7. KAPITEL

Sara fühlte sich wie gelähmt. Seine Lippen berührten sanft ihre. Sein warmer Atem streifte ihre Wange. Dann glitt seine Zunge über die Konturen ihres Mundes, und sie fuhr schockier vor ihm zurück. Er hatte sie geküsst! Dieser Schurke besaß tatsächlich die Unverfrorenheit, sie derart zu liebkosen!

„Was ist los, Lady Sara?“ Seine Stimme klang rau. Seine Augen waren dunkel und blickten wissend drein. Er hob die Hand, umfasste damit ihr Kinn und berührte ihre Unterlippe mit der Kuppe seines Daumens. „Sind Sie noch niemals geküsst worden?“

Ein verräterisches Zittern durchlief sie, als er ihre Lippen mit dem Daumen streichelte. Sie versuchte angestrengt, entsetzt über ihn zu sein, doch es fiel ihr so schwer, zu denken, wenn er sie berührte. „Natürlich bin ich . . . schon geküsst worden.“

Zweifelnd zog er die Augenbrauen hoch. „Wer immer das auch gewesen war, er hat sie nicht davon überzeugt, wie begehrenswert Sie sind.“ Sein schwieliger Daumen folgte den schmaleren Kurven ihrer Oberlippe. „Wer war es? Irgendein Jüngling, der kaum die Schulzeit hinter sich hatte? Ein geckenhafter junger Lord?“

Er machte sich über sie lustig! Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Er war ein englischer Kavallerieoffizier wenn Sie es genau wissen wollen, und überhaupt kein Geck." Sie hob eine Hand, um Gideon von sich wegzuschieben.

Doch er griff danach und schob sie um seinen Nacken. Dort hielt er sie fest und sah mit leuchtenden Augen auf sie herab. „Vielleicht war er kein Geck, aber er war nicht einmal fähig, Sie in England zu halten. Und nicht sehr kundig im Küssen, wenn ich mich nicht ganz täusche. Aber vielleicht brauchen Sie ja noch mehr Erfahrung, um einen Vergleich zu haben.“

Ehe sie ihn aufhalten konnte, presste er seinen Mund auf ihren, fordernd, besitzergreifend. Diesmal war er keineswegs sanft. Er küsste sie so, als hätte er ein Recht dazu. Mit pochendem Herzen griff sie ihm ins Haar und wollte seinen Kopf von sich wegziehen, doch genau in diesem Augenblick schlingerte das Schiff und schleuderte ihn hart gegen sie. Und als sie seine muskulösen Oberschenkel und seinen flachen Bauch spürte, schnappte sie nach Luft.

Im gleichen Moment, als sich ihre Lippen öffneten, stieß er die Zunge in ihren Mund. Und zu ihrem äußersten Entsetzen fand sie es ziemlich erregend. Schockierend erregend. Sie erstarrte und ließ zu, dass er ihren Mund erforschte, und als er. seine Zunge in einem seltsam unwiderstehlichen Rhythmus immer wieder in ihren Mund stieß, vergaß sie, wo und wer sie war. Statt an seinen Haaren zu ziehen, fuhr sie mit den Fingern hinein, um seinen Kopf noch näher an sich zu ziehen. Sie schloss die Augen, als er seinen Mund noch fester auf ihren presste und ihn so kühn in Besitz nahm, wie er die Chastity in Besitz genommen hatte.

Colonel Taylors Küsse waren vorsichtig und zögernd gewesen, als hätte er sie nicht erschrecken wollen. Der Himmel mochte ihr verzeihen, aber ihr gefiel Captain Horns Dreistigkeit. Die heftigen Stöße seiner Zunge, die Art, wie er seine Finger auf ihrem Rücken spreizte und sie noch enger an sich zog. . .

Der Kuss wollte nicht enden, und er wurde immer fordernder, je länger er andauerte. Dann ließ er eine Hand hinunter zu ihrer Hüfte gleiten, dann wieder nach oben, bis sein Daumen über die Unterseite ihrer Brust strich.

Entsetzt riss sie sich von ihm los und fauchte ihn an: „Sie dürfen mich nicht so berühren! Sie dürfen das nicht!“

Sein Atem kam stoßweise, als er sie mit vor Verlangen dunklen Augen ansah. „Warum denn nicht?“

„Weil es nicht. . . schicklich ist!“

Er schob sich eine Haarsträhne zurück, die ihm während ihres wilden Kusses ins Gesicht gefallen war. „Machen Sie nie etwas Unschickliches, Lady Sara?“ erkundigte er sich belustigt.

Lady Sara. Deshalb tat er das wohl alles. Er wollte sie mit Küssen demütigen, weil ihr Bruder ein Earl war. Dieser Gedanke ernüchterte sie. „Ich bin nicht Lady Sara. Eine solche Person gibt es gar nicht.“ Sie wandte sich von Gideon ab. „Ich bin Miss Willis.“

„Nein, nicht Miss Willis.“ Er umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. „Miss Willis ist ein viel zu prüder Name für eine Frau mit so viel Leidenschaftlichkeit.“

„Ich bin nicht leidenschaftlich!“ protestierte sie. „Ich mag nicht. . .“

Ihre restlichen Worte wurden dadurch erstickt, dass er sie wieder besitzergreifend küsste mit der Härte eines Mannes, der zu lange auf See gewesen war. Mit dem Daumen strich er über ihren Hals und fühlte ihren Puls, der sich mit jedem weiteren seiner kühnen Liebkosungen beschleunigte.

