16. KAPITEL

Verstohlen schaute Louisa sich um, und als sie niemand sah, scheuchte sie Ann in Silas Drummonds kleine Hütte, die einige Meter von der Gemeinschaftsküche entfernt stand.

„Ich dachte, Silas hat gesagt, dass wir hier nicht hineingehen sollen“, flüsterte Ann.

„Es ist mir egal, was er gesagt hat. Der Mann braucht einfach Hilfe.“ Louisa machte eine weit ausholende Handbewegung. „Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall.“

Schmutzige Kleidungsstücke lagen in unordentlichen Haufen auf dem zerkratzten Holzfußboden, und schmutziges Geschirr stapelte sich im ganzen Raum. Offensichtlich hielt Silas nicht viel von Ordnung, obwohl ein Geschirrschrank in einer Ecke stand, ein Schrank und eine Truhe in einer anderen.

Louisa wollte Silas nicht länger in diesem Durcheinander wohnen lassen. Während er mit Barnaby auf Birkhuhnjagd war, wollte sie mit Ann den Raum in Ordnung bringen. Auch wenn er sich darüber aufregen würde, würde er es später doch schätzen. Welcher Mann würde das nicht tun?

Außerdem konnte sie sein Murren gut ertragen. In den fünf Tagen seit der Aufbringung hatte er gemeckert, geflucht und geschimpft, doch er hatte nie wütend seine Hand gegen sie erhoben. Er war sogar manchmal sehr freundlich zu ihr gewesen - als sie sich, zum Beispiel, die Hand am Herd verbrannt hatte.

Er hatte ihr eine Salbe gegeben, um den Schmerz zu lindern. Und als sie sich über die Härte ihrer Schlafmatte auf dem Schiff beklagt hatte, fand sie eines Abends eine Federmatratze statt der Matte vor. Zu dem Zeitpunkt hatte sie nur vermutet, dass sie von ihm stammte, doch jetzt wusste sie es ganz genau, weil sie ihre Schlafmatte auf seinem Bettgestell liegen sah.

So war Silas eben - er bellte zwar, biss jedoch nicht. Also konnte sie ihm doch dafür sein Haus in Ordnung bringen. „Also los, Ann“, sagte sie und rollte sich die Ärmel hoch. „Wir haben viel zu tun, bis die Männer zurückkommen.“

Ann nickte, ging zu dem Tisch hinüber und wischte ihn ab. „Ich möchte gern wissen, ob Petey jetzt schon auf Sao Nicolau ist. Sie sind schon vor drei Tagen abgefahren und müssten doch eigentlich jetzt schon da sein, was meinst du?“

Louisa warf Ann rasch einen Seitenblick zu, doch ihr Gesicht hatte nur einen wehmütig bedauernden Ausdruck. Das war besser als die entsetzliche Trauer, mit der Ann zwei Tage lang nach Peteys Abreise herumgelaufen war. „Höchstwahrscheinlich waren die Männer schon dort und sind wieder auf dem Rückweg. Sie werden morgen oder übermorgen nach Atlantis zurückkehren.“

„Aber nicht Petey.“

„Nein,“, sagte Louisa mit ruhiger Stimme, „nicht Petey.“ Sie war noch immer überrascht darüber, dass Petey Ann so bereitwillig verlassen hatte. Sie hatte sich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten, und er hatte auf sie nie den Eindruck eines Mannes gemacht, der einfach davonläuft.

„Da Petey jetzt fort ist“, sagte Ann, „wen wird Miss Willis deiner Meinung nach nun zum Ehemann auswählen?“

„Ich weiß es nicht. Sara verabscheut alle Piraten.“

„Nicht alle. Sie mag den Captain. Ich vermute, dass er der einzige Mann ist, der für sie infrage kommt.“

Louisa stand gebeugt da und schob gerade einige Bananenschalen auf eine Kehrschaufel. Doch jetzt richtete sie sich auf und blickte Ann überrascht an. „Captain Horn und Sara? Bist du verrückt geworden? Sara hasst den Captain.“

