20. KAPITEL

Sara überstand die erste Woche erstaunlich gut. Tagsüber gab es so viel Arbeit und so viele Diskussionen unter den Frauen über die Aufgabenverteilung, dass kaum Zeit zum Luftholen blieb.

Dennoch sah sie Gideon oft genug, um an ihre eine gemeinsame Nacht erinnert zu werden. Er holte ihren Rat über die Gestaltung der Häuser ein. Wann immer er etwas von den Frauen benötigte, kam er erst zu ihr, und sie ermittelten gemeinsam viele Stunden lang die beste Verwendung ihrer geringen Mittel.

Sie fand auch genügend Vorwände, um ihn aufzusuchen. Am meisten schalt sie sich dafür, dass sie ihm gern bei der Arbeit zusah, wenn seine Muskeln vor Schweiß in der warmen Sonne glänzten. Er aß mit ihr unter den Bäumen zu Mittag und bot ihr Bananen an, die sie jetzt gern mochte, und große Stücke Schweinefleisch, die auf Silas’ behelfsmäßigen Spießen geröstet worden waren. Manchmal streifte Gideon Sara versehentlich mit den Fingern.

Gideons Rückzug hätte alles leichter machen sollen. Doch das war nicht der Fall. Nachts lag sie wach und dachte an ihn. Manchmal schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie seine Finger über ihre Schultern, Brüste und Hüften glitten. Manchmal unterstützte sie ihre Phantasie dadurch, dass sie sich selbst berührte. Das war das Allerschlimmste, dass er sie dazu gebracht hatte, sich so ruchlos zu verhalten.

Die zweite Woche wurde härter. Es war eine gewisse Routine eingekehrt. Jeder erledigte die Aufgaben, für die er am besten geeignet war, und alle arbeiteten fleißig daran, Atlantis wieder aufzubauen. Daher musste weniger entschieden werden, und Sara hatte weniger Vorwände, Gideon aufzusuchen. Außerdem ließ er manchmal die Mittagspause ausfallen.

Dennoch war sie sich seiner immer bewusst, selbst wenn er die Häuser plante oder das Fällen der Bäume überwachte. Sie dachte sich Gründe aus, um ihn zu sehen, und dann fand sie Entschuldigungen dafür, dass ihre Gründe äußerst fadenscheinig waren. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn versehentlich berührte, seinen Arm, seine Schulter oder seinen Ellbogen. Das wollte sie natürlich nicht, es geschah einfach. Doch wenn es geschah, erstarrte er und sah sie so verlangend an, dass sie rasch die Hand fortzog.

Eines Abends brachte er ihr Geschenke - eine Duftseife, etwas Satin für eine Haube, eine leuchtend orangefarbene Koralle, die er beim Speerfischen mit den Männern gefunden hatte. Er schenkte ihr nie etwas, das er gestohlen hatte, und bei diesem Gedanken wurde ihr immer ganz warm ums Herz, da er ja Mengen an Juwelen hatte, die er ihr hätte geben können.

Er ging mit ihr auch auf dem Deck spazieren und sprach über seine Hoffnungen, die er hinsichtlich der Insel hegte. Trotz ihres Vorsatzes, sich von seinen Worten nicht beeindrucken zu lassen, gelang ihr das nicht. Seine Träume von einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen frei von den Grausamkeiten einer nach absoluter Macht strebenden Regierung arbeiten und leben konnten, einer Gesellschaft, in der Verbrechen angemessen bestraft wurden und Menschen wie Ann nicht das entbehren mussten, was sie am meisten brauchten, begeisterten Sara.

Die schlimmsten Momente an den Abenden waren die, wenn Gideon sie zur Tür ihrer Kabine begleitete. Insgeheim hoffte sie, dass er sie küssen würde, und war dann enttäuscht, wenn er es nicht tat. Später, wenn sie im Bett lag, gaben ihr ihre Phantasien das, was das Leben ihr vorenthielt. Zuerst erinnerte sie sich an seine kühnen Berührungen. Dann träumte sie von seinem Mund auf ihrem. Erst durchlebte sie die Küsse noch einmal, danach stellte sie sich vor, wie er mit den Lippen ihre Brüste, ihren Bauch und sogar ihre intimste Körperstelle liebkoste.

