25. KAPITEL

Jordan hat Recht gehabt, dachte Sara, als sie sich in den überfüllten Räumen des luxuriösen Hauses der Merringtons umschaute. Lady Dryden in diesem Durcheinander zu finden war unmöglich. Sara hatte die letzten beiden Stunden mit der vergeblichen Suche nach dieser Frau verbracht. Da Lady Dryden selten an Gesellschaften teilnahm, war sie auch nur wenigen Menschen bekannt.

Enttäuscht ging Sara zum Balkon, um einen Augenblick Ruhe zu haben. Leider folgte ihr wenig später eine Frau auf den Balkon. Sie grüßten sich mit höflichem Nicken und respektierten dadurch gegenseitig des anderen Privatsphäre, dass sie voneinander entfernt ruhig stehen blieben. Die andere Frau hatte sich gerade umgedreht, um in den Ballsaal zurückzukehren, als der Anhänger an ihrem Hals das Fackellicht einfing und Saras Aufmerksamkeit erregte.

Er war ein Pferdekopf aus Onyx, der von einem Kreis Diamanten eingefasst war. Obwohl kleiner als Gideons, war er doch die genaue Nachbildung dessen, der sich an seiner Gürtelschnalle befand.

Sara pochte das Blut in den Ohren. „Lady Dryden?“

Die Frau hielt inne und warf ihr einen verblüfften Blick zu. „Ja? Verzeihen Sie, kenne ich Sie?“

Sara betrachtete die Frau mit wachsender Erregung. Sie war es. Sie musste es sein. Sie trug das gleiche Schmuckstück, und auch ihre Farben stimmten. Mit ihrem dunklen und von Grau durchzogenen Haar und den hyazinthblauen Augen konnte Lady Dryden wirklich Gideons Mutter sein.

Aber wie sollte sie beginnen? Sara hatte diese Begegnung hundertmal in Gedanken durchgespielt, und -jetzt fand sie keine Worte. Doch sie durfte diese Frau nicht gehen lassen. „Mein Name ist Sara Willis. Ich bin die Stiefschwester des

Earl of Blackmore.“ Sara schluckte. „Ich habe gerade Ihren Anhänger bewundert. Vor gar nicht langer Zeit habe ich eine sehr ähnliche Brosche gesehen.“

Die Frau erstarrte. „Wirklich? Wo?“ Lady Dryden hatte alle Gelassenheit verloren. Sie schien im Gegenteil sehr interessiert an dem zu sein, was Sara ihr zu sagen hatte.

„Es mag seltsam klingen, aber sie wurde von einem Piraten getragen. Er hatte sie zu einer Gürtelschnalle umarbeiten lassen.“

„Ein Pirat? Soll das ein Scherz sein?“ fragte Lady Dryden sichtlich enttäuscht. Bevor Sara etwas erwidern konnte, veränderte sich Lady Drydens Gesichtsausdruck, und sie fügte hinzu: „Warten Sie, Sie müssen die junge Dame sein, die an Bord der Chastity gereist ist. Meine Freundin vom Damenkomitee hat mir von Ihnen erzählt. Das Schiff ist von Piraten angegriffen worden, und Sie sind gerade noch einer Aufbringung entronnen. “

„Ja, das war ich“, sagte sie nüchtern. Jordans Märchen hatte sich schon weit verbreitet. Aber vielleicht wurde es ja Zeit, dass jemand die Wahrheit erfuhr, vor allem diese Frau. „Doch ich bin der Aufbringung nicht entronnen. Ich habe einen Monat mit den Piraten auf einer Insel im Atlantik verbracht. Dabei habe ich sie alle sehr gut kennen gelernt, besonders den Captain.“

Lady Dryden war sichtlich schockiert und auch ein wenig überrascht darüber, dass eine völlige Fremde sie ins Vertrauen zog. „Sie haben einen Monat mit dem Piratenlord verbracht?“ „Ja. Haben Sie nie seinen richtigen Namen gehört?“

Lady Dryden schüttelte den Kopf und war offensichtlich verwirrt über diese Frage.