Ann schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Louisa. Sie kämpft zwar mit ihm, aber ich glaube, dass sie sich auch nach ihm sehnt. Und es ist ganz offensichtlich, dass sie ihm gefällt.“ Louisa kehrte weitere Abfälle auf die Schaufel. „Oh, natürlich. Deshalb hat er ja in der Nacht, in der wir angekommen sind, Queenie zu sich gerufen . . .“

„Aber er hat sie nicht angerührt. Ich habe gehört, wie Queenie den anderen alles erzählt hat. Er hat sie zu Mr. Kent geschickt. Und ich bin ganz sicher, dass dies etwas mit Miss Willis zu tun hatte.“

Louisa blieb auf dem Weg zu Silas Bett unvermittelt stehen. Sara und Captain Horn? Was für ein entsetzlicher Gedanke! Das konnte doch nicht gut gehen zwischen den beiden. Wenn Sara glaubte, dass sie mit diesem Piratenkapitän auskommen würde, irrte sie sich gewaltig. Er gehörte zu den Männern, die Frauenherzen brachen. „Wenn du damit Recht hast, dann haben sie das gut vertuscht. Er scheint ihr aus dem Weg zu gehen, und sie verhält sich genauso.“

„Ja, aber sie beobachten sich heimlich gegenseitig. Als sie einmal über etwas gelacht hat, was Mr. Kent sagte, hat Captain Horn die beiden wütend angesehen. Kurz danach hat er Mr. Kent aufgetragen, er solle mit den anderen Männern Holz von der anderen Seite der Insel holen. Der Captain hat Gefallen an ihr gefunden, und ich glaube, dass es umgekehrt bei ihr genauso ist.“

„Oh, ich hoffe so sehr, dass du dich irrst. Er ist nicht der richtige Mann für sie.“

„Da bin ich gar nicht so sicher.“ Ann beugte sich herunter und hob einen Zinnkrug auf, der unter dem Tisch lag. „Er ist nicht ganz so schlimm, wie du vielleicht annimmst. Er war sehr nett zu mir, als wir uns einmal unterhielten. Wenn man ihn näher kennt, ist er gar nicht so übel.“

„Das ist genau das, was ich vermeide. Ich will ihn gar nicht kennen lernen“, meinte Louisa, als sie die Betttücher von der Schlafmatte zog. Captain Horn ängstigte sie zu Tode. Für sie ähnelte er viel zu sehr Harry, dem Sohn ihres letzten Dienstherrn. Obwohl sie noch nicht gesehen hatte, dass Captain Horn jemandem wehgetan hatte, glaubte sie dennoch, dass er sehr verletzend sein konnte.

Und sie ertrug es auch nicht, sich Sara in den Armen dieses harten Mannes vorzustellen. Es war ihr egal, was Ann gesagt hatte, der Gedanke allein war schrecklich. Sobald sie Sara das nächste Mal allein antraf, würde sie ihr kräftig den Kopf zurechtrücken.

Plötzlich gab Ann von der anderen Seite des Raums einen Laut der Verwunderung von sich. „Meine Güte, was ist denn das?“ Sie stellte den Zinnkrug beiseite, den sie noch in der Hand hielt, und hob eine große Holzschnitzerei auf, die halb unter einem zusammengeballten Paar übel riechender Strümpfe versteckt gewesen war.

Louisa betrachtete die Schnitzerei und sagte schulterzuckend: „Es sieht aus wie eine geschnitzte Frau.“

„Ja, aber mit solch großem . . . ich meine, hast du schon jemals eine Frau mit. . . mit. . .“

„Busen“, sagte sie trocken. „Du kannst das Wort ruhig aussprechen.“

Sie nahm Ann die Schnitzerei ab und drehte sie hin und her. Die Frau hatte wirklich im Vergleich zu ihrem Körper übergroße Brüste. Sie waren so groß wie Kürbisse, und sie passten genau zu den Pobacken, die auch riesig waren. Louisa betrachtete auch genau den kleinen Kopf und die kleinen Füße. Den Stil erkannte sie von Bildern wieder, die sie in Büchern gesehen hatte. „Ich vermute, dass das aus irgendeiner Region in Afrika kommt, wo sie Fruchtbarkeitsgöttinnen verehren.“ Ann sah sie verwirrt an. „Fruchtbarkeitsgöttinnen?“

„Ich habe vor langer Zeit einmal darüber in einem Reisebericht gelesen.“ Damals, als ich meine Abende mit Lesen verbrachte, als ich noch eine Zukunft hatte und ehe Harry anfing, mich zu streicheln . . .