Derartige Vorstellungen waren entsetzlich skandalös und beschämten sie sehr.

Manchmal erwachte sie sogar davon, dass sie ihren Körper in wollüstiger Art berührte, wie sie sich das nie hätte träumen lassen. Nachts verzehrte sie sich vor Sehnsucht nach ihm. Tagsüber kreisten ihre Gedanken um ihn. Doch Gideon - verflucht sei dieser Mann - schien entschlossen zu sein, sich ihr auch weiterhin nicht zu nähern.

Gegen Ende der dritten Woche änderte sich das jedoch. Gideon begann, sie zu berühren, als sie es am wenigsten erwartete. Scheinbar absichtslos strich er ihr das Haar aus dem Gesicht oder fasste sie am Arm, um sie morgens über die bewegliche Brücke an Land zu führen. Als sie nun wieder regelmäßig zusammen aßen, schien er sich ein Vergnügen daraus zu machen, „versehentlich“ ihre Brüste zu streifen, wenn er sich vorbeugte, oder er setzte sich so dicht neben sie, dass sich ihre Beine bei jeder Bewegung berührten.

Wenn sie stark gewesen wäre, hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass er sein Versprechen nicht einhielt. Doch sie sehnte sich viel zu sehr nach seinen Zärtlichkeiten, als dass sie ihn hätte tadeln wollen. Sie lebte für diese verstohlenen Berührungen, freute sich übermäßig über seine Geschenke und darüber, dass er sie oft um ihre Meinung bat.

Weit schlimmer war jedoch, dass ihre nächtlichen Phantasien nun aus schamlosen Erinnerungen daran bestanden, wie er sie geliebt hatte. Sie versuchte längst nicht mehr, diese Phantasien zu unterdrücken, sondern gab sich ihnen ganz hin. Und ihre Hände - ihre hinterhältigen, ruchlosen Hände - ließen sich nicht mehr kontrollieren.

Leider konnten sie das heiße Verlangen nach seinen Liebkosungen nicht stillen. Wie sehnte sie sich danach, ihn in sich aufzunehmen, um jene höchst lustvollen Empfindungen zu spüren, aber auch das Glück und die Geborgenheit, zu ihm zu gehören.

Diese Gedanken beherrschten sie am letzten Morgen der dritten Woche. Es war so früh, dass es noch nicht einmal dämmerte. Sie verließ das stille Schiff, weil sie einen Ort zum Nachdenken brauchte, und ging am Strand entlang zum Fluss. |

Einige Regeln waren für die kleine Kolonie aufgestellt worden. Eine betraf das Baden. Da das Flusswasser am frühen Morgen noch sehr kalt war, war den Frauen das Baden am frühen Nachmittag Vorbehalten, den Männer hingegen am späten Nachmittag, nachdem sie ihre Tagesarbeit beendet hatten. Diese Regelung sicherte den Frauen die Privatsphäre zu, die sie sich wünschten.

Deshalb war Sara erstaunt, als sie beim Erreichen des

Flusses Gideon nackt im kalten Wasser stehen sah. Schnell versteckte sie sich hinter einem Baum.

Kam er jeden Morgen hierher? Und warum? Schließlich war das Wasser tagsüber doch viel wärmer.

Stör ihn nicht, befahl sie sich selbst streng. Doch ihre erotischen nächtlichen Träume beherrschten sie noch immer. Sie konnte jetzt einfach nicht fortgehen. Verstohlen beobachtete sie ihn.

Der Fluss war so flach, dass ihm das Wasser nur bis zu den Knien reichte. Er stand mit dem Rücken zu ihr, als er Wasser schöpfte und es sich über den Körper rinnen ließ. Er sah phantastisch aus. Das dunkle Haar hing ihm tropfnass über den breiten muskulösen Rücken, der feste Po spannte sich bei jeder Bewegung an und die behaarten Beine waren leicht gespreizt, damit er auf dem kiesbedeckten Flussbett das Gleichgewicht halten konnte.

Während sie ihn betrachtete, stieg Hitze in ihr hoch. Was würde er wohl machen, wenn sie hinter dem Baum hervortrat und sich ihm in die Arme warf? Nein, das durfte sie nicht tun.