„Er heißt Horn, Gideon Horn.“

Lady Dryden wich alle Farbe aus dem Gesicht. Sie sah wie kurz vor einer Ohnmacht aus, und Sara eilte ihr zur Seite. „Es tut mir so Leid, dass ich Sie aus der Fassung gebracht habe. Geht es Ihnen wieder gut?“

„Sagten Sie . . . ,Horn‘? Sind Sie sicher, dass der Name des Mannes Horn war?“

„Ja. Ich habe Captain Horn während meines Aufenthalts auf seiner Insel ziemlich gut kennen gelernt. “ Angesichts Lady Drydens Betroffenheit, zögerte Sara weiterzusprechen. Doch diese Frau hatte ihren Sohn verlassen und verdiente es, betroffen zu sein. „Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass er gar kein Amerikaner ist. Er ist als Sohn der Tochter eines Duke in England geboren worden. Offenbar ist seine Mutter mit ihrem Lehrer, einem Engländer namens Elias Horn, durchgebrannt und hat ihr Kind verlassen, als ihre Familie sie zur Rückkehr aufforderte.“

„Nein!“ protestierte Lady Dryden. „Das war ganz und gar nicht so! Ich hätte niemals . . .“ Sie verstummte plötzlich, als ihr Tränen in die Augen stiegen. „Deshalb hat mein Sohn mich nie gesucht. Er muss die ganze Zeit gedacht haben .. .“ Ihre Stimme verlor sich, und sie sah verwirrt aus.

Sara war genauso verwirrt wie sie. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet. „Lady Dryden, wollen Sie damit sagen, dass Sie tatsächlich Gideon Horns Mutter sind?“

„Natürlich! Sie haben das doch sicherlich schon längst vermutet, sonst hätten Sie mir nichts von ihm erzählt!“

Ihr Herzschlag dröhnte Sara in den Ohren. Sie hatte Gideons Mutter gefunden. „Ich war mir nicht sicher. Elias Horn hatte Gideon erzählt, dass seine Mutter tot sei. Doch in Debretts Adelskalender gab es nur eine Tochter eines Duke, die den Namen Eustacia trug, und das waren Sie. Und als ich dann Ihren Anhänger sah .. .“

„Dann waren Sie sicher.“ Lady Dryden sah in den Speisesaal zurück, und Tränen liefen ihr über die Wangen, während ihr Blick den überfüllten Raum durchforschte. Sie wirkte fast außer sich, als sie Saras Arm ergriff und sagte: „O Miss Willis, wir müssen unbedingt meinen Mann finden! Er muss das alles sofort erfahren!“

Jetzt war Sara völlig ratlos. Lady Dryden machte nicht den Eindruck einer Frau, die gerade erfahren hatte, dass der Sohn, den sie verachtete, ein Pirat war. Und warum wollte sie nach all den Jahren, in denen sie sich nicht um ihn gekümmert hatte, jetzt plötzlich alles von ihm wissen? Oder ihrem Mann von ihrer schäbigen Vergangenheit erzählen?

„Lady Dryden“, sagte Sara besorgt, als die Frau sie mit sich zur Tür zerrte, „sind Sie sicher, dass Sie das alles Ihrem Mann ohne jede . . . Vorbereitung erzählen möchten?“

„Ja, natürlich!“ Doch als ihr dann die volle Bedeutung von Saras Frage aufging, warf sie Sara einen schmerzlichen Blick zu. „Oh, aber Sie müssen es glauben. Wenn mein Sohn es glaubt müssen Sie es auch glauben. Ach, egal. Das ist jetzt nicht von Bedeutung. Sie werden alles verstehen, wenn Sie meine Geschichte gehört haben. Aber Miss Willis, wir müssen unbedingt erst meinen Mann finden! Ich kann Ihnen versichern, dass er all das erfahren möchte, was Sie zu berichten haben. Alles!“ „Gewiss, Mylady“, sagte Sara.

Eines nahm sie sich fest vor, während sie sich von Lad; Dryden in den Ballsaal ziehen ließ. Wenn der Marquis wusste, was sie seiner Frau erzählt hatte, würde auch sie ein paar Antworten haben wollen.