Sie versuchte, ihn abzuwehren. Sie versuchte es wirklich. Die Fäuste stemmte sie gegen seine Brust, um ihn fortzuschieben, doch sie erzielte nicht die gewünschte Wirkung. Er packte ihre Handgelenke und presste sie so lange an seine Taille, bis sich ihre Finger öffneten und ihn umfassten. Dann ließ er ihre Handgelenke los, doch nur, um sie noch näher an sich zu ziehen.

Sie dachte nicht mehr, fühlte nur noch. Es gab nur diesen Mann, dessen raue Hände sie berührten und der es schaffte, dass sie sich wie eine Frau fühlte, statt wie eine Reformerin oder die Stiefschwester eines Earl. Er roch nach Meer und schmeckte nach Rum - eine nicht unangenehme Kombination. Sein schneller und unregelmäßiger Atem vermischte sich mit ihrem, als er sie hungrig küsste. Das alles war für sie so neu, dass sie sich aus reinem Vergnügen mitreißen ließ.

Dann packte er sie an den Hüften und presste sie gegen seinen Unterleib, dass sie seine harte Männlichkeit fühlte. Sara erstarrte. Ihre Mutter hatte ihr genau gesagt, wie Männer und Frauen sich liebten, und deshalb wusste sie auch, dass Gideon in höchster Erregung war. Gott im Himmel, sie durfte das nicht zulassen!

Mit einem Schrei schob sie ihn fort und schaffte es, sich zwischen ihm und der Tür herauszuwinden, noch ehe er etwas unternehmen konnte. Ihre Lippen brannten von seinen Küssen, und ihr Herz schlug rasend, doch sie kümmerte sich nicht darum, sondern eilte zum anderen Ende des Raums und brachte sich hinter dem Schreibtisch in Sicherheit.

Mit geröteten Wangen sah sie, dass er sich langsam umdrehte und sie mit glitzernden Augen anblickte. Sie konnte gar nicht glauben, dass sie sich von dieser Bestie hatte anfassen lassen. Das durfte nie mehr geschehen. Sie würde es nicht wieder erlauben!

Finster ging er zum Schreibtisch, beugte sich vor und stützte die Fäuste darauf ab. Ein Furcht erregendes Verlangen funkelte in seinen Augen, und er atmete schwer. „Glauben Sie immer noch, dass Sie nicht leidenschaftlich sind, Sara? Sie können ihre Schicklichkeit weiterhin pflegen, so viel Sie wollen, doch Sie und ich wissen, dass Sie gar nicht so schicklich sind, wie Sie vorgeben.“

„Ich bin weit schicklicher, als Sie je sein können!“

„Gott sei Dank dafür“, murmelte er.

Dass er ihre Beleidigung als ein Kompliment auffasste, machte sie wütend. „Ja, Sie genießen es, ein Tyrann zu sein, nicht wahr? Sie genießen es, über Frauen und Kinder zu herrschen! Sie sind genauso schäbig wie jene englischen Adligen, die ihre Pächter unterdrücken und ihre Frauen wie Leibeigene behandeln!“

Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte, da bedauerte sie sie auch schon, denn er sah sie jetzt so kalt an, dass sie schauderte. „Sie wissen nichts über mich! Gar nichts! Wann sind Sie zuletzt unterdrückt worden, Lady Sara? Wann zuletzt mussten sie sich für ein Stück Brot abrackern oder Faustschläge von . . .“

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Sein Unterkiefer war so angespannt, dass die Narbe auf seiner Wange weiß wurde. Er atmete einige Male tief durch, ehe er mit kühler, fester Stimme fortfuhr: „Ihre Frauen und meine Männer gehören zusammen. Sie verstehen sich. Nur Sie allein begreifen nicht, dass ich diesen Gefangenen etwas anbiete, was sie nirgendwo anders bekommen können - ein Heim und die Chance, einen Ehemann und eine Familie zu haben. Und ja, auch eine Wahl

„Eine Wahl? Jetzt oder später gefesselt zu werden? Was für eine Wahl soll denn das sein?“

„Schluss mit dieser Haarspalterei! Akzeptieren Sie mein Angebot, so wie es ist, dass die Frauen innerhalb einer Woche einen Ehemann für sich aussuchen? Oder muss ich es so machen, wie es ursprünglich gedacht war, dass die Männer sich die Frauen nehmen, die sie heiraten wollen?“

„Was ist mit. .

