3. KAPITEL

Die tropische Sonne ließ in ihrem schwindenden Licht die Palmenblätter noch einmal aufleuchten, als Captain Gideon Horn der Satyr und sein Schiffskoch Silas Drummond den Pfad hinaufstiegen, der durch den belebten Markt von Praia führte, das im Gebirge von Santiago erbaut worden war. Santiago war die letzte und größte der Kapverdischen Inseln, die Gideon und seine Männer aufsuchten. Sie waren erst auf den kleineren Inseln an Land gegangen, weil sie dachten, dass sie dort mehr Glück hätten, das zu finden, wonach sie suchten. Doch sie hatten sich geirrt. Und nun fürchtete Gideon, dass sie nicht einmal auf Santiago fündig würden.

So hatte er sich entschlossen, lieber Proviant für die Reise zur Insel Atlantis zu kaufen. Wenn Praia ihnen nicht das bieten konnte, was sie wirklich benötigten, hatte es auch keinen Zweck, sich hier noch länger aufzuhalten.

Er betrachtete den Stand, an dem eine Eingeborene Ballen gefärbten Baumwollstoffs verkaufte und die Leute mit Rufen in dem schrecklichen Portugiesisch auf sich aufmerksam machte, das die Insulaner sprachen.

„Wie viel?“ fragte Gideon auf Englisch und wartete dann, bis Silas, der ein wenig Portugiesisch sprach, das übersetzt hatte.

Als die Frau ihn ansah, verschwand ihr Lächeln sofort. Erst rieb sie sich mit den von Indigoblau befleckten Händen den Schweiß von der Stirn. Dann sprudelte sie die Worte nur so heraus und gestikulierte heftig in Gideons Richtung.

Sein stämmiger Übersetzer lachte. „Sie sagt, wenn der amerikanische Pirat die Waren für seine Lady haben will, muss er teuer dafür bezahlen.“

Gideons Miene verfinsterte sich. „Sag ihr, dass ich keine Lady habe und auch nicht so bald haben werde.“ Und noch bevor Silas ein einziges Wort herausbrachte, fügte Gideon hinzu: „Woher weiß sie überhaupt, wer ich bin?“

Silas redete eine Weile auf die Frau ein. Offensichtlich fand sie Gideons Anwesenheit an ihrem Bambusstand beängstigend.

Als sich Silas schließlich Gideon zuwandte, zupfte er an seinem langen braunen Bart herum. „Neuigkeiten verbreiten sich schnell auf den Inseln, Cap'n. Es scheint so, als wüssten alle längst, dass der berüchtigte Piratenlord und seine Besatzung hier sind. Sie hat nur Ihren Säbel im Gürtel gesehen und sich gedacht, dass Sie derjenige sind.“ Silas blickte nachdenklich drein. „Vielleicht hatten wir deshalb so wenig Glück, von diesen verdammten Insulanern das zu bekommen, was wir haben wollten. Nachdem sie herausgefunden hatten, wer wir sind, versteckten sie ihre jungen Frauen vor uns.“

„Schon möglich.“ Gideon schenkte der Marktfrau ein einschmeichelndes Lächeln, das sie ein wenig zu beschwichtigen schien. „Zum Teufel mit der Frau! Sag ihr, dass ich ihren Stoff nicht haben will. Was sollen wir damit, wenn wir keine Frauen bekommen können?“

Silas nickte ernst, als Gideon auf dem Absatz kehrtmachte und in Richtung Docks davonging. Rasch sagte Silas der Marktfrau etwas und eilte dann trotz seines Holzbeins erstaunlich schnell hinter Gideon her. „Und was machen wir jetzt, Cap'n?“

„Ich weiß es nicht. Wir müssen mit der Besatzung sprechen. Vielleicht hatten die anderen ja mehr Glück als wir.“'

„Kann sein“, sagte Silas ohne große Hoffnung.

Schweigend gingen sie die steinigen Pfade von Praia entlang. Gideon war sich kaum des finster aussehenden Mannes neben sich bewusst. Der ganze Plan war gescheitert, und damit hätte er von Anfang an rechnen müssen. Es hatte einfach nicht klappen können.

Er haderte noch immer mit sich, als Barnaby Kent, sein Erster Offizier, ihnen auf dem Bergpfad entgegeneilte. „Ihr erratet nie, was im Hafen eingelaufen ist!“ rief er.

