4. KAPITEL

Für Sara war die Reise bisher ziemlich ereignislos verlaufen. Sicherlich, sie hatte einige Probleme damit gehabt, die abgebrühteren Frauen vom Spielen abzuhalten, mit dem sie die Landmädchen gern um ihre Essensrationen erleichtert hätten. Und sie hatte sich etliche Male über die Ungehörigkeit des Fluchens ausgelassen. Dennoch war der Unterricht gut verlaufen, und sie und Petey hatten die Männer erfolgreich von den Frauen fern gehalten.

Doch jetzt herrschte um sie herum ein einziges Chaos. Die Frauen, die oben an Deck gewesen waren, waren wiederheruntergeschickt worden. Sie hatten sich angstvoll und stammelnd um Sara geschart. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was sie sagten. Ein Piratenschiff näherte sich? Das konnte gar nicht stimmen. Piraten wurden mit jedem Jahr weniger, da Briten und Amerikaner die Gewässer von dieser hässlichen Plage zu befreien versuchten. Und was wollten die schon mit einem Sträflingsschiff anfangen, das nichts Wertvolles transportierte?

Natürlich konnten sie nicht wissen, dass die Chastity nur Frauen beförderte. Plötzlich stieg Angst in Sara hoch. Jeder wusste, was Piraten mit Frauen machten. Und wenn diese Männer kein Gold fanden, um ihre Gier zu stillen, würden sie sich vermutlich anderen schrecklichen Vergnügungen zuwenden.

„Sie werden uns töten!“ schrie Ann Morris über das Stimmengewirr hinweg und sprach damit Saras Befürchtungen laut aus. „Sie werden uns Gewalt antun und dann töten! O Miss Willis, was sollen wir bloß tun?“

Sara wollte schreien, dass sie es nicht wisse, dass sie noch nie zuvor Piraten zu Gesicht bekommen habe. Nur mit großer Willenskraft vermochte sie, sich zurückzuhalten.

Die anderen Frauen waren verstummt und blickten Sara nun erwartungsvoll an, als ob sie glaubten, sie könnte irgendwie eine Armee von Beschützern hervorzaubern, die sie rettete. Oh, wenn sie dazu nur in der Lage wäre.

Mit betont ruhiger Stimme sagte sie: „Es besteht kein Grund zur Panik. Unsere Matrosen werden die Piraten in die Flucht schlagen. Das Schiff ist bewaffnet und . . .“

„Bewaffnet?“ murrte Queenie. „Die paar Kanonen können Piraten nicht beeindrucken.“

„Und die Matrosen werden nicht kämpfen“, ließ sich Louisas gewohnt zynische Stimme hinter Queenie hören. „Diese weinerliche Bande? Warum sollten sie auch? Die springen eher über Bord, als für uns auch nur einen Finger krumm zu machen.“

Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich wieder um Sara. Nie zuvor hatte sie sich so hilflos gefühlt. Louisa hatte Recht. Die Matrosen würden eine Schiffsladung Frauen nicht verteidigen.

Sie kämpfte hart mit sich, um nicht die Beherrschung zu verlieren und wie die anderen in Panik zu geraten.

Plötzlich schrie Louisa laut auf: „Hört mal alle!“

Nach und nach verstummten die Frauen, bis nur noch die weinenden Kinder die Stille durchbrachen. Sie horchten, doch sie konnten von oben nur gedämpftes Stimmengewirr vernehmen. Das Schiff schien angehalten zu haben, was im Frachtraum kaum zu spüren war.

Dann hörten sie ein Geräusch, als wären mehrere Männer an Deck gesprungen. Das Schiff neigte sich leicht zu einer Seite, und die Frauen hielten sich an den Gitterstäben fest, bis sich das Schiff wieder aufrichtete.

„Sie sind an Bord gekommen“, verkündete Queenie.