Gideon ging im Wohnraum von Silas' neu gebautem Haus au und ab. Molly lag in Louisas und Silas' Schlafkammer und schrie, was das Zeug hielt. Zum Glück hatte eine der Frauen Mollys Tochter Jane gleich mitgenommen, nachdem sie ihre Mutter kurz gesehen hatte. Er hätte nicht gewollt, dass Jane miterlebte, wie sehr ihre Mutter litt.

Lieber Himmel, er hätte sich nie träumen lassen, dass die Geburt eines Kindes so schrecklich sein könnte. Er hatte noch nie eine Frau in Wehen erlebt. Die wenigen Minuten, die er in der Schlafkammer verbracht hatte, hatte er kaum ertragen. Doch als er geflohen war, hatte Louisa etwas Abfälliges über das männliche Geschlecht im Allgemeinen gemurmelt.

Er hatte ihr das nicht übel genommen. Wie konnte er? Molly schrie sich die Seele aus dem Leib und ertrug stundenlang Schmerzen, um ohne ihren Mann ein Kind zur Welt zu bringen. Im Augenblick hatte er den größten Respekt vor allen Frauen und nur Verachtung für sich selbst und seine Artgenossen.

Ann trat aus der Schlafkammertür und sah besorgt aus. „Das Baby hat Steißlage, Cap’n. Deshalb geht es Molly so schlecht.“ „Steißlage?“

„Wenn ein Kind zur Welt kommt, muss eigentlich der Kopf zuerst kommen. Doch bei diesem Kind will der kleine Popo zuerst kommen, und das funktioniert nicht. Louisa und ich wissen nicht, wie wir das ändern können, und es gibt auch keine Geburtshelferin auf der Insel. Wir haben schon gefragt.“ „Aber es gibt doch sicher jemanden, der helfen kann“, sagte Gideon. „Es sind doch mindestens fünfzig Frauen hier auf der Insel.“

„Ja, das stimmt zwar, aber die meisten haben wie ich nur gerade genug Kenntnisse für eine normale Geburt. Für einen solchen Fall brauchen wir eine Geburtshelferin, und die gibt es hier nicht. Haben Sie denn wirklich keinen Doktor auf der Insel?“

Schuldbewusst schüttelte Gideon den Kopf. Keinen Doktor. Keine Geburtshelferin. Eigentlich hatte er längst einen Doktor auf die Insel holen wollen, doch das hatte er noch nicht getan. Aber er hätte daran denken müssen, eine Geburtshelferin für die Frauen herzubringen.

Plötzlich erklang eine heisere Stimme am Hauseingang. „Also gut, wo ist sie? Wo ist die Kreißende?“

Als sie sich beide umdrehten, sahen sie Queenie mit aufgerollten Ärmeln und entschlossener Miene dort stehen.

„Queenie“, sagte Ann mit fester Stimme, „du darfst Molly nicht stören. Es geht ihr nicht gut. Das Baby hat Steißlage. Sie muss ruhig bleiben, während wir überlegen, was wir tun können.“

„Sie braucht eine Frau, die weiß, wie ihr zu helfen ist“, entgegnete Queenie. Ein weitere Schrei drang aus der Schlafkammer, und Queenie eilte zur Tür. Ann stellte sich ihr in den Weg, und Queenie sah sie wütend an. „Geh mir aus dem Weg, Landmädchen. Wer, glaubst du, hat all die Babys im Bordell zur Welt gebracht? Ich! Wir konnten das Risiko nicht eingehen, dass ein Doktor uns an die Polizei verriet, also habe ich es getan. Ich habe schon mehr Kinder zur Welt gebracht, als du in deinem ganzen Leben gesehen hast. Und ich werde diesem hier auch auf die Welt helfen, wenn du mich endlich durchlässt. “

Ann zögerte und sah Queenie voller Zweifel an.

„Lassen Sie sie vorbei“, stieß Gideon hervor. „Wenn sie sagt, dass sie es kann, dann soll sie es auch tun, lieber Himmel. Wir haben doch keine Wahl.“

Als Ann zur Seite trat, stürzte Queenie schniefend in die Schlafkammer und ließ die Tür offen stehen.