Barnaby war der einzige Engländer, den Gideon jemals in seine Besatzung aufgenommen hatte, doch er hatte es nie bereut. Der Mann war ein begnadeter Seemann, auch wenn er sich wie ein Dandy kleidete.

„Was denn?“ fragte Gideon, als Barnaby keuchend vor ihnen stehen blieb. Es musste etwas Phantastisches sein, wenn es Barnaby zur Eile hatte antreiben können. Der Mann bewegte sich normalerweise lässig langsam und bedachte alles und jeden mit argwöhnischem Blick.

Barnaby beugte sich vor und stützte die Hände auf die Oberschenkel, um zu Atem zu kommen. „Ein Schiff ... ist in den Hafen eingelaufen . . . das uns interessierten könnte.“

Gideon brummte. „Damit sind wir doch längst durch, Barnaby. Wir haben genügend Juwelen, Gold und Silber, um damit ein Kriegsschiff zu füllen, verdammt noch mal. Frauen brauchen wir und keine weitere Beute.“

„Ja, Sir.“ Barnaby richtete sich auf und betupfte sich das Gesicht mit einem Taschentuch. „Und dieses Schiff hat Frauen an Bord. Viele Frauen.“

Gideon und Silas tauschten einen Blick aus. „Was soll das heißen?“ fragte Gideon.

Barnaby atmete jetzt wieder normal und berichtete schnell. „Es ist die Chastity, ein englisches Sträflingsschiff. Es bringt Frauen nach Australien. Soweit ich erfahren konnte, hat es mindestens fünfzig Frauen an Bord, und die würden sicherlich gern gerettet werden, wenn ihr versteht, was ich meine.“

Gideon schaute hinab auf den überfüllten Hafen und rieb sich das Kinn. „Gefangene Frauen, sagst du? Englische gefangene Frauen?“

„Ich weiß, was Sie denken, Cap'n“, warf Silas ein, „doch es spielt keine Rolle, dass sie Engländerinnen sind. Englische Frauen sind so gut wie andere. Nicht alle Männer hassen die Engländer so sehr wie Sie.“

Als Gideon ihn wütend ansah, fügte er hastig hinzu: „Ich verstehe ja völlig, warum Sie sie hassen. Aber diese Frauen hier . . . die gehören nicht zu der Sorte Engländer, die Sie nicht leiden können. Sie sind genauso arme Kreaturen wie unsere Besatzungsmitglieder und haben es immer schon schwer gehabt. Sie werden den Männern gut gefallen, besser jedenfalls als diese hochnäsigen Inselmädchen, die sich zu gut sind für Piraten.“

„Aber wir haben nicht viel Zeit“, bemerkte Barnaby und hielt sich geschickt aus der Diskussion über die Engländer heraus. „Die Chastity sticht morgen früh wieder in See. Sie bleibt nur heute Nacht hier, um Proviant aufzunehmen.“ Gideon ignorierte Barnaby und konzentrierte sich auf seinen normalerweise mürrischen Koch, der kein persönliches Interesse an diesem Plan hatte. Silas verabscheute Frauen und hatte geschworen, sich nie mit einer einzulassen.

„Glaubst du wirklich, dass die Männer mit ihnen zufrieden sein werden?“

„Ja“, sagte Silas, „davon bin ich überzeugt.“

Barnaby zog sich mit wissendem Blick das Halstuch gerade. „Ich werde gewiss mit ihnen zufrieden sein.“

Gideon zögerte. Doch er hatte kaum eine Wahl. Das war die beste Gelegenheit, die sich ihnen hier seit Monaten bot. Und ein Sträflingsschiff war auf See leicht zu kapern, weil diese Schiffe selten schwer bewaffnet waren.

„In Ordnung.“ Als seine beiden Freunde erleichtert auf atmeten, fuhr er fort: „Barnaby, kundschafte alles über das Schiff aus . . . welche Kanonen es hat, seine Ausmaße . . . alles, was wir für das Kapern wissen müssen. Und geh vorsichtig vor, um Gottes willen. Zum Glück haben wir in einem anderen Hafen festgemacht, aber du musst unter allen Umständen verhindern, dass die Besatzung der Chastity erfährt, dass ein Piratenschiff im Hafen liegt. Sieh zu, dass sie sich betrinken, auch wenn du die ganze Nacht ihre Getränke bezahlen musst. Wir wollen die Leute doch nicht erschrecken. “

Als Barnaby zu den Docks davoneilte, wandte er sich an Silas. „Und du treibst die Besatzung zusammen. Sag ihnen, wir setzen im Morgengrauen Segel, und ich möchte sie heute Nacht an Bord sehen.“

Silas nickte und ging.