„Aber was hat es mit einer Fruchtbarkeitsgöttin auf sich?“ fragte Ann wieder und riss Louisa aus ihren unangenehmen Gedanken. „Und warum ist ihr . . . Busen so groß?“

„Weil sie die Fruchtbarkeit der Frauen darstellt.“ Als Ann sie noch immer verständnislos anblickte, fügte Louisa hinzu: „Da die Frauen ihre Kinder mit ihren Brüsten nähren, machen die Schnitzer sie so groß, um die Nährfähigkeiten der Frauen zu zeigen.“

Ann hatte wohl überhaupt keine Ahnung von Symbolik. Sie nahm Louisa die Schnitzerei wieder ab. „Glaubst du, dass Silas sie verehrt?“

„Bestimmt nicht“, meinte sie trocken. „Nach dem, was Barnaby uns sagte, kann Silas . . . keine Kinder zeugen. Nein, ich vermute, dass sein Interesse an ihr eher lüstern ist.“

„Ja, und vermutlich auch schmutzig.“

„Ja, vermutlich“, sagte Louisa und unterdrückte ein Lächeln.

Nun sah auch Ann sich die Schnitzerei genauer an. „Die Figur hat schon eine komische Form. Ich frage mich, ob die Frauen in Afrika so aussehen?“

„Bestimmt nicht. Wenn sie so aussähen, hätte es längst einen Massenauswanderung englischer Männer nach Afrika gegeben.“

Ann kicherte, ehe sie meinte: „Weißt du, Silas sollte so etwas Unanständiges nicht herumliegen lassen. Die Kinder könnten es sehen.“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Vielleicht ziehe ich ihr etwas an! Das wäre doch besser, meinst du nicht auch?“

„Oh, unbedingt. Zieh der Frau etwas an“, sagte Louisa belustigt.

Ann sah sich im Zimmer um. „Ach, das wäre gut“, sagte sie mit dem Rücken zu Louisa. Sie alberte mit der Figur ein bisschen herum, drehte sich dann um und hielt sie Louisa zur Begutachtung hin.

Louisa brauchte einige Sekunden, bis sie erkannte, was Ann als Kleidung für die arme heimgesuchte Fruchtbarkeitsgöttin ausgewählt hatte. Und als sie es erkannte, brach sie in lautes Lachen aus.

Ann hatte der Schnitzerei eine von Silas Strümpfen angezogen.

Louisa bog sich vor Lachen.

„Louisa, geht es dir gut?“ fragte Ann besorgt, als sie zu ihr ging. „Du benimmst dich heute wirklich sehr seltsam.“

Louisa konnte nicht einmal sprechen. Lachend deutete sie mit dem Finger auf die Schnitzerei.

„Die Figur hier?“ fragte Ann und hielt die Holzfrau hoch. „Was soll damit sein? Findest du ihr Wollkleid nicht schön?“

Louisa brach erneut in lautes Gelächter aus. Leider tauchte Silas genau in diesem Moment unerwartet auf, als Louisa sich krümmte und Ann mit der Schnitzerei in der Luft herumwedelte.

„Was macht ihr Frauen hier?“ brüllte seine raue Männerstimme von der Tür her. Sie zuckten zusammen.

Ann ließ die Schnitzerei fallen und sah entsetzt, dass sie über den Holzfußboden rollte und dabei ihr exotisches Kleid verlor. Louisa hatte sich wieder einigermaßen unter Kontrolle.

