinder des Computers. Brewsters Buch war der Baukasten seines späteren Denkens: Die Vorstellung, dass der Mensch eine Maschine sei, ist Voraussetzung für die Frage, ob dann nicht umgekehrt Maschinen wie Menschen denken können. Und die Erkenntnis, dass nicht-papageienhafte Intelligenz sich in Kommunikation ausdrückt, ist die Voraussetzung für die Einsicht, dass die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine über die Zukunft der Intelligenz entscheidet. Es ist paradox, dass der Mann, der die Grundlagen für intelligente Maschinen legte, gleichzeitig unfreiwillig derjenige war, der, um mit Brewster zu reden, die »Denkpunkte« im menschlichen Hirn schwächte, weil seine Entdeckung die Aufmerksamkeit und das Denken des Menschen fundamental veränderte. Der kleine Junge, der dort aufgeregt und ergriffen in einem Kinderbuch liest, ist ein Musterbeispiel dafür, wie Kinder zu Raketentreibsätzen der Evolution werden. »Eine neue Generation ist ein neues Hirn«, hat Gottfried Benn gesagt, und manchmal baut sie auch neues.

Wie die beiden Jungen Sergej Brin und Larry Page, die siebzig Jahre nach Alan Turing mit Lego spielen und eines Tages daraus ein Kasten bauten, der nichts weniger war, als der erste Server der Welt.

Aus diesem bunten Legoturm wurde innerhalb von nicht einmal fünf Jahren Google, das wertvollste Unternehmen der Welt, das in einem einzigen revolutionären Siegeszug Verlage, Zeitungen,Wissenschaften, Schulen und Hochschulen, Börsen und die Kultur in den Grundfesten erschütterte. Generationen von Kindern haben mit Lego gelernt, dass Gedanken zu Bauplänen und Baupläne zu Materie werden können. Sie haben instinktiv gelernt, was Algorithmen sind, wenn sie die Steine sortierten oder ein Haus bauten. Brin und Page haben die Baupläne mit der universellen Grammatik digitaler Kommunikation ersetzt, die den Legoturm nicht nur zu einem Gegenstand der sichtbaren Welt macht, sondern auch zu einem Leuchtturm der unsichtbaren Welt der Gedanken. Das ist das Hirn, das die Bibliothek von Babel steuert. Nicht aus den Laboratorien und Managementseminaren, sondern aus dem Kinderzimmer kommt die letzte große kognitive Wende der Menschheit. Und noch heute dankt Google mit seinen Farben und den Bausteinen, die in allen Google-Niederlassungen der Welt herumliegen. seiner großen Inspiration. Ihr nächstes Ziel, so sagte Larry Page vor ein paar Jahren, sei es, ein weltumspannendes Gehirn für die Menschheit zu bauen.

»Google ist Turings Kathedrale, und sie wartet auf eine Seele« - mit fast religiöser Inbrunst hat der nüchterne George Dy-son seinen Besuch im Googleplex beschrieben. Bilder von Golden Retrievern, die in Zeitlupe durch Springbrunnen laufen, Menschen, die winken und lächeln, und überall Spielzeug.10 So, das sagen übereinstimmend alle, die Google vor dem Börsen-gang besucht haben, muss es gewesen sein, als im antiken Griechenland das Denken und im zwölften Jahrhundert in Europa die ersten Kathedralen gebaut wurden. Es ist keine Übertreibung. Es mag heute Google und morgen ein anderes Unternehmen sein. Aber der Legoturm als Kathedrale des neuen kognitiven Zugangs zur Welt bleibt stehen.

Man kann nicht einmal ahnen, was es bedeutet, wenn in den nächsten Jahren eine Generation auf der Bildfläche erscheint, die Gedanken, neue Ideen und Lebensformen aus dem vorhandenen Wissen so selbstverständlich zusammensetzt, wie Brin und Page ihren Legoturm zusammensetzten. Aber das ist nur die eine Variante. Die andere ist die Frage, wie sie mit all dem auf der Welt umgehen, das nicht aus Bausteinen besteht.

Die Generation der heute 18-Jährigen kennt keine Welt ohne Computer. Können sie unsere Überforderung mit der Informa-tionsflut nachvollziehen? Spüren sie sie überhaupt? Haben sie ein ganz anderes Selbstverständnis? Sind ihre Gehirne also bereits anders verdrahtet als die ihrer Eltern?

Die elektronische Nabelschnur, die jede neu heranwachsende Generation von Kindern mit dem Computer verbinden wird, ist die Maus. Sie hat die Verständigung zwischen Menschen und Computern revolutioniert, und die Geschichte der Technik kennt keinen zweiten Fall, wo der Gebrauch einer neuen Technologie auf das Zeigen zurückgeführt werden konnte - einer menschlichen Urgeste, die vor aller Sprache existierte. Seit der Erfindung der Maus gilt für die Entwicklung der Computer, in den Worten George Dysons, nur noch ein darwinistisches Gesetz: »Die natürliche Auslese begünstigt jetzt auf Gedeih und Verderb Maschinen, die besser mit Kindern kommunizieren können, und Kinder, die besser mit Maschinen kommunizieren können.«11

Es ein Mythos, dass sich hinter den Plagen mit dem digitalen Lebensstil ein Generationenkonflikt verbirgt. Teenager, Erwachsene, Senioren: Wir sitzen alle im gleichen Boot.