Plötzlich drehte er sich um. Sie unterdrückte ein Keuchen. Lieber Himmel. Er war erregt. Jetzt murmelte er etwas vor sich hin, während er sich zornig mit einem Lappen die Brust abrieb.

Dann umfasste er zu ihrem Entsetzen sein Glied und begann, es zu streicheln. Sie befahl sich, sofort zu verschwinden, doch sie blieb wie gebannt auf dem Waldboden stehen. Ihr Atem ging schneller. So schaffte er es also, sich von ihr fern zu halten, während sie sich danach verzehrte, ihn in ihrem Bett zu haben.

Doch wenn das so war, warum wirkte er so ungehalten? Warum waren seine Bewegungen fast gewalttätig, als könnte er sich gar nicht hart und schnell genug streicheln? Vielleicht ging es ihm ja genauso wie ihr. Sich selbst zu berühren war genauso nutzlos, wie es nutzlos gewesen war, Wasser auf die brennenden Hütten zu schütten. Es hatte nie gereicht.

Und plötzlich schaute er auf und sah sie. Sein Blick glitt über sie, wild, hungrig, verlangend. Einen Moment lang stand sie wie erstarrt da, den Mund leicht geöffnet, die Augen weit aufgerissen.

Dann geriet sie in Panik. Beschämt schrie sie auf, raffte die

Röcke und eilte davon. Nur weg von hier, weg von Gideon, der sie ertappt hatte, wie ihr Blick begehrlich auf seinem Körper geruht hatte.

Als sie am Strand entlanghastete, verdammte sie sich selber für ihre Schwäche. Wäre sie nur nicht zum Fluss gegangen. Sie hätte ihn auch nicht beobachten sollen oder . . . oder sich selbst berühren dürfen. Sobald sie gesehen hatte, was er machte, hätte sie sich davonstehlen müssen. Da er sie gesehen hatte, wusste er nun um ihr entsetzliches Geheimnis - dass sie genauso heftig nach ihm verlangte wie er nach ihr.

Sie hetzte den Laufsteg zur Satyr entlang, vorbei an den Piraten, die an Deck geschlafen hatten und sie jetzt neugierig musterten. Sie sah sich um, weil sie fürchtete, dass Gideon ihr folgte. Doch zum Glück war er nicht zu sehen.

Dennoch fühlte sie sich erst sicher, als sie ihre Kabine erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Und selbst dann dauerte es noch eine Weile, ehe sich ihr wild klopfendes Herz beruhigte und sie nicht mehr auf das Geräusch seiner Schritte vor ihrer Tür horchte.

Den ganzen Tag über ging sie ihm aus dem Weg. Nach dem, was sie gesehen hatte, wagte sie nicht, ihm unter die Augen zu treten. Sie beschäftigte sich auf dem Schiff und half den Frauen dabei, die Schlafmatten zum Lüften aufs Oberdeck zu bringen. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab zu Gideon, und erotische Bilder quälten sie.

Was war bloß mit ihr los? Warum musste sie in jedem wachen Augenblick an diesen Mann denken, obwohl er sie ja kaum mehr berührte? Das war einfach nicht fair.

Am Spätnachmittag konnte sie es nicht mehr ertragen. Sie machte sich auf die Suche nach Louisa in der Hoffnung, dass sie ihr mit ihrer scharfen Zunge den Kopf zurechtsetzen würde. Louisa mochte Gideon nicht. Sie würde Sara all seine Fehler aufzählen, und das war genau das, was Sara jetzt brauchte.

Als sie Louisa in der Kombüse suchte, fand sie nur Silas vor. Er legte gerade einen riesigen Brotteig auf die bemehlte Tischplatte.

„Louisa“, begann er und sprach nicht weiter, als er Sara erkannte. „Ach, Sara, Sie kommen gerade zur rechten Zeit“, sagte er in seiner gewohnt direkten Art. „Kneten Sie doch bitte den Teig. Ich muss aufpassen, dass das Fleisch nicht anbrennt. “

„Wo ist Louisa?“

Er zuckte mit den Schultern. „Was weiß denn ich? Ich schätze, dass sie bald zurückkommt, aber dieser Teig muss jetzt geknetet werden. Louisa verschwindet immer, wenn ich sie brauche.“

Sein Brummein vermochte Sara nicht zu täuschen. Silas war in Louisa verliebt. Die beiden waren ja in den letzten beiden Wochen unzertrennlich gewesen.