„Queenie!“ rief Louisa drinnen aus. „Was machst du denn bloß?“

„Es ist in Ordnung“, sagte Ann, als sie nach Queenie den Raum betrat. „Sie sagt, dass sie immer schon Kindern auf die Welt geholfen hat.“

Louisa schnaufte missbilligend. „Sie hat wahrscheinlich mehr Dinge gesehen, die in eine Frau hineingehen als aus ihr herauskommen.“

„Das stimmt auffallend“, sagte Queenie sanft. „Aber ich kenne mich mit dem Kinderkriegen aus. Und ihr habt jetzt keine andere Wahl, Miss La-Di-Dah.“

Gideon stellte sich in die offene Tür und blickte in den Raum hinein, doch er konnte nur Ann, Louisa und Queenie sehen, die um das Bett herumstanden. Über sie hinweg sah er Mollys bleiches Gesicht und ihr Haar, das ihr verschwitzt am Kopf klebte.

Queenie setzte sich auf die Bettkante und murmelte besorgt vor sich hin. Er wusste nicht, was sie machte, doch als sie fertig war, wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und verkündete: „Ja, das Baby hat Steißlage. Wir müssen es drehen. “

„Drehen? Kann man das denn tun?“ fragte Louisa angstvoll.

„Ja, das kann man tun. Manchmal. Ich habe es schon zweimal versucht.“ Queenies Stimme war grimmig. „Es hat nur einmal geklappt, leider. Nicht immer kann man das Kind drehen. “

„Mach, was du machen musst!“ erhob sich Mollys hohe Stimme über das Gemurmel der anderen. „Holt bloß das Kind aus mir raus, verdammt noch mal!“

Plötzlich gingen Ann und Louisa vom Fußende des Betts weg, um Molly zu beruhigen, und Gideon sah zum ersten Mal zwischen Mollys gespreizte Beine. Er keuchte. Ihre Oberschenkel waren fast bis zu den Knien mit Blut und Wasser verschmiert.

„Nun tut doch endlich was!“ stieß er hervor.

„Ich kümmere mich darum, Cap'n“, sagte Queenie. „Sie holen mir heißes Wasser, ja? Und Silas soll Tee machen. Das arme Mädchen wird ihn nach dieser Sache hier nötig haben. “

Sie musste ihn nicht zweimal bitten. Gideon floh und verdammte sich wegen seiner Feigheit. Molly war so klein und zart. Wie konnte sie das durchstehen? Und was würde aus dem Baby und der kleinen Jane werden, wenn sie es nicht schaffte?

Er fand Silas in der neuen Gemeinschaftsküche und gab Queenies Auftrag an ihn weiter. Silas hatte schon einen Topf mit kochendem Wasser. Er nahm ihn vom Feuer und kam damit zu ihm. „Sie sind ganz grün im Gesicht, Cap'n. Sie hat eine harte Zeit, was?“

Gideon sah den alten Mann mit wildem Blick an. „Sie könnte sterben. Auch das Baby kann sterben.“ Voll Abscheu vor sich selbst schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Und das ist alles mein Fehler, hörst du? Ich hätte Ärzte und Geburtshelferinnen hierher holen sollen. Aber was weiß ich denn schon, wie man sich um Frauen kümmern muss? Überhaupt nichts weiß ich, verdammt noch mal! Sara hatte Recht. Ich habe nicht einmal ihre Bedürfnisse berücksichtigt! Kein Wunder, dass sie mich verlassen hat!“

Silas setzte den Topf ab und klopfte Gideon beruhigend auf die Schulter, ging dann zum Küchenschrank und schenkte ihm einen Becher Whisky ein. „Hier, setz dich und trink das. Es kann gar nicht so schlimm sein. Und Miss Sara hat dich nicht verlassen, weil du keine Ärzte hierher geholt hast. Sie ist gegangen, weil sie sich um die Familie kümmern wollte. Aber sie wird zurückkommen. Sie hat es gesagt, und ich glaube ihr.“

„Nein“, sagte Gideon grimmig. „Sie hasst mich so, wie ich es verdiene.“

„Hör auf, so zu reden. Es hat keinen Sinn, so zu denken, vor allem, wenn es nicht wahr ist.“ Er nahm den Topf wieder hoch. „Bleib hier sitzen, und trink ein bisschen. Ich bringe Louisa das Wasser. Vielleicht habe ich bei meiner Rückkehr schon gute Nachrichten für dich.“

Gute Nachrichten? Selbst wenn Molly überlebte, säße die Frau seinetwegen hier in der Falle.