„Wenn wir ganz ruhig bleiben, merken sie vielleicht nicht, dass wir hier sind“, flüsterte Ann Morris ängstlich. „Vielleicht sagt Captain Rogers ihnen, dass der Frachtraum leer ist, und sie verschwinden wieder. “

„Verschwinden?“ Obwohl Louisas schönes Gesicht im Laternenlicht aschfahl war, klang sie genauso nüchtern wie sonst auch. „Nur auf das Wort unseres guten Captains hin? Das glaube ich nicht. Außerdem würde er unsertwegen bestimmt nicht lügen. Wir sind das einzig Wertvolle, was er den Piraten zur Beschwichtigung überlassen kann.“

Die kalten Worte ließen die Frauen schaudern. Als Sara scherzhaft zu Jordan gesagt hatte, dass sie von Piraten bedrängt werden könnten, hatte sie nicht im Traum daran gedacht, es würde jemals eintreffen. In diesen Gewässern sollte es eigentlich überhaupt keine Piraten mehr geben.

Es muss eine andere Erklärung für das Auftauchen des fremden Schiffes geben, dachte sie verzweifelt. Jeden Moment würde die Besatzung zu ihnen herunterkommen und ihnen mitteilen, dass lediglich ein britisches Marineschiff sie geentert hätte, weil sie Vorräte haben wollten. Nein, das ergab keinen Sinn. Sie waren der Insel Santiago noch so nahe, wo Nahrung beschafft werden konnte.

Wenn sie und die anderen bloß verhindern könnten, dass die Piraten in den Frachtraum eindrangen. Doch sie besaßen nichts, mit dem sie sich hätten verteidigen können, weil man den Frauen nichts gegeben hatte, mit dem sie sich gegen ihre Bewacher hätten wehren können.

Niemand rührte sich von der Stelle. Jedes Knirschen des Schiffs verstärkte die Spannung in der heißen, stickigen Luft des Frachtraums. Selbst die Kinder schienen jetzt den Atem anzuhalten und darauf zu warten, was mit ihnen geschehen würde.

„Oh, wie sehr wünschte ich, dass Petey . . . ich, ich meine Mr. Hargraves . . . uns hier unten beschützen könnte“, platzte Ann in die unheilvolle Stille heraus.

„Auch dein Mr. Hargraves kann eine Bande von Piraten nicht aufhalten, Annie“, erwiderte Louisa. „Er ist nämlich nicht Gott. Kein Mensch der Welt kann uns jetzt vor den unaussprechlichen Dingen schützen, zu denen wir gezwungen werden ..."

„Das reicht, Louisa“, sagte Sara scharf. „Sie erschrecken die Kinder. Und wir alle müssen nicht unbedingt hören . . .“

Sie hielt inne, als die Luke geöffnet wurde. Die Frauen wandten sich der Leiter zu, die Augen in der schwach beleuchteten Zelle angstvoll aufgerissen.

Doch es war kein Pirat, der die Leiter herabstieg, sondern Captain Rogers leichtfüßiger Kabinensteward. Als die Frauen ihn erkannten, seufzten sie erleichtert auf und drängten zur Leiter.

„Was ist los?“ rief eine Frau.

„Sind das wirklich Piraten?“ wollte eine andere wissen. Der Steward blieb auf der Hälfte der Leiter stehen. „Ich soll euch sagen, dass ihr eure Sachen zusammenpacken und an Deck heraufkommen sollt.“ Unter dem rußverschmierten Gesicht war er blass, und seine mageren Beine zitterten. „Wer hat dich geschickt?“ fragte Sara und trat vor. „Captain Horn, Miss. Von der Satyr. Sein Schiff hat uns gekapert.“

Die Satyr. Sie glaubte, von diesem Schiff schon gehört zu haben, doch sie konnte sich nicht genau erinnern. „Ist dieser Captain Horn ein Pirat?“

Der Junge sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Sinnen. „Ja, Miss. Jeder weiß das.“

Es heiterte sie nicht auf, dass er ihre Befürchtungen bestätigte. „Und warum hat er darum gebeten, dass die Frauen ihre Sachen zusammenpacken?“

„Ich weiß es nicht, Miss, aber . . .“

„Hör schon auf mit dem Gerede, Bursche“, rief eine heisere Stimme von oben herab. „Sag ihnen, dass sie sofort hier oben erscheinen sollen. Captain Horn möchte alle sofort an Deck sehen, oder sie ziehen seinen Zorn auf sich!“

Der drohende Klang stürzte die Frauen in helle Aufregung. Sie hasteten umher, rafften ihre spärliche Habe zusammen, riefen ihre Kinder zur Ordnung und zogen sich Schuhe an, denn viele waren barfuß herumgelaufen.