Gideon rief ihm noch hinterher: „Und verrate ihnen den Grund dafür, damit sie nicht dich dafür verdammen.“ Nachdem Gideon allein war, blickte er in den Hafen hinunter, in dem ein Schiff mit einer sittsam bekleideten weiblichen Galionsfigur im Wasser lag. Das musste die Chastity sein. Da von den Frauen nichts zu sehen war, vermutete er, dass sie während des Aufenthalts im Hafen unter Deck in Ketten gehalten wurden.

Die Besatzung der Chastity lief herum und bemühte sich eifrig, die Segel einzurollen, ehe sie nach Praia in die Trinkstuben und die Bordelle gehen würde. Gut. Mit ein wenig Glück spielten sie Barnaby ja vielleicht in die Hände.

Gideon taxierte das Schiff, soweit das aus dieser Entfernung möglich war. Mit Rahen getakelt, drei Masten . . . und es lag. deutlich schwer im Wasser. Von seinem Standort aus konnte er nur wenige Kanonen sehen, und er zählte gut zwölf Besatzungsmitglieder, weit weniger als seine dreiundsechzig Männer. Eine leichtere Beute hätte er sich kaum wünschen können.

Ach ja. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Du bist eine Schönheit, meine Liebe, und du trägst eine sehr wertvolle Fracht. Das wird so leicht wie eine Weinlese sein.

Er konnte es kaum bis morgen abwarten.

Petey kletterte hinaus auf die Reuelrah, um das Skysegel einzurollen. Doch seine Gedanken beschäftigten sich mit der rätselhaften Miss Willis.

Zwei Wochen war es her, dass er sich mit der zierlichen jungen Dame unterhalten hatte, und sie bestand noch immer darauf, dass er jede Nacht die Frauen bewachte. Sie hatte sogar den Captain dazu gebracht, ihn dort unten ständig zum Dienst einzuteilen. Er hatte gehofft, dass er damit aufhören könnte, wenn die Männer begriffen hatten, dass er es ernst meinte, doch Miss Willis traute niemandem. Sie wollte, dass er jede Nacht dort anwesend war.

Petey wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, fädelte die Leine durch den Block und kletterte vorsichtig auf der Reuelrah zurück. Allerdings hatte seine Lordschaft ihn darauf vorbereitet, dass die Miss ganz schön schwierig sein konnte. Wenigstens hielt sie sich an ihren Teil der Vereinbarung. Gott sei Dank hatte es keine weiteren Auseinandersetzungen zwischen ihr und den Matrosen gegeben. Und das allein lohnte schon die schlaflosen Nächte, die er mit der Bewachung der Frauen auf dem Orlopdeck verbrachte.

Abgesehen von der ersten Nacht, war es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen. Da waren die Frauen recht argwöhnisch gewesen, und die Kinder hatten ihm durch die Gitter zugesehen, wie er seine Hängematte zwischen den Zellen aufgehängt hatte. Es war wirklich keine ruhige Nacht gewesen. Ein Matrose nach dem anderen hatte den Kopf durch die Luke gesteckt, obwohl der Captain ihnen befohlen hatte, an Deck zu bleiben, wenn sie unten nichts zu erledigen hatten. Doch nachdem sie endlich begriffen hatten, dass Petey sie dazu bringen wollte, die Anweisungen des Captains zu befolgen, hatten sie die Versuche aufgegeben.

Danach hatten die Frauen seine Anwesenheit schweigend hingenommen. Einige hatten sich sogar getraut, ihm zu danken. Ein junges Mädchen, ein süßes kleines Ding namens Ann, hatte ihm etwas von ihrem Abendessen angeboten. Da die Frauen aus ihren Essensrationen bessere Mahlzeiten bereiteten als der Koch, hatte er gern ein wenig angenommen.

Natürlich war die Besatzung wütend über seine Einmischung, doch das kümmerte ihn nicht. Sein wahrer Arbeitgeber, der Earl, zahlte ihm das Dreifache seiner Matrosenheuer. Für so viel Geld würde er mit ihnen allen kämpfen, wenn es sein musste.

Zum Glück hatte er nur einen Mann verprügeln müssen, doch der war betrunken gewesen. Die anderen Matrosen hatten versucht, ihm das Leben zu vermiesen, was ihn jedoch nicht störte. Der Erste Offizier schickte ihn so oft wie möglich zur Reuelrah hinauf, um ihn zu strafen. Obwohl der schmächtige Petey sowieso der geeignetste Mann war, war das Zusammenrollen des Skysegels für die meisten Matrosen keine angenehme Aufgabe, weil sie so gefährlich war.