„Wir haben wirklich nichts Schlimmes gemacht“, plapperte Ann. „Louisa sagte . . . ich meine . . . wir dachten . . .“

„Lass nur, Ann.“ Louisa blickte Silas mit vor Belustigung funkelnden Augen an. Doch als sie seine aufgebrachte Miene und sein gerötetes Gesicht sah, wurde sie sofort ernst. „Silas wirft dir bestimmt nichts vor. “

„Wir wollten nur helfen.“ Ann hob die Schnitzerei auf und streckte sie Silas entgegen. „Wirklich, Mr. Drumm . . .“

Silas stürzte herein und gab einen erstickten Laut von sich, als er sah, was Ann in den Händen hielt. Er entriss ihr die Holzfigur und legte sie behutsam beiseite. Dann wirbelte er herum, und Ann wich angstvoll vor ihm zurück.

Louisa hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Die Augenbrauen hatte er zusammengezogen, und selbst sein Bart schien sich zu sträuben. „Silas, lass Ann gehen.“

Seine Aufmerksamkeit wandte sich jetzt Louisa zu. „Also gut, verschwinden Sie.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung in Anns Richtung.

Nach einem kurzen Blick auf Louisa, die ihr zunickte, floh Ann aus der Hütte.

Sie, Louisa, musste verrückt gewesen sein zu glauben, dass er darüber hinwegsehen würde, dass sie und Ann in seiner Abwesenheit in seine Hütte gegangen waren.

Jetzt kam er auf sie zu und packte sie grob am Arm, das Gesicht vor Wut verzerrt. Sie hatte schon mit vielen zornigen Männern zu tun gehabt, und der beste Weg, sich ihrer zu erwehren, war, ihnen keinen Vorteil einzuräumen. Sie hatte diese Lektion auf harte Weise lernen müssen.

Sie entriss ihm ihren Arm, straffte sich und sah Silas fest an. „Es bringt überhaupt nichts, wenn Sie mich ausschelten, Silas. Ich habe nichts Falsches getan. Jemand musste diesen . . . Schweinestall säubern, den Sie ein Haus nennen, und da Sie niemand darum zu bitten schienen . . .“

„Sie wollten das hinter meinem Rücken tun.“

Es klang so grollend, dass sie begriff, wie er das auffasste. „Nicht wirklich. Ich habe nur. . . gedacht, dass Sie es mehr schätzen würden, nachdem es erledigt worden ist.“

„Ach tatsächlich? Sie dachten, dass ich mich darüber freuen würde, wenn Sie meine Sachen herum werfen und sich darüber lustig machen?“

Sie wurde rot. „So war es nicht. Wir haben nur . . .“ Sie sprach nicht weiter, weil ihr klar wurde, dass sie ihm das nicht richtig erklären konnte. „Wir hatten nicht vor, Sie zu ärgern. Wir wollten Ihnen helfen . . . und . . . uns dafür erkenntlich zeigen, dass Sie so freundlich zu uns waren. “

„Zu uns?“

Ihre Röte vertiefte sich. „Zu mir.“

Das schien ihm zu denken zu geben. Er blickte sie einen Moment an, dann drehte er sich zu ihrer Überraschung um und durchquerte den Raum. Er nahm seine Pfeife von einem Brett herunter, füllte sie mit Tabak, zündete sie an und paffte einige Male, bis er sie in seine rechte Hand nahm. Der scharfe Tabakgeruch erfüllte den Raum. Als er sie wieder ansah, schien sein Ärger verflogen zu sein.

„Noch nie bin ich einer Frau begegnet, die sich so sehr in alles einmischt wie Sie, Louisa Yarrow.“ Während er an seiner Pfeife zog, ließ er sie nicht aus den Augen. „Mich verwirrt, dass Sie sich ausgerechnet in mein Leben einmischen, da es doch auf dieser Insel genügend andere Männer gibt, die Sie belästigen könnten.“

„Ich halte das nicht für eine Belästigung.“

Er ignorierte ihre Bemerkung. „Warum ich, Louisa? Warum bin ich der einzige Mann?“

Unter seinem durchdringendem Blick wurde ihr unbehaglich. Sie wandte sich ab und begann, seine schmutzigen Kleidungsstücke aufzusammeln. „Ich wollte nur dafür sorgen, dass wir zur Abwechslung etwas Anständiges zu essen bekommen. Sie müssen doch zugeben, dass Sie nicht der beste Koch sind, Silas.“

Er protestierte nicht gegen diese Beleidigung, wie er es bei jedem anderen normalerweise getan hätte. Zu ihrem Entsetzen sagte er: „Ja, es ist wahr. Ich habe für unseren Captain als Seemann gearbeitet, bis ich mein Bein verlor, und deshalb findet er sich auch mit meinen Kochkünsten ab.“

Das hatte sie nicht gewusst, und es änderte ihre Meinung von Captain Horn ein wenig.