Und er war immer noch ohne Sara.

Stöhnend barg er das Gesicht in den Händen. Wenn sie ihn für all seine Sünden hatte strafen wollen, dann hatte sie den richtigen Weg gefunden. Wie sehr sie sein Leben bereichert hatte, wusste er erst, seit sie ihm alles weggenommen hatte, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sie zum Bleiben zu bewegen.

Sie hatte nicht auf ihn gewartet, hatte kein Wort gesagt und sich nicht einmal von ihm verabschiedet.

Doch als er sich an jene Wochen zurückerinnerte, die sie miteinander verbracht hatten - vor allem an die letzten beiden Tage - , dann konnte er nicht glauben, dass sie das, was sie zu ihm gesagt hatte, nicht auch gemeint hatte. Niemand hatte sie gezwungen, ihn zu heiraten. Und wenn sie gewusst hatte, dass ihr Bruder zu ihrer Rettung kommen würde, warum hatte sie dann nicht einfach seinen Verführungsversuchen bis zur Ankunft ihres Bruders widerstanden?

Ihm wurde eiskalt. Vielleicht hatte er viel zu vorschnell angenommen, sie wolle ihn verlassen. Verzweifelt versuchte er, sich an das zu erinnern, was Ann und Petey ihm in jener Nacht am Strand gesagt hatten. Petey hatte angedeutet, dass Sara dazu gezwungen worden sei, doch Ann hatte ihn aufgehalten. Und was hatte Ann darüber gesagt, dass Sara ihren Bruder angefleht hatte, die Insel nicht anzugreifen? Vielleicht hatte sie sich ja gar keine Sorgen um ihren Bruder gemacht.

„Also, Cap’n“, sagte eine fröhliche Stimme von der Tür her, „sie hat ein hübsches, kleines Mädchen geboren.“

Als Gideon sich umdrehte, stand eine strahlende Ann dort. Er war so erleichtert, dass er leicht schwankte. „Geht es ihr gut? Und dem Baby auch?“

„Beide sind völlig in Ordnung. Queenie hat uns alle überrascht. Sie hat das sehr gut gemacht.“

„Zum Glück wusste jemand, was zu tun war.“

Als Ann gehen wollte, rief er: „Ann!“

„Ja, Cap'n.“

„Könnten Sie mir bitte genau erzählen, was sich an dem Tag abgespielt hat, als Sara fortging?“

Sie senkte den Blick. „Das habe ich . . . doch schon getan.“ „Sie haben mir aber doch nicht alles erzählt, oder? Irgendetwas haben Sie zurückgehalten.“

Sie zog mit der Schuhspitze einen Kreis auf dem Fußboden. „Es ist doch egal, was an dem Tag geschehen ist, Cap'n. Miss Willis wird so schnell zurückkommen, wie sie kann. Ich weiß das.“

„Darauf kann ich nicht warten. Ich werde nach England fahren und all die Frauen mitnehmen, die zurückkehren wollen.“ Er schwieg und fühlte sich plötzlich so ruhig wie seit langem nicht mehr. „Und ich werde Sara finden und ihr klarmachen, dass ihr Platz hier ist. Ich muss sie finden. Ich muss ihr sagen, dass ich sie brauche . . . dass ich sie liebe.“

Ann warf ihm einen besorgten und angstvollen Blick zu. „Aber Cap'n, das können Sie nicht machen! Das dürfen Sie nicht tun! Wenn Sie ihr nachfahren, ist all das, was sie getan hat, umsonst gewesen! Sie wird es mir nie verzeihen, wenn ich Sie gehen lasse! Niemals!“