„Los, Mädchen, helfen Sie mir bei dem Teig“, wiederholte Silas und winkte sie zum Tisch heran.

„Ich weiß nicht, wie man das macht.“ Zu Hause hatten die Dienstboten solche Dinge erledigt. Doch da es auf Atlantis keine Dienstboten gab, hatte sie schon so viel Neues gelernt, was sie nie zuvor gebraucht hatte.

Heute wollte sie aber gar nichts lernen . . . höchstens, wie sie Gideon aus ihren Gedanken vertreiben konnte.

„Teigkneten ist ganz einfach“, sagte Silas, ohne auf ihren Protest zu achten. Er schlug auf den Teigklumpen ein, bis er flach wurde, faltete ihn zusammen und wiederholte das Ganze. „Sehen Sie?“

„Aber ich werde ihn verderben.“

„Unsinn.“ Er umfasste ihren Arm mit mehligen Fingern und zog sie zum Tisch. „Sie können ihn nicht verderben. Je mehr Sie ihn schlagen, desto besser. Je kräftiger Sie ihn bearbeiten, desto mehr wird er aufgehen. Glauben Sie mir.“

Skeptisch betrachtete sie den Teig, doch dann machte sie es Silas nach, erst vorsichtig und dann mit mehr Zutrauen. Und er hatte ja gesagt, dass sie draufschlagen solle.

Während sie weiter knetete, wanderten ihre Gedanken wieder zu Gideon. Was sollte sie bloß tun? Wie konnte sie mit der Sehnsucht fertig werden, die sie in seiner Nähe ständig fühlte? Das sollte ehrbaren Frauen nicht passieren. Dass Männer Frauen begehrten war ja ganz natürlich, aber nur gefallene Frauen spürten auch nach Männern ein solches Verlangen. Jedenfalls hatte man sie das gelehrt. Doch langsam zweifelte sie an allem, was sie in dieser Beziehung gelernt hatte.

Warum sonst konnte sie so viel Freude in den Armen eines Piraten empfinden?

Er hatte ihr gesagt, dass Sie ihn bitten müsse, sie zu berühren. Das war unvorstellbar für sie. Aber vielleicht mochte er sie ja gar nicht mehr, vielleicht hielt er den Umgang mit einer Adligen längst für Zeitverschwendung. Der bloße Gedanke ließ sie vor Angst erstarren.

Sie bearbeitete den Teig mit wilden Schlägen. Es war egal, was Gideon von ihr hielt. Sie würde ohne ihn nach London zurückkehren. Das war unvermeidlich.

Silas' Stimme unterbrach sie. „Moment mal, Mädchen. Ich habe zwar gesagt, dass Sie den Teig tüchtig schlagen sollen, aber Sie übertreiben es ein wenig.“

„Es tut mir Leid. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. “

Er nahm ihr den Teig weg, wälzte ihn in Fett und gab ihn in eine Brotform. „Ja, und wahrscheinlich an unangenehmen Orten. Was regt Sie denn so auf?“

Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. „Nichts . .  Wichtiges.“

Er begoss das Fleisch weiter mit Soße. „Es geht doch sicher um unseren guten Captain? Er macht Ihnen wieder Kummer.“

„Ja . . . nein. Nicht, wie Sie denken.“ Als er sie forschend ansah, drehte sie ihm den Rücken zu und fingerte am Schloss der Kombüsentür herum. „Er ... er ist immer sehr höflich.“

„Und das stört Sie?“

„Nein, natürlich nicht. Ich weiß einfach nicht. . .was ich davon halten soll. Manchmal glaube ich, dass er mich überhaupt nicht leiden kann. Und dann wieder ..."

Dann wieder liebt er mich leidenschaftlich und zärtlich. Doch das konnte sie Silas ja nicht sagen.

„Sicher ist, dass der Mann Sie nicht verabscheut“, bemerkte Silas ruhig. „Gideon hat lediglich Schwierigkeiten, einer Frau zu vertrauen. Und vor allem einer Frau Ihrer Herkunft.“

Da war wieder dieser schreckliche Ausdruck - Ihrer Herkunft. Sie wirbelte herum. „Aber warum hasst er denn .meinesgleichen so sehr? Wer von meinesgleichen hat ihn denn verletzt?“

Langsam legte Silas die Schöpfkelle ab und sah Sara einen Moment lang an, während er sich nachdenklich über den Bart strich. „Wenn ich Ihnen erzähle, was ich weiß, werden Sie es für sich behalten?“

Sie nickte heftig.