„Doch das beantwortet nicht meine Frage“, fuhr Silas fort. „Sie wissen kaum mehr vom Kochen als ich. Ich hörte, dass Sie in England als Gouvernante gearbeitet haben und nicht als Köchin.“

„Das stimmt. Doch in den Jahren, in denen ich für den Duke of Dorchester gearbeitet habe, habe ich mich . . . auch für das Kochen interessiert. Ich habe viel Zeit in der Küche verbracht. “Ja, sehr viel Zeit. Denn das war der einzige Ort gewesen, an dem Harry sie nicht allein erwischen konnte, der einzige Ort, an dem sie vor seinen Annäherungsversuchen sicher

gewesen war. Dass sie dabei auch ein wenig über das Zubereiten von Mahlzeiten lernte, war nur ein netter Nebeneffekt gewesen.

, „Ich bin noch immer überzeugt davon, dass Sie mir nicht alles erzählen. Ich habe Sie oft gescholten, und das scheint Ihnen alles nichts auszumachen. Warum fürchten Sie sich nicht vor mir wie alle anderen?“

„Weil ich weiß, dass Sie mir nicht wehtun würden!“ sprudelte sie heraus und wünschte gleich darauf, sie hätte es nicht gesagt. Warum stellte er ihr bloß all diese unangenehmen Fragen?

„Aha. Ich dachte mir schon, dass es etwas damit zu tun haben könnte.“ Als Louisa ihn überrascht anschaute, fuhr er fort: „Wer hat Ihnen wehgetan? Welcher Mann hat Ihnen so wehgetan, dass Sie sich nur bei einem Mann sicher fühlen, von dem Sie glauben, dass er sie nicht in sein Bett zerren würde?“

Ihr Gesicht wurde dunkelrot. „Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen.“

Er legte seine Pfeife mit finsterer Miene ab. „Doch, das wissen Sie. Ich habe darüber nachgedacht. Der einzige Grund, warum eine Frau wie Sie mich Barnaby vorzieht, ist der, dass sie nicht möchte, dass ein Mann sie berührt.“

Sie hatte es sich nie eingestanden. Sie hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass Silas Recht hatte. Er war gut und freundlich . . . und impotent. Sie würde nie Angst haben müssen, dass er sie verfolgte und sie gegen ihren Willen . . .

Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, diese schrecklichen Gefühle zu unterdrücken, die sie immer wieder zum Weinen brachten.

Er näherte sich ihr aufmerksam. „Ich bin nicht blind, Louisa. Ich habe gesehen, dass Sie zusammenzucken, wenn ein Mann Sie anfasst. Ich habe das Entsetzen in Ihren Augen gesehen, noch ehe sie ihre Zunge schärften, um auf Abstand zu gehen.“ Er blieb dicht vor ihr stehen. „Sie glauben, wenn Sie sich bei mir nützlich machen, werde ich Sie heiraten, auch wenn ich vermutlich im Bett zu nichts tauge.“

„Das ist nicht wahr“, protestierte sie schwach, bevor ihr das Wort „vermutlich“ bewusst wurde. „Was meinen Sie mit vermutlich?“ Als ihr dann klar wurde, wie schrecklich diese Frage klang, stammelte sie: „Das heißt. . . nun ..."

„Regen Sie sich nicht darüber auf. Ich kann mir vorstellen, was dieser Narr Barnaby Ihnen erzählt hat. Dass ich eine Frau nicht lieben kann, nicht wahr?“

Louisa kämpfte mit sich, ob sie das zugeben sollte, doch dann beschloss sie, dass er so viel Ehrlichkeit schon verdiente.