Und es ist falsch, jeden unter 25 für ein Computer-Genie zu halten. Die Erfolgsrate bei Teenagern, die von einer Website ein Programm installieren sollten, liegt beispielsweise bei fünfundfünfzig Prozent; zehn Prozent niedriger als bei Erwachsenen.

Eine Nielsen-Studie aus dem Jahr 2005 nannte dafür drei Gründe: ungenügende Lesefähigkeit, ungeschickte Suchstrategien und vor allem eine dramatisch geringe Geduldsspanne bei den jungen Menschen.

Dass wir junge Leute mit Computer-Intelligenz assoziieren, hat mit einer optischen Täuschung zu. Die meisten Leute, die Websites betreuen oder erfolgreiche Blogs schreiben, befinden sich an der Spitze des technologischen Fortschritts. Sie sind »Early Adopters«, frühe Anwender. Diese Leute sind laut der Nielsen-Studie gut ausgebildet, sehr intelligent und verbringen viel Zeit online: »Diese Teenager kennen meist nur andere Teenager, die ihr Interesse teilen. Aber diese oberen 5 Prozent sind nicht repräsentativ für die Masse.«12

Kurzum: Wir sind tatsächlich alle betroffen. Wir alle haben zunehmende Probleme, ein Buch zu lesen. Und die Bücher sind nur ein Indiz. »Ich ahne, dass es um viel mehr geht«, schreibt die Internet-Literaturkritikerin Lara Killian, »passen sich unsere Gehirne an, oder sind wir im Begriff, wesentliche kognitive Fähigkeiten zu verlieren?«13 Diese Unfähigkeit ist nicht, wie häufig angenommen, eine Frage des Alters und keine Sache der »digital natives« (derjenigen, die keine Welt ohne Internet und Handy kennen), und ich kann Sie beruhigen: Wir brauchen gar nicht erst die alte Platte von der neuen Dummheit der nachfolgenden Generationen aufzulegen.

Auch die Zeitspannen, die Jugendliche angeblich mit den digitalen Medien verbringen, werden von Erwachsenen locker überrundet. Vergleicht man den Computerspiel-Konsum eines durchschnittlichen Jugendlichen mit der Zeit, die ein Manager täglich an den Tasten seines Blackberry herumspielt, um nach aktuellen Nachrichten zu suchen, wird man auf vergleichbare Zeiten stoßen.

2009 berichtet der Internet-Star Bob Cringely von Freunden, deren sechzehnjährige Tochter namens Echo in einem Monat 14000 SMS entweder empfangen oder versendet hat, was bei ihren Eltern kein Kopfzerbrechen über die finanziellen Kosten - Echo hat einen guten Tarif -, sondern über die Zeit-Kosten auslöste.

Cringely: »Wenn ein typischer Monat 30 Tage hat, also 720 Stunden, von denen wir annehmen können, dass Echo davon ein Drittel schläft, hat sie 480 Stunden zum SMSen pro Monat. 14000 SMSe (eigentlich waren es mehr, aber wir runden es der Einfachheit halber ab) geteilt durch 480 Stunden entsprechen 29 SMSe pro Stunde oder eine SMS alle zwei Minuten.«14

Das ist aber noch nicht alles. Echo muss die SMS nicht nur lesen, sie muss sie auch beantworten, wobei sie für das Schreiben ungefähr doppelt so lange braucht wie für das Lesen. »Der durchschnittliche Teenager braucht ungefähr 20 Sekunden zum Tippen, was bedeutet, dass Echo ungefähr ein Drittel ihres wachen Daseins mit simsen verbringt .«

Das klingt ungeheuerlich. Dramatisch. Ausufernd. Nach Sucht - auch in meinen Ohren. Jedoch: Wie ein Selbstversuch mit Stoppuhr zeigt, könnte ich mit Echo mithalten.

Die einzigen Revolutionäre auf unserem Planeten sind offenbar kleine Kinder. Sie begehren systematisch gegen die Technik-Fixiertheit ihrer Eltern auf, wie die Journalistin Katherine Rosman im »Wall Street Journal« nach Interviews mit vier- bis siebenjährigen Mädchen und Jungen berichtete. Sie spüren, dass die Computer die Aufmerksamkeit ihrer Eltern fressen und nichts mehr für sie übrig bleibt. Allerdings nur, solange ihre natürlichen Instinkte noch wach sind.

Fünfjährige verstecken Blackberrys oder spülen sie die Toilette hinunter, damit ihre Eltern mit ihnen reden. Sie verordnen E-Mail-freie Zonen und ertappen ihre Eltern dabei, wie sie unter dem Tisch heimlich E-Mails abschicken.

»Meine Mutter hat eine kurze Aufmerksamkeitsspanne«, erzählt auch die vierzehnjährige Emma, deren Mutter bei den Prüfungsvorbereitungen ihrer Tochter für die High School statt sie abzuhören »Solitaire« spielte.

Selbst Ältere missbilligen es also, wenn die Kommunikation durch den Computer gesteuert wird, besonders da, wo es ihnen am wichtigsten ist - in der Familie. Die siebzehnjährige Christina Huffington, Tochter der Mitbegründerin der »Huffington-Post« Arianna Huffington, berichtete, dass ihre Mutter immer, selbst während der »Hinabschauender-Hund«-Stellung beim Yoga, den Blackberry benutze: »Ich hatte den Eindruck, dass sie mir niemals zuhört«, so die Tochter, die daraufhin einen Familientherapeuten einschaltete. Woraufhin ihre Mutter ihr einen Blackberry schenkte, damit sie beide besser miteinander kommunizieren konnten.15