Was der Erste Offizier nicht wusste, war, dass Petey gern oben in der Takelage war. Dort konnte er sich den feinen salzigen Wind um die Ohren wehen lassen und sehen, wie sich der Ozean bei Sonnenaufgang in einen mit blitzenden Diamanten übersäten Teppich zu verwandeln schien. Nachdem sie nun das kalte, trostlose England hinter sich gelassen hatten, schwitzte er gern unter der tropischen Sonne. Außerdem erledigte er lieber gefährliche Aufgaben als so schmutzige wie das Teeren der Leinen.

Er schaute hinab und sah eine kleine Gruppe Frauen das Deck schrubben. Die Gefangenen waren schichtweise zur Arbeit eingeteilt worden, und das schien ihnen nichts auszumachen, da sie ja nun die oberen Decks betreten durften. Er beobachtete sie einen Moment lang. Sie schufteten wirklich. Besser sie als er.

Er blickte auch zu den anderen Männern hinüber, die die

Frauen mit nur mäßigem Interesse musterten. Nachdem sich die Männer in der letzten Nacht in Praia gründlich vergnügt hatten, regte sich in ihnen nur wenig Verlangen nach den gefangenen Frauen.

Doch das würde nicht so bleiben. Petey wusste das nur zu gut. Nachdem er die Frauen zwei Wochen lang bewacht hatte, bedauerte er es jetzt seltsamerweise, dass sie bald wieder unter den Annäherungsversuchen der Besatzung würden leiden müssen.

„Hey, Kumpel“, rief ihm der Matrose zu, der im Krähennest saß, das als Ausguck diente. „Kannst du mich kurz mal vertreten?“

Petey nickte zustimmend und kletterte die Takelage entlang zum Mast hinüber. Er nahm dem Matrosen das Fernrohr ab und schlüpfte ins Krähennest. Aufmerksam betrachtete er den Horizont und schwenkte es dann zur Insel Santiago hinüber, als die Chastity an den letzten vorstehenden Felsen vorbeifuhr. Es war ein Tag wie geschaffen zum Segeln. Obwohl die Chastity in ein oder zwei Tagen die tödliche Stille des Äquators erreichen würde, blähte heute ein leichter Wind ihre Segel und brachte sie an Afrikas Küste entlang nach Süden voran.

Er lehnte sich im Krähennest zurück, und seine Gedanken kehrten zu der kleinen Ann zurück. Ihrer Sprache nach war sie Waliserin. Und auch eine schöne Frau mit cremefarbener Haut und Zähnen, die weiß wie Elfenbein waren. Er fragte sich, was sie wohl getan haben mochte, um hier zu landen. Zu diesen Frauen jedenfalls schien sie nicht zu passen.

Vielleicht riskierte die Schwester des Earl gerade für Mädchen wie Ann so viel, um ihnen zu helfen. Sie bedrängte den Captain ständig, die Haftbedingungen zu verbessern, und sie verbrachte jeden wachen Augenblick unten auf dem Orlopdeck, um den Gefangenen das Lesen beizubringen. Sie hatten London erst zwei Wochen hinter sich gelassen, da sprachen die Frauen schon von Miss Willis wie von einer Heiligen. Er seufzte. Vielleicht war sie das ja auch.

Petey hob das Fernrohr wieder an die Augen und durchforschte die Umgebung. Er hatte eben den Ozean abgesucht und wandte sich gerade den Inseln zu, die sie eben passiert hatten, als etwas seinen Blick fesselte. Er stellte das Fernrohr scharf und atmete heftig ein.

Ein Schiff hatte sich von der Luvseite von Santiago gelöst. Unvermutet war es aufgetaucht, und sein Anblick versetzte ihm einen unangenehmen Stich. Es schien ganz so, als hätte es auf sie gewartet und als folge es ihnen jetzt. Jeder Matrose war misstrauisch, wenn ihm ein anderes Schiff auf See begegnete, besonders, wenn es unerwartet hinter einer Insel hervorglitt.

„Schiff nach Steuerbord!“ rief er zum Ersten Offizier hinunter.