„Ann, sagen Sie mir die Wahrheit. Warum sollte sie Ihnen nicht verzeihen wollen? Hasst sie mich?“

„O nein, Cap’n! Weshalb sollte Sara Sie denn hassen?“ Ann wickelte die Hände in ihre Schürze, als ob sie mit sich über irgendetwas ins Reine kommen wolle. Dann seufzte sie. „Ihr Bruder - der Earl - hat ihr gedroht, dass er die Insel dem Erdboden gleichmachen würde, wenn sie nicht mit ihm nach England zurückkehrte. Sie fürchtete, dass er das tatsächlich machen würde. Er hatte genügend Männer und Kanonen dafür mitgebracht und war fest entschlossen. Erst als sie sich bereit erklärte, mit ihm zurückzufahren, lenkte er ein.“

Also hatte Sara ihn doch nicht hintergangen. Sara hatte das getan, was sie immer tat - alles geopfert für die, die sie liebte. Wut erfüllte ihn - Wut auf Saras Bruder, Wut auf Ann und Petey, weil sie ihn belogen hatten . . . und am meisten Wut auf sich selbst, weil er angenommen hatte, dass Sara ihn aus freien Stücken verlassen hätte.

„Warum haben Sie mich denn glauben lassen, Sara habe fortgehen wollen?“ fragte er mit rauer Stimme, als er auf Ann zuging.

„Das musste ich tun. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen, weil sie genau das fürchtete, wovon sie eben gesprochen haben. Dass Sie nach England fahren und dort gehängt würden. Sie fürchtete so sehr um Ihr Leben, dass sie das nicht riskieren wollte.“

„Als ob ich überhaupt ohne sie leben könnte“, stieß er hervor. „Jetzt muss ich gehen. Ich kann sie nicht länger bei ihrem ekelhaften Bruder lassen.“

„Nein, bitte nicht! Es würde ihr das Herz brechen, wenn man Sie festnehmen würde! Sie sagte, sie wolle alles tun, um zurückzukommen, und ich weiß, dass sie . . .“

„Glauben Sie etwa, er lässt sie hierher zurückkommen? Ein Mann, der gedroht hat, alles zu zerstören, was ihr wichtig war, nur um sie zur Heimkehr zu bewegen?“ Er ballte die Hände zu Fäusten und wünschte, er könnte sie gegen Saras Bruder richten. „Er wird sie nicht gehen lassen. Ich an seiner Stelle würde das auch nicht tun.“

„O, Cap'n“, klagte Ann, „wenn die Engländer Sie kriegen, wird man Sie hängen!“

„Die Engländer haben mich auch früher nicht gefangen genommen“, sagte er wild, „und ich lasse nicht zu, dass sie mich diesmal schnappen.“

„Aber. .."

„Ich fahre nach England, und dabei bleibt es, Ann. Sagen Sie den Frauen, dass ich alle mitnehme, die zurückkehren wollen. Und wenn sie Angst vor einer Rückkehr nach England haben, werde ich sie nach Santiago bringen und ihnen die Schiffspassage zu dem Ort bezahlen, zu dem sie fahren möchten. “

Ann sah ihn überrascht an. „Es gibt ein paar, die gerne von hier fortgehen wollen, doch ich glaube, die meisten würden lieber hier bleiben.“

Er sprach leiser weiter. „Wenn sie hier bleiben wollen, behalten wir sie natürlich liebend gern, ob sie nun heiraten möchten oder nicht. Aber ich werde keine Frauen mehr für meine Männer suchen. Von jetzt an müssen sie sich ihre Frauen allein auswählen . . . gewillte Frauen, wenn es nach mir geht.“

Ann trat näher an ihn heran, streckte sich und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Wange „Sie sind ein guter Mann, Cap'n Horn. Ich weiß, dass Miss Willis hier bei Ihnen wäre, wenn sie nur könnte.“

„Sie wird hier bei mir sein. Sie wird hier sein, und wenn ich dazu alle verflixten britischen Insel durchkämmen muss, um sie zu finden. “