„Ja.“

„Er hat Ihnen gesagt, dass ich Frauen nicht leiden kann, weil ich eine Niete im Bett bin, nicht wahr?“

Sie wandte ihr Gesicht ab und nickte.

„Nun, das stimmt nicht.“

Erschrocken sah sie ihn an. „Was meinen Sie damit?“

„Ich meine damit, dass all meine Körperteile so funktionstüchtig sind wie die des verdammten Engländers.“

„Aber warum . . .“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Er presste die Lippen unter dem Schnurrbart zusammen. Als sie ihn erwartungsvoll anblickte, seufzte er und rieb sich das Kinn. „Als ich mein Bein verlor, hatte ich eine Lebensgefährtin auf einer der Westindischen Inseln. Eine Kreolin. Gideon brachte mich zur Genesung zu ihr, und sie hat sich um mich gekümmert. Doch mein Holzbein störte sie. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch eines Tages ertappte ich sie im Bett mit einem Krämer. Da wusste ich, dass sie mich nicht mehr liebte . . . wenn sie das überhaupt je getan hat.“

Als er sich abwandte, zum Tisch ging, sich schwer in einen Stuhl fallen ließ und seine Pfeife wieder nahm, wollte Louisa ihm folgen und ihn trösten. Armer Silas. Das war nicht gerecht. Er war ein guter Mann. Wie konnte eine Frau wegen so einer Nichtigkeit aufhören, ihren Mann zu lieben?

„Wir haben uns kurz darauf getrennt“, fuhr er fort. „Sie ging zu ihrem Krämer, und ich kehrte als Koch der Satyr auf See zurück. Doch die Männer vermuteten alle, dass unser Problem im Schlafzimmer zu suchen sei. Sie dachten, dass ich nicht nur mein Bein verletzt hatte.“ Silas blickte starr auf seine Pfeife herab. „Ich . . . habe es dabei belassen. Sollten sie nur glauben, dass meine Frau mich verlassen hatte, weil ich ihr nicht das geben konnte, auf das sie ein Recht hatte. Es hätte mir mehr ausgemacht zuzugeben, dass sie mich . . . nicht mehr haben wollte. Die Männer fanden das tragisch, und ich ließ sie in diesem Glauben. Nur Gideon kannte die Wahrheit, und er hat mein Geheimnis nie preisgegeben. “

Er zog heftig an der Pfeife und stieß den Rauch aus, der um ihn herumwirbelte. „Ehrlich gesagt, war ich danach an Frauen sowieso nicht mehr interessiert. Sie hatte auf meinen Gefühlen herumgetrampelt, und ich war überzeugt, dass ich keine mehr finden würde, die etwas für mich empfinden würde. Also blieb ich ohne eine Frau, außer, wenn ich mich in einem Hafen heimlich davonstehlen und mir eine Dirne suchen konnte.“

Immer mutloser wischte Louisa sich die feuchten Hände am Rock ab. Sie wusste, wohin das führte, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm Einhalt gebieten sollte.

Mit klaren Augen blickte er zu ihr auf. „Dann sind Sie aufgetaucht, ein Hitzkopf, wie ich ihn noch nicht erlebt habe. Sie waren die Stimulans, die ein Mann sich nur wünschen kann. Und ich wusste, dass ich Ihnen die Wahrheit sagen müsste.“ „Sprechen Sie nicht weiter. Bitte, Silas . . .“

„Ich muss es tun, Louisa. Sie haben mich betört, weil sie glaubten, dass ich kein richtiger Mann sei, und weil irgendein Bastard Ihnen Angst eingejagt hat. Ich möchte zwar gern annehmen, dass mehr dahinter steckte . . .“

„So war es auch!“ Natürlich war sie nicht nur mit ihm zusammen gewesen, weil sie sich vor ihm sicher glaubte. Als er sie zweifelnd über seine Pfeife hinweg anblickte, fügte sie sanft hinzu: „Da war wirklich mehr. Sie sind nett, freundlich und . .