Der schlenderte um den Mast herum. „Was für ein Schiff?“

Petey schaute so lange durchs Fernrohr, bis er einen Schoner mit Kanonen erkannte. Deren Anblick alarmierte ihn. Das war kein Handelsschiff, so viel war klar. Als er die Silhouette nach einer Flagge absuchte, vermochte er keine zu entdecken.

„He, Petey!“ rief der Offizier ungeduldig. „Was siehst du?“

„Es ist ein schneller Schoner. Zwei Masten. Jede Menge Kanonen.“

Die Miene des Ersten Offiziers verfinsterte sich, da er sich nur zu genau vorstellen konnte, was das bedeutete. „Die Flagge. Was hat es für eine Flagge?“ In seinen Schrei stimmte auch der Captain ein, der schon vom Bootsmann an Deck gerufen worden war.

Petey suchte mit dem Fernrohr die Furcht erregenden Flanken des Schiffes noch einmal ab, als er plötzlich etwas Auffälliges bemerkte. „Moment noch! Sie hissen die Flagge gerade!“ Das allein war schon ein schlechtes Zeichen, da die meisten Schiffe schon unter einer bestimmten Flagge segelten.

„ Gott schütze uns “, rief er aus. Denn diese war pechschwarz und zeigte einen grinsenden Totenkopf über gekreuzten Knochen.

„Piraten!“ schrie er. „Piraten nähern sich!“

„Alle Mann an Deck“, befahl der Captain, als der Bootsmann davoneilte, um die Alarmglocke zu läuten. „Bring die Frauen hinunter, und sag den Jungs, sie sollen sich beeilen!“

Nie zuvor war die Schiffsbesatzung so schnell in Gang gekommen und hatte so rasch gehandelt. Ohne auf die Fragen der Frauen zu achten, scheuchten zwei Matrosen sie durch die Luken nach unten, der Captain bellte Befehle, und die restlichen Matrosen rollten hastig die Topps aus und besetzten die wenigen Kanonen.

„Volle Segel!“ schrie der Captain dem Ersten Offizier zu, der den Befehl wiederholte. „Wir fahren ihnen davon!“

Petey bezweifelte das. Er beobachtete das andere Schiff mit dem Fernrohr, doch er konnte keine Vergrößerung des Abstandes zu ihrem erkennen. Der Schoner sah aus, als sei er in Amerika gebaut worden, und sein geringer Tiefgang machte ihn schneller als jede englische Fregatte. Schoner mit amerikanischen Freibeutern hatten den englischen Handelsschiffen während des Kriegs von 1812 böse zugesetzt. Der Krieg war zwar vorüber, doch viele Freibeuter hatten sich der Piraterie verschrieben, und er fürchtete, dass dies bei dem Schiff, das ihnen jetzt hinterherjagte, auch der Fall sein könnte.

Wenn sie sahen, dass sie keine Beute machen konnten, ließen sie die Chastity vielleicht unbehelligt ziehen. Das war schon geschehen, jedenfalls hatte er so etwas gehört.

„Sie kommen näher!“ rief Petey zum Captain hinunter, der wiederum die Matrosen anfeuerte, das Schiff schneller zu bewegen. Doch sie konnten nicht viel tun. Der gleiche Wind trieb beide Schiffe an, nur war das andere leichter und damit auch schneller.

Petey schaute wieder durchs Fernrohr. Jetzt erkannte er die Flagge noch besser. Der Totenkopf sah anders aus als die normalen Totenköpfe mit den gekreuzten Knochen. Etwas an der Form des Kopfes . . .

Hörner. Der Totenkopf hatte Hörner. Sein Mut sank. Nur ein einziges Piratenschiff segelte unter dieser Flagge - die Satyr.

Um ganz sicher zu gehen, fixierte er die Galionsfigur. Als er die verräterische geschnitzte mythologische Figur erkannte, die halb Ziege, halb Mensch war, stöhnte er laut auf. Dann hob er das Glas und entdeckte den schwarzhaarigen Mann am Bug. Es war natürlich die Satyr. Und sein dämonischer Besitzer war Captain Gideon Horn.

„Das ist der Piratenlord selber!“ rief er aus, als er sich das Fernrohr unter den Arm klemmte und den Hauptmast hinunterkletterte. „Das ist Captain Horn von der Satyr! Und wir werden ihm nicht entkommen! Er hat das schnellste Schiff der Welt! “

Als er aufs Deck sprang, kam ihm der Captain mit bleichem Gesicht entgegen. „Bist du sicher, Mann? Der Piratenlord?