Kurz darauf eilten sie mit ihren groben Segeltuchtaschen zur Leiter. Die meisten hatten sogar das Material für ihre Steppdecken mitgenommen. Doch noch ehe sie die steilen Leitersprossen erklimmen konnten, trat Sara vor sie hin. Sie würde sie jetzt nicht im Stich lassen. Schließlich musste jemand für die Frauen sprechen.

„Hören Sie mich bitte an. Erinnern Sie sich an all das, worüber wir geredet haben. Ganz egal, was man Ihnen antun wird, Ihre Seele ist unzerstörbar.“

Ihre Worte schienen den Frauen Mut zu machen, doch es war eine traurige Gruppe, die ihr die Leiter hinauf, über Zwischendecks hinweg und dann zum oberen Deck folgte. Der Anblick, der sich Sara bot, als sie in den hellen Sonnenschein hinaustrat, war ernüchternd. Die Besatzung der Chastity stand an der Reling und wurde von

Piraten bewacht, die weit besser aussahen, als sie erwartet hatte.

Sie waren sauber und ordentlich gekleidet im Gegensatz zu Captain Rogers Besatzung. Waren diese Männer tatsächlich Piraten? Keiner von ihnen war von einer Augenklappe verunstaltet! Und als sich die Frauen auf dem Deck drängten, verhöhnte sie keiner. Niemand griff nach ihnen oder machte auch nur eine anzügliche Bemerkung.

Doch sie kleideten sich so auffällig, wie es Piraten eben tun. Lederwesten überwogen und wurden oft ohne Hemd getragen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so viele barbrüstige Männer gesehen . . . und auch nicht so viele mit schulterlangem Haar.

Als sie jedoch ihre Waffen bemerkte, erstarrte sie. Messer mit geschnitzten Handgriffen glitzerten in ihren Händen, und einige hatten Pistolen in ihre Gürtel geschoben. Diese Waffen machten nur zu deutlich, warum die Männer hier waren.

Doch noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, befahl ein untersetzter bärtiger Mann mit einem Holzbein den Frauen, sich zum Bug zu begeben. Dort waren noch weitere Piraten, deren Anzahl die der Besatzung der Chastity bei weitem überstieg und vielleicht sogar auch die der Frauen.

Als sich die Menge teilte, konnte sie zum ersten Mal einen Blick auf den Mann werfen, der nur der Captain der Satyr sein konnte.

Er stand mit gespreizten Beinen da und hatte die Arme über dem am Hals offenen weißen Hemd und der Lederweste verschränkt. Seine ernste Miene betonte noch die harten Gesichtszüge. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu, wie die Frauen das Deck nach und nach füllten.

Warum war sie eigentlich überzeugt, dass er der Captain war? Er strahlte eine gewisse Überheblichkeit aus, die den anderen fehlte. Außerdem war er sehr groß. Und seine Kleidung war von feinster Qualität. Die graue Hose, die seine muskulösen Beine umspannte, war von exzellentem Schnitt, und sein Gürtel hatte eine mit Juwelen besetzte Schnalle.

Mit kaltem, durchdringendem Blick schätzte er die Frauen ab, als ob er die Schwäche jeder einzelnen sofort herauszufinden versuchte.

Und dieses Gesicht! Obwohl es sorgfältig rasiert war, sah es herausfordernd männlich aus, wobei die starken Brauen den kühnen Ausdruck noch verstärkten. Aber darüber hinaus wirkte er auch erschreckend bedrohlich. Was ließ ihn bloß so Furcht erregend aussehen? Vielleicht die sichelförmige Narbe, die seine vom Wind gerötete Wange unterteilte, und die kleine Schnittwunde am Ende seiner Braue, die gerade noch sein Auge verschont hatte. Vermutlich hatte der Säbel, der in seinem breiten Ledergürtel steckte, etwas damit zu tun.