Er deutete auf einen Stuhl. „Dann setzen Sie sich lieber,

Mädchen. Es ist eine unangenehme und lange Geschichte. Aber ich denke, dass Sie sie hören sollten.“

Sie nahm an dem zerkratzten Tisch Platz und blickte Silas erwartungsvoll an.

„Seine Mutter“, sagte er, „hat ihn verletzt.“

Verständnislos sah Sara Silas an. „Wie meinen Sie das?“ „Gideons Mutter war die Tochter eines Duke. Eine sehr reiche Frau, die einer sehr mächtigen englischen Familie angehörte.“

Ein entsetzliches Gefühl stieg in ihr auf. Gideon war Engländer? Und seine Mutter war eine Adlige gewesen? Gideons Mutter?

„Das scheint Sie zu überraschen.“ Silas nahm seine Pfeife, füllte sie mit Tabak aus einem Beutel, den er in seiner Westentasche verwahrte. „Das ist nicht weiter verwunderlich. Schließlich sind Piraten kaum ihrer hochwohlgeborenen Herkunft wegen bekannt.“

„Aber wieso . . .? Wer . . .?“

Silas hielt einen Strohhalm ins Feuer und zündete damit die Pfeife an. „Ich kann Ihnen das Wieso erklären. Das Wer ist nicht ganz so klar, und am wenigsten für ihn. “ Silas warf den Strohhalm ins Feuer und paffte seine Pfeife. „Er hat mir die Geschichte einmal erzählt, als er betrunken war. An jenem Tag haben wir ein Schiff gekapert, auf dem eine alte Frau namens Eustacia mitfuhr.

Als er ihren Namen hörte, erschütterte ihn das so sehr, dass er zur Flasche griff. Wahrscheinlich ist Ihnen schon aufgefallen, dass Gideon nicht viel trinkt. Ich vermute, dass er Angst hat, einmal so zu enden wie sein Vater. Jedenfalls erzählte er mir damals, dass seine Mutter Eustacia hieß. Zumindest hatte seih Vater ihm das gesagt, als er betrunken gewesen war. “ „Gideon hat mir ein wenig von seinem Vater erzählt. Das muss ja ein entsetzlicher Mann gewesen sein.“

„Ja, das war er auch. Gideon hasste ihn. Aber seine Mutter hasste er noch mehr. Er warf ihr vor, ihn bei diesem schlimmen Vater zurückgelassen zu haben.“

„Das verstehe ich nicht ganz. Wie konnte die Tochter eines Duke einen Mann wie Gideons Vater kennen lernen? War sein Vater nicht Amerikaner?“

„Nein. Sein Vater war englischer Abstammung genauso wie

Sie. Offenbar war er Eustacias Lehrer. Er muss recht viel Charme gehabt haben, da er sie dazu bringen konnte, mit ihm durchzubrennen.“ Silas’ Miene wurde grimmig. „Doch nachdem sie Gideon geboren hatte, hatte sie das armselige Leben mit Elias Horn satt. Sie bat ihre Familie, sie wieder aufzunehmen, und die Familie stimmte zu.“ Silas sah Sara über seine Pfeife hinweg an. „Aber man bestand darauf, dass sie ihren Sohn zurückließ. “

„O nein“, stieß Sara erschrocken aus. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Als Silas bedauernd nickte, fragte sie: „Aber warum?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, um den Skandal zu vertuschen. Womöglich glaubten sie, es würde ihnen leichter gelingen, wenn Elias und Gideon nicht in Erscheinung traten. Wer weiß schon, was in den Köpfen englischer Adliger vor sich geht?“

Sara zuckte zusammen. Sie wusste, dass dies keine Kritik von ihm war, aber es zeigte ihr deutlich, wie misstrauisch die gesamte Besatzung der Satyr ihren Landsleuten gegenüber eingestellt war. Sicherlich war diese Feindseligkeit während der amerikanischen Revolution genährt worden, die wahrscheinlich ungefähr um Gideons Geburt herum geendet hatte.