„Ich bin nicht nett und freundlich, Mädchen!“ rief er aus und sprang auf. „Das versuche ich ja, Ihnen die ganze Zeit klarzumachen. Wenn ich Ihnen morgens begegne und Sie wie die frischeste Rose, die je an diesen Küsten geblüht hat, aussehen, dann pocht mir das Blut in den Schläfen. Ich bin so verrückt nach Ihnen, dass ich Sie in meine Arme reißen und küssen möchte. Was ich für Sie empfinde ... ist nicht sanft.“ Mit funkelnden Augen warf er seine Pfeife hin. „Und Sie wollen es sanft haben. Sie wünschen sich einen Mann, der Sie wie zerbrechliches Glas behandelt, und . .

„Nein, das möchte ich nicht.“

„Ich denke wirklich, dass Sie es verdienen“, fuhr er fort, als hätte er sie gar nicht gehört. „Ich weiß, dass Sie es verdienen. Sie verdienen einen richtigen Mann . . .“

„Hören Sie auf!“ Sie eilte zu ihm. „Sagen Sie nicht solchen Unsinn! Sie sind ein richtiger Mann! Ihnen fehlt nur ein Bein, und das ist völlig unwichtig.“ Als er sie ihrer leidenschaftlichen Stimme wegen bestürzt anschaute, fügte sie hinzu: „Jedenfalls für mich. Für mich zählt das gar nicht.“ Nachdenklich strich er sich über den Bart. „Was wollen Sie damit sagen, Mädchen? Sie müssen ganz offen und ehrlich mit mir sprechen, weil ich sehr schlecht erraten kann, was eine Frau denkt. Auch das habe ich bei meiner Frau gelernt.“ Louisa zögerte einen Augenblick. Was sollte sie ihm erklären? Dass es sie nicht stören würde, wenn er sie berührte und umarmte? Dass sie es vielleicht sogar mögen würde?

Oh, sie war so verwirrt. Als Harry sie zum letzten Mal gegen ihren Willen genommen hatte, hatte sie sich geschworen, sich nie mehr von einem Mann berühren zu lassen. Sie hatte ihm das Küchenmesser ins Bein gejagt und gehofft, dass sie damit noch etwas anderes treffen würde, und für all die erlittenen Demütigungen hatte sie sich vierzehn Jahre Deportation eingehandelt.

Doch Silas war anders als Harry. Obwohl beide Männer arrogant waren, entstammte Harrys anmaßende Art seinem Glauben, dass alle Menschen dieser Erde nur dazu da waren, ihm zu dienen. Er hätte niemals gesagt, dass sie einen sanften Mann verdiente. Er war immer der Meinung gewesen, sie müsste stolz darauf sein, dass er sie begehrte und sie einmal in der Woche nahm.

Silas' Arroganz war eine Schutzhaltung. Sie verhinderte, von den Männern dafür ausgelacht zu werden, dass seine Frau ihm Hörner aufgesetzt hatte. Sie wusste, warum man sich mit Stolz und Verachtung schützte. Stolz und Verachtung hatten sie den Prozess und die Abschiebung ertragen lassen. Niemand außer Silas schien das zu verstehen.

Doch war er verständig genug? Oder würde er sie grob in die Arme reißen, ihr die Röcke hochschieben und brutal in sie eindringen, so wie Harry es getan hatte?

Doch es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. „Ich will damit sagen . . .“ Sie hielt inne, weil sie nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte. „Ich meine, wenn ich mir einen

Ehemann aussuchen muss, würde ich Sie lieber wählen als irgendeinen anderen Mann.“

„Auch nach allem, was ich Ihnen erzählt habe? Denn eines muss Ihnen klar sein, Louisa: Ich kann nicht im gleichen Haus mit Ihnen leben und Sie nicht berühren.“ Seine Stimme wurde immer rauer, was sie gleichzeitig erschreckte und begeisterte. „Ich möchte dich lieben, Mädchen. Ich möchte keine andere Frau, und wenn ich dich nicht bekommen kann, werde ich weitermachen wie bisher. Doch wenn ich dich heirate, kann ich nicht versprechen, dich in Ruhe zu lassen . . . “

„Dann versprich es eben nicht“, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung. Sie trat zu ihm und legte ihm die Hände auf die Arme. Er hatte Arme, die stark genug waren, sie zu zerbrechen, sie gewaltsam zu nehmen ... sie schrecklich zu verletzen. Doch als Louisa spürte, wie sie unter ihren Fingern zitterten, schwanden ihre Ängste. Ein Mann, der bei ihrer Berührung erbebte, würde ihr doch nicht wehtun . . . oder?