„Guten Tag, meine Damen“, sagte er mit deutlich amerikanischem Akzent, nachdem alle Frauen an Deck und die Luken geschlossen waren. Mit einem Lächeln, das den wilden Anblick ein wenig milderte, ließ er den Blick über die Menge gleiten und fügte hinzu: „Wir sind gekommen, um Sie zu retten.“

Seine Worte kamen so unerwartet und waren so selbstgefällig geäußert, dass Wut in Sara hochstieg. Nachdem er die Frauen abschätzig gemustert hatte, besaß er die Unverfrorenheit, so etwas zu sagen!

„Nennt man heutzutage Plünderung und Gewalt an Frauen so?“ stieß sie hervor.

Ein entsetztes Raunen lief durch die Besatzung der Chastity, und die Frauen zogen sich von ihr zurück, als wollten sie sich von ihrer Begleiterin distanzieren. Sofort verdammte Sara sich für ihre spitze Zunge. Ach, damit war sie schon erledigt. Sie hätte ihn auch bitten können, sie mit diesem schrecklichen Säbel zu töten. Er war kein zivilisierter Lord und auch kein großmäuliger Captain, den sie ungestraft belehren konnte. Dieser Mann hatte keine Moral, keine Skrupel und würde ihr auch keine Gnade gewähren.

Jetzt hatte er seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie konzentriert.

Sie hielt den Atem an, als er sie mit unverschämtem Blick musterte und sich dabei jede Einzelheit einzuprägen schien, von ihrer Morgenhaube mit Spitzenbesatz bis hinunter zu den abgenutzten Schuhen aus Ziegenleder. Und dann stieß er zu ihrem Entsetzen ein hartes Lachen aus. „Plünderung, Gewalt an Frauen? Wer sind Sie eigentlich, mutige Frau, dass Sie so mit mir zu sprechen wagen?“

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Angst drängte sie, sich bei ihm zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass sie eine Närrin sei. Doch ihr Stolz ließ das nicht zu. Noch hatte er nicht gedroht, sie zu töten, und vielleicht hieß das ja, dass man vernünftig mit ihm reden konnte. „Ich bin Miss Sara Willis, Sir, Lehrerin und Beschützerin dieser Frauen.“

Der Wind blies ihm das pechschwarze Haar aus dem Gesicht und enthüllte den goldenen Ring, den er an einem Ohr trug. Gleichgültig lehnte er sich gegen den Bug. „Ich verstehe. Und Sie möchten sie also vor uns beschützen?“

Als die Piraten um sie herum in lautes Gelächter ausbrachen, wurde sie rot. „Sie wissen genau, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Ich habe weder einen Degen noch die Fähigkeit, mit ihm umzugehen. “ Eine Spur ironisch fügte sie hinzu: „Vielleicht finde ich die Situation hier ja nicht so amüsant wie Sie und Ihre blutdürstigen Gefährten.“

Der belustigte Ausdruck verschwand blitzartig aus seinem Gesicht. „Dann werden Sie sicher gern hören, Miss Willis, dass meine Männer und ich aus anderen als den von Ihnen vermuteten Gründen hier sind. Diebstahl ist zwecklos, da ich vermute, dass es auf diesem Schiff weder Gold noch Juwelen gibt. Wäre Plündern dann nicht ein sinnloses Unterfangen?“ Als er innehielt, hielt sie vor Angst den Atem an. „Dann bleibt ja nur noch die Gewalt an den Frauen. Ein Schiff voller Frauen . . . eines voller Piraten . . .“

„Wir sind auch nicht hier, um irgendjemand unseren Willen aufzuzwingen“, sagte er grollend und stieß sich wütend vom Bug ab. „Wir haben Ihren . . . Schülerinnen etwas ganz anderes anzubieten.“

„Anzubieten?“

Die Hände in die Hüften gestützt, schlenderte er auf sie zu. „Ja, anzubieten. Wir sind hier, um die Frauen zu retten und zu befreien.“

Er war jetzt nahe genug, dass sie die Farbe seiner Augen erkennen konnte: ein lebhaftes Blaugrün, wie es das Meer hatte bei wolkenlosem Himmel. Das war eine viel zu schöne Farbe für einen Piraten.