Doch für Gideon war es um viel mehr gegangen. Als sie sich daran erinnerte, wie bitter Gideon von seiner Mutter gesprachen hatte, fühlte sie sich ganz elend. Kein Wunder, dass er „ihresgleichen“ hasste. Kein Wunder auch, dass es ihm so schwer fiel, ihr zu vertrauen.

Trotzdem war sein Misstrauen nicht ganz gerechtfertigt. Sie würde niemals ihr Kind verlassen, wie auch immer ihre Familie dazu stehen mochte. Sie verstand nicht, wie Eustacia das hatte tun können.

„Hat er sie jemals zu finden versucht, um ihre Seite der Geschichte zu hören?“ fragte sie.

„Wenn ja, dann hat er es mir nicht erzählt. Aber das wäre auch kaum möglich gewesen. Sein Vater ging mit ihm nach Amerika, als er noch ganz klein war. Er wollte mit dem Kind neu anfangen. Doch seine Frau quälte ihn noch immer, und er ertränkte seinen Kummer in vielen Nächten im Alkohol. Gideon hat mir mal gesagt, dass sie während seiner Kindheit in

fünfzehn verschiedenen Städten gelebt hätten. Wegen seiner Trunksucht konnte sein Vater keine seiner Anstellungen als Lehrer halten.“

Das erklärte, warum Gideon sich so verzweifelt gewünscht hatte, sich auf Atlantis niederzulassen. Er hatte nie ein Zuhause gehabt, und er war entschlossen, Atlantis zu seiner Heimat zu machen. Er sehnte sich nach einem Ort, an dem er sich geborgen fühlte, und jemand, dem er etwas bedeutete, obwohl er das vermutlich nie offen zugeben würde.

„Warum ist er zur See gegangen? Weil sein Vater ihn geschlagen hat?“

Silas schüttelte den Kopf. „Er hatte keine Wahl. Sein Vater trank sich zu Tode, als Gideon dreizehn war, und Gideon ging zur See, um nicht zu verhungern.“

„Mit dreizehn?“ Ein entsetzlicher Schmerz drohte, sie zu überwältigen. Mit dreizehn war sie von einer liebevollen Mutter und einem freundlichen Stiefvater verwöhnt worden. Sie hatte alles bekommen, was sie sich wünschte, während Gideon sich in der Kälte auf einem Schiffsdeck zusammengekauert, Botengänge gemacht und anderen Besatzungsmitgliedern die Stiefel geputzt hatte.

Ihr Gesicht musste ihre Gefühle widergespiegelt haben, denn Silas' Stimme war sanft, als er ihr antwortete: „Es war nicht ganz so schlimm, Mädchen. Die Arbeit als Kabinensteward hat ihn erwachsen werden lassen, und das war ganz in Ordnung, meinen Sie nicht auch?“

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie drehte den Kopf weg, um sie zu verbergen. Es quälte sie, dass sie Gideon grundlos der Grausamkeit bezichtigt hatte. Wenn jemand Grausamkeiten erfahren hatte, dann war er es gewesen.

Er war roh. Zwar hatte er sie alle gegen ihren Willen gekapert, und das lastete sie ihm auch noch immer an. Doch er hatte es in der guten Absicht getan, eine Kolonie zu gründen, deren Menschen in Frieden miteinander lebten, einander achteten und das Eigentum des anderen nicht antasteten.

Sie hatte ja schon gesehen, wie gut er seine Leute führen konnte. Er hörte immer beide Seiten an und regelte Streitigkeiten gerecht. Gideon hatte sein Versprechen gehalten, dass die Frauen respektvoll behandelt würden, und er hatte diese Regel mit eiserner Hand durchgesetzt.

Als sie ihren Unterricht fortsetzen wollte, hatte er sie mit seiner Zustimmung verblüfft. Er hatte sogar in seinem erst halb fertigen Haus geschlafen und seine Kajüte und sein bequemes Bett Molly, die kurz vor der Niederkunft stand, und ihrer Tochter Jane zur Verfügung gestellt.

Er war bei weitem nicht der entsetzliche, bösartige Mann, für den sie ihn anfangs gehalten hatte. Und das machte ihn für sie noch weit gefährlicher.

„Sie mögen ihn, nicht wahr, Sara?“ unterbrach Silas ihre Gedanken.