Als sie zu ihm aufschaute und das wilde Verlangen in seinen Augen sah, verließ sie fast der Mut. Sie rannte nicht aus dem Haus, und das lag nur daran, dass er sie nicht an sich riss . . . noch nicht, jedenfalls.

„Ich möchte es versuchen, Silas. Mit dir. Was auch immer du sagst, ich vertraue darauf, dass du mir nicht wehtun wirst. Das wirst du doch nicht, oder?“

„Nie.“ Langsam schob er ihr die Hände um die Taille. „Doch wenn du mir noch eine Minute länger so nahe bist, schwöre ich, dass ich dich küssen werde.“

Ihr Atmen beschleunigte sich trotz ihrer Ängste. „Na gut.“ Er sah sie an, als hätte er sich verhört. „Was hast du gesagt?“ „Küss mich, Silas.“

Sie musste ihn nicht zweimal bitten. Er verschwendete keine Zeit. Und als sein Mund ihren berührte, vergaß sie Harry, den Erben des Herzogtums von Dorchester. Sie vergaß das Gefängnis, den Prozess und die Abschiebung. Sie konnte nur noch denken, dass der brummige Silas wundervoll küsste. Und dass es für sie längst überfällig gewesen war, so etwas Himmlisches zu spüren.

Er küsste sie leidenschaftlich, hart und besitzergreifend, und trotzdem klammerte sie sich an seine Weste und presste ihren Körper an seinen. Erst als sie seine Männlichkeit spürte, riss sie sich von ihm los, weil die alte Angst wieder in ihr hochkam.

Doch er lächelte jetzt, und das war wirklich ganz untypisch für Silas. „Mach dir keine Sorgen, Liebste. Ich erwarte nicht von dir, dass du dich mir schon so bald hemmungslos in die Arme wirfst. Da du dich ja von mir küssen lässt, wird sich der Rest von selbst ergeben.“

„Bist du sicher?“ Warum stockte ihr denn bloß der Atem? Und warum wollte sie, dass er sie schon wieder küsste? „Ich . .. ich habe dem Mann, der mir Gewalt angetan hat, ein Küchenmesser ins Bein gerammt.“

Silas Lächeln verschwand. „Er hat es auch verdient.“

„Das hat er“, bestätigte sie mit Nachdruck. Doch sie konnte Silas nicht ansehen. „Er ... er hat mich sehr oft gegen meinen Willen genommen. “

Der Druck seiner Finger an ihrer Taille verstärkte sich. Jetzt hob er mit der anderen Hand ihr Kinn an, bis sie ihn anschaute. „Und wenn ich es je verdienen sollte, kannst du mir auch ein Messer ins Bein jagen. Ich würde auch zulassen, dass du mein gesundes verletzt, wenn das die Voraussetzung dafür wäre, dich zur Frau zu bekommen. “

Seine Worte waren so einfühlsam, dass ihr Tränen in die Augen traten. „O Silas“, sagte sie und legte ihm die Arme um den Nacken. „Ich verdiene dich gar nicht.“

„Aber ja doch.“ Er zog sie eng an sich und legte das Kinn auf ihren Scheitel. „Der Mann, der dich dazu gebracht hat, so schlecht von dir zu denken, war ein Scheusal. Doch eines Tages wirst du mir alles von ihm erzählen, damit ich dafür sorgen kann, dass du seine schändlichen Taten für immer vergisst. Dann machen wir weiter. Zusammen. Wir werden Babys bekommen und glücklich sein, und der Teufel soll den holen, der uns aufzuhalten versucht.“

Ja, mein Liebling, dachte sie, als er ihren Kopf zu einem weiteren heißen Kuss hob. Ja, o ja.