„Und Sie bieten das an, ohne eine Gegenleistung zu erwarten?“ bemerkte sie kalt.

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Das habe ich nicht gesagt.“

Ihr Mut sank. „Natürlich nicht. Piraten sind ja nicht gerade für ihre Nächstenliebe bekannt.“ Sie wusste nicht, was sie dazu brachte, derart dreist mit ihm zu sprechen. Doch wenn er sie ohnehin umbringen würde, konnte sie vor ihrem Tod vielleicht doch noch etwas Gutes bewirken.

„Was wollen Sie dann also von den Frauen?“ fuhr sie fort. „Ein paar vergnügliche Nächte, ehe Sie sie an der Küste von Afrika aussetzen, damit sie sich weiter allein durchschlagen können? Möchten Sie Liebesdienste von ihnen und ihnen dann eine zweifelhafte Freiheit schenken, statt sie mit Geld zu bezahlen?“

„Nein. “ Er sah sie zornig an. „Wir wollen keine Dirnen, Miss Willis. Wir wollen Ehefrauen für uns alle haben.“

Überrascht blickte Sara ihn an. Ein Raunen erhob sich unter den Frauen hinter ihr, doch sie wandte sich nicht um, sondern versuchte nur zu begreifen, was er gesagt hatte. Sie musterte prüfend die Gesichter der Piraten und stellte überrascht fest, dass ihre Mienen die Worte von Captain Horn zu bestätigen schienen.

„Aber Sie sind . . . Piraten! Warum sollten Sie Ehefrauen haben wollen?“

„Das geht Sie nichts mehr an, Miss Willis. Wir nehmen diese Frauen mit, ob Sie das nun gutheißen oder nicht.“ Der Blick, den er über sie gleiten ließ, war beleidigend. „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden wir nicht mitnehmen. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine schmallippige alte Jungfer, die uns nur Probleme macht.“

Daraufhin befahl er einigen seiner Männer, die Frauen und Kinder an Bord der Satyr zu bringen. Und den Rest seiner Leute forderte er auf, die Vorräte der Chastity zu beschlagnahmen.

Ungläubig sah sie zu, wie die Männer sich beeilten, seine Wünsche zu erfüllen, und die Besatzung der Chastity verdrossen dabeistand. Wie konnte sie nur? Dieser ungehobelte Schurke entführte eine gesamte Schiffsladung von Frauen für seine eigenen schändlichen Zwecke, und die Besatzung schritt nicht ein!

„Das können Sie nicht tun! “ sagte sie zu Captain Horn. „Das ist gewissenlos! “

Er ignorierte sie und wandte sich an Captain Rogers. „Ich lasse ihnen kein Wasser und keine Nahrung zurück. Sie haben nur die Wahl, in den Hafen von Santiago zurückzukehren. Was Sie danach tun, ist es mir egal, vorausgesetzt, Sie folgen uns

nicht. Wenn Sie auch nur den Versuch unternehmen, werde ich meinen Leuten befehlen, mit den Kanonen auf Ihr Schiff zu feuern, das schwöre ich Ihnen.“

Als er sich umdrehte und an ihr vorbeistürmen wollte, griff sie nach seinem Arm. „Ich werde nicht zulassen, dass Sie das tun!“

Er bedachte sie mit einem spöttischen Lächeln. „Wie Sie selber schon sagten, Sie können mich nicht aufhalten.“

Die Sinnlosigkeit all dessen machte sie zornig. Sie hatte so hart dafür gearbeitet, diesen Frauen zu einem besseren Leben zu verhelfen und dazu, das Gute in sich zu finden. Und nun wollte er das alles zerstören.