Sie wischte sich die Tränen fort und nickte zögernd. „Aber er hasst mich, weil ich eine englische Adlige bin wie seine Mutter.“

„Nein.“ Silas Stimme klang freundlich. „Gideon mag zwar verbittert sein, dumm ist er jedoch nicht. Er kann eine gute Frau erkennen. Ich vermute, dass er Sie auf seine Art mag.“ „Aber warum hat er mir dann nichts von ihr erzählt?“ sprudelte Sara heraus. Es verletzte sie, dass er ihr nicht genug, vertraut hatte. „Er hat mir von seinem Vater erzählt, doch er hat sich geweigert, über seine Mutter zu sprechen, auch nachdem wir . ..“ Sara brach den Satz errötend ab. „Weil er glaubt. . . dass ich wie sie bin, nicht wahr? Er ist der Ansicht, dass mir meine Familie und die Privilegien, die ich in London genossen habe, am wichtigsten sind. Deshalb will er mir nichts anvertrauen.“

„Das stimmt nicht. Vielleicht hat er das anfangs geglaubt, doch jetzt nicht mehr. Dessen bin ich mir ganz sicher. Er hält Sie für das, was Sie sind.“

„Und das wäre?“

„Die Frau, die er braucht... die Frau, die die Härte, die seine Mutter in ihm hinterlassen hat, aufweichen kann.“

Das kann ich nicht, wollte Sara schreien. Selbst wenn er es zuließe, würde ich hier nicht so lange bleiben, um ihm das zu sein, was er braucht. Ich werde ihn genauso verlassen wie seine Mutter. Ich werde fortgehen, wenn Jordan kommt.

Doch sie wollte nicht fortgehen und wollte ihn auch nicht | verlassen. Zum ersten Mal, seit Petey weg war, erkannte sie die Wahrheit. Sie wollte nicht in das schmutzige und triste London zurückkehren. Sie wünschte sich, hier zu bleiben, die Frauen weiter zu unterrichten, die Kolonie wachsen zu sehen und, ja, auch mit Gideon zusammen zu sein. Sie würde seine Schmerzen lindern und sein Herz heilen.

Und davon konnte sie Silas nichts sagen.

„Wenn er nicht mit Ihnen über all diese Dinge spricht, sollten Sie mit ihm reden“, meinte Silas.

„Mit ihm reden? Worüber denn?“

„Was Sie fühlen. Was Sie möchten. Es hat mich sehr viel Mut gekostet, um mich mit Louisa über. . . nun über alles Mögliche zu unterhalten. Doch Gott sei Dank habe ich es getan, sonst hätte ich sie nicht zur Frau bekommen.“

„Ich kann mit Gideon darüber nicht reden.“ Wie konnte sie ihm sagen, was sie wollte, wenn sie sich selbst noch gar nicht richtig klar über alles war. Und wie sollte sie ihm ihre Gefühle offenbaren, wenn sie ihn eines Tages verlassen würde?

Schnell stand sie auf und ging zur Tür. „Entschuldigen Sie, Silas, ich muss jetzt gehen.“

„Warten Sie!“ Als sie innehielt und sich ihm zuwandte, nahm er einen Eimer und hielt ihn ihr entgegen. „Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Der muss zu Gideons neuem Haus gebracht werden. Er hat heute Morgen darum gebeten, weil er damit Hobelspäne wegbringen möchte.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, Silas, dass ich mit Gideon jetzt nicht sprechen kann."

„Oh, das ist schon in Ordnung. Das müssen Sie nicht. Er ist nicht in seinem Haus. Er ist mit Barnaby zum Fischen auf der anderen Seite der Insel unterwegs.“ Als sie zögerte und Silas misstrauisch ansah, deutete er auf sein Holzbein. „Das ist ein weiter Weg für mein Bein, und Gideon braucht ihn später.“ „Na gut.“ Sie nahm den Eimer. Nur um Silas zu beschwichtigen, dachte sie, damit ich hier Weggehen kann. Sie musste von hier fort, ehe sie ihm noch ihr Herz ausschüttete und ihm ihr Dilemma in allen Einzelheiten schilderte.

Silas meinte es gut, doch er konnte ihr die Entscheidung nicht abnehmen, was sie tun sollte. Sie allein musste sich entscheiden.