Warum sollte der uns verfolgen? Das Schiff gehört keinem Adligen, sondern einem Kaufmann!“

Der Piratenlord verdankte seinen Spitznamen der seltsamen Auswahl seiner Opfer. Das erste Schiff, das er angegriffen hatte, hatte den Eigner an Bord, einen dummen Earl, der den Piraten unklugerweise damit kritisiert hatte, dass er ihm als einem „Mitglied des Oberhauses“ nicht genügend Respekt entgegengebracht habe.

Die Zeugen dieser ersten Kaperung hatten die Antwort des Piraten unsterblich gemacht: „In Amerika sind alle Menschen gleich, und selbst ein Pirat ist ein Lord. Also verbeuge ich mich nur vor Gott, Sir, und bestimmt nicht vor einem geckenhaften englischen Adligen.“ Captain Horn hatte dem Earl alles gestohlen, was dieser besaß, selbst die Kleider, die er am Leib trug. Und er hatte auch einen Kuss von der Frau dieses Mannes geraubt.

Seither hatte die Satyr nur Schiffe angegriffen, die dem englischen Adel gehörten oder adlige Passagiere an Bord hatten, und man munkelte, dass es ihm große Freude machte, sie zu schröpfen. Einige Adlige waren schon inkognito gereist oder hatten sich hinter anderen Partnern versteckt, um sich selbst und ihre Schiffe zu schützen.

Mit ungutem Gefühl dachte Petey an Miss Willis. Sicherlich griff der Mann sie nicht allein ihretwegen an. Obwohl sie die adoptierte Tochter eines Earls war und die Stiefschwester des neuen Earls, war sie dennoch keine echte Lady. Außerdem wusste niemand auf dem Schiff von ihren Verbindungen.

„Sind Sie wirklich sicher, dass der Schiffseigner ein Kaufmann ist?“ fragte er den Captain.

„Ja. Er ist mein Cousin. Ich versichere dir, dass es keine Adligen auf diesem Schiff gibt.“

Außer Miss Willis. Petey wäre am liebsten zu ihr gegangen und hätte sie gebeten, ihren Bruder nicht zu erwähnen, falls sie gekapert wurden. Nein, wenn sie gekapert wurden, denn das schien ja unvermeidlich zu sein.

„Vielleicht lässt uns der Piratenlord ziehen, wenn er feststellt, dass wir keine Beute haben“, meinte Petey.

„Dann wird er uns töten!“ Der Erste Offizier stand am Steuerrad und schleuderte ihnen die Worte entgegen, als hätte Captain Horn selbst die Drohung ausgesprochen. „Ich habe gehört, dass er einen Mann mit einem einzigen Faustschlag niederstrecken kann!“

Petey schluckte. Es gab nicht viel, vor dem er sich fürchtete, doch der Piratenlord gehörte dazu. Soweit er wusste, hatte noch niemand Captain Horn Morde und Verwüstungen vorwerfen können, die bei manchen Piraten üblich waren. Doch das hieß sicher nicht, dass Captain Horn nicht losschlug, wenn er feststellte, dass die Chastity ihm keine Beute zu bieten hatte. „Vielleicht sollten wir kämpfen“, schlug Petey vor.

Captain Rogers schnaubte. „Kämpfen? Bist du verrückt? Das ist die Satyr, Mann. Die hat mindestens dreißig Kanonen! Die schießen uns in Stücke! Wir haben weder die Kanonen noch die Männer, um mit einem gut bewaffneten Piratenschiff mithalten zu können. Und wenn wir tatsächlich kämpfen, werden sie glauben, dass wir etwas Wertvolles verteidigen, und das würde alles nur noch schlimmer für uns machen.“

„Mit unserem schweren Schiff können wir ihnen nicht entkommen“, erklärte Petey. Und als wollte die Satyr seine Worte bestätigen, glitt sie pfeilschnell heran. Bis zum Entern würden es nur noch wenige Momente sein.

Der Captain schaute erst seine Matrosen an und dann seinen Ersten Offizier und Petey. „Wir haben keine Wahl, Männer -es sei denn, ein Wunder rettet uns.“

Das Wunder geschah nicht. Wenig später drohte Captain Horn ihnen, sie mit seinen Kanonen zu beschießen, wenn sie die Chastity nicht anhielten und sie von den Piraten entern ließen. Und erst als Captain Rogers seiner Besatzung den Befehl gab, sich zu ergeben, fiel Petey ein, dass er Miss Willis nun doch nicht vorgewarnt hatte.