Nun, wenn er nicht auf Miss Sara Willis hören wollte, dann hörte er vielleicht auf jemand, der höheren Standes war. „Nein, aber mein Bruder kann es“, sagte sie so hochmütig wie möglich. „Und ich sorge dafür, dass er Sie und Ihre Männer ausfindig macht, und wenn das bis zu meinem letzten Atemzug dauert!“

Lachend schüttelte er ihre Hand ab. „Und wer ist Ihr Bruder, dass er es mit einem Piraten aufnehmen möchte? Der Sohn irgendeines Kaufmanns? Oder vielleicht ein Geistlicher?“ „Der Earl of Blackmore. Er wird sich Ihnen an die Fersen heften, wenn ich ihn darum bitte.“

Die Besatzung und der Captain der Chastity stöhnten im Chor auf. Doch Sara verstand nicht, warum sie so bestürzt über ihre Enthüllung waren, da es nun ja keine Rolle mehr spielte.

Leider war die Reaktion von Captain Horn noch weit beunruhigender. Statt der Angst, die sie erhofft hatte, glitzerten seine Augen jetzt kalt, als er ihren Arm mit schmerzhaftem Griff packte und dann Captain Rogers ansah. „Sagt diese Frau die Wahrheit? Ist ihr Bruder wirklich ein britischer Earl?“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Petey Hargraves ihr einen warnenden Blick zuwarf, doch sie ignorierte ihn. Wenn ihre wahre Identität die Frauen retten konnte, musste sie sie enthüllen.

Captain Rogers war leichenblass geworden. „Nicht dass ich wüsste, Sir. Wenn ihr Bruder ein Earl ist, dann ist das völlig neu für mich.“

„Die Frau ist verrückt“, rief Petey aus. „Bildet sich ein, sie sei von höherem Stand. Sie ist nicht die Schwester eines Earls, Cap'n Horn, darauf können Sie sich verlassen.“

Wie konnte Petey es wagen, so zu lügen! Verstand er denn nicht, wie wichtig das war? „Natürlich bin ich die Schwester des Earl of Blackmore! “ protestierte sie. „Ich bin inkognito gereist, um den Behörden in London Bericht zu erstatten über die Behandlung von verurteilten Frauen an Bord dieser Schiffe!“

Sie entwand sich dem Griff des Piraten und suchte in der Tasche ihrer Schürze nach ihrem Tagebuch, das sie immer bei sich trug. Sie zog ein Blatt feines Velinpapier zwischen den Seiten hervor und übergab es Captain Horn.

Jordan hatte darauf bestanden, dass sie für den Notfall irgendeine Art von Identifizierung bei sich trug. Daher hatte er einen Brief geschrieben, in dem er bestätigte, dass Miss Sara Willis seine Schwester sei, und hatte am Schluss das Blackmore-Siegel daruntergesetzt. Glücklicherweise hatte er sie nicht „Stiefschwester“ genannt. Jordan hatte den Brief dafür gedacht, ihr eine problemlose Rückreise von New South Wales zu ermöglichen, doch sie fand die augenblickliche Nutzung weit wichtiger.

Gideon Horn überflog den Brief, und seine Miene verfinsterte sich, als er die Unterschrift las und das Siegel betrachtete.

„Wenn Sie darauf bestehen, diese Frauen mitzunehmen“, sagte Sara in ihrem hochmütigsten Ton, „werde ich dafür sorgen, dass mein Bruder alles in seiner Macht Stehende tun wird, Ihre Pläne zu durchkreuzen. Ich werde nicht eher ruhen, bis er Schiffe aussendet, die die Meere nach Ihnen und Ihren Männern absuchen. Ich werde . . .“

„Es reicht“, unterbrach er sie scharf, faltete den Bogen Papier zusammen und schob ihn unter seinen Gürtel. Er warf ihr ein spöttisches Lächeln zu. „Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht, Miss Willis . . . Lady Sara. Das ändert die Dinge völlig.“

Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Jetzt würde er die Frauen gehen lassen und sich jemand anders suchen, den er quälen konnte.

Doch seine nächsten Worte erschütterten ihre Selbstsicherheit gründlich. „Nun werden Sie uns wohl doch begleiten müssen, Mylady.“