„Ja oder nein, Sara. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, werde ich mich ohne Ihre Hilfe darum kümmern. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Ja.“ Sie konnte viel besser mit ihm umgehen, wenn er wütend war. „Sie sind ein kleinlicher Tyrann, und was Sie sagen, geschieht. Gut. Wir nehmen Ihr Angebot an. Doch geben Sie nicht mir die Schuld, wenn nicht alles so klappt, wie Sie es geplant haben.“

Zornig blitzte er sie an. „Alles wird genau so ablaufen, wie ich es geplant habe, das versichere ich Ihnen.“

Wie überzeugt er doch von sich war! Dieser anmaßende Captain Horn! Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sein Vorhaben undurchführbar war. Nun, er würde sehr bald erkennen, dass er Menschen nicht wie Zuchtrinder miteinander paaren konnte. Und wenn er dies einsah, dann würde sie über ihn lachen.

Sie straffte die Schulter und sah ihn hochnäsig an. „Kann ich jetzt gehen, Captain Horn?“

„Gideon. Sie können mich Gideon nennen.“

„Das werde ich nicht tun. Nur, weil Sie . . . Sie mich geküsst haben, heißt das nicht, dass . . .“

„Dieser Kuss war ein Fehler. Es wird nicht wieder Vorkommen.“ Kalt blickte er sie an. „Doch wir blutdürstigen Piraten haben nichts für Formelles übrig, also nennen Sie mich trotzdem Gideon.“ Er schlenderte zur Tür und legte die Hand auf den Knauf. „Jetzt können Sie gehen.“

Sie wusste nicht, ob sie verletzt oder erleichtert darüber sein sollte, dass er diesen Kuss bereute. Natürlich bin ich erleichtert, redete sie sich ein. Ich möchte nicht, dass dieser Schurke mich noch einmal anfasst.

„Nun?“ Er öffnete die Tür, als wollte er sie hinausstoßen. So würdevoll wie möglich umrundete sie den Schreibtisch und schritt zur Tür. Auf halbem Weg hielt sie inne und bückte sich, um ihre Haube vom Fußboden aufzuheben.

„Lassen Sie sie liegen“, befahl er schroff. „Sie sehen mit offenem Haar besser aus. Stecken Sie es nicht wieder auf.“ Als sie ihn überrascht anblickte und sich über sein plötzliches Interesse an ihrem Haar wunderte, nachdem er sie eben noch hatte loswerden wollen, fügte er hinzu: „Sie haben eine größere Chance, einen guten Ehemann zu ergattern, wenn Sie Ihr Haar offen tragen, Sara.“

Sie fühlte sich gekränkt, weil er damit andeutete, dass sonst kein Mann für sie einen zweiten Blick übrig haben würde. Hastig griff sie nach der Haube und begann dann, die Haarnadeln aufzusammeln, die auf dem Boden verstreut waren, doch er näherte sich ihr mit einem unterdrückten Fluch.

„Wenn Sie sie aufsetzen, nehme ich sie Ihnen gleich wieder ab.“ Seine Stimme senkte sich zu einem rauen Flüstern. „Und Sie wissen ja schon, was dann geschieht.“

Als er noch näher kam, erhob sie sich, da sie es für vernünftiger hielt, in diesem Moment lieber auf ihre Haarnadeln zu verzichten.

Noch ehe sie etwas unternehmen konnte, riss er ihr die Haube aus den Fingern, ballte sie zusammen und stopfte sie sich in die Hosentasche. „Sie können jetzt gehen. Silas versorgt die Frauen mit Essen. In einer halben Stunde erwarte ich Sie und die anderen Frauen an Deck.“

„Weshalb?“

„Meinen Sie nicht auch, dass wir alle anderen Leute an Bord über die Bedingungen unserer Vereinbarung informieren sollten?“

Die anderen Piraten? Guter Gott, bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht darüber nachgedacht, dass sie noch unterrichtet werden mussten. Sie hatte wirklich keine Lust, dabei zu sein, wenn es dazu kam.

Er stand jetzt dicht neben ihr, und als sie den Kopf hob, hatten seine Augen einen geradezu teuflischen Ausdruck. Nein, er konnte ihr keine Angst einjagen. Auch er war ein verwundbarer Mensch und konnte besiegt werden. Sie hatte nur noch nicht herausgefunden, wie.

„Stimmt etwas nicht?“ stieß er hervor. „Fürchten Sie sich davor, sich meinen Männern zu stellen, wenn ich ihnen sage, dass sie Ihretwegen auf ihr Glück noch eine Weile warten müssen?“

Sie hob ihr Kinn. „Ich fürchte mich vor nichts.“

Seine Miene wurde weicher. Langsam hob er eine Hand und strich ihr das Haar zurück. Sie ertrug seine Berührung nur, um

ihm zu zeigen, dass er sie nicht erschrecken konnte. Obwohl Gott wusste, dass er es tat.

„Ich glaube Ihnen, dass Sie nichts fürchten, Miss Sara Willis“, sagte er und nahm die Hand von ihrer Wange. „Ich vermute, Sie würden es mit dem gesamten englischen Königreich - oder mit der amerikanischen Nation - aufnehmen, wenn Sie müssten.“ Er senkte die Stimme. „Aber ich warne Sie - ich bin kein schrulliger englischer Lord, der sich von einer zarten Frau herumkommandieren lässt, auch wenn sie noch so wundervoll küsst. Und wenn Sie diese Frauen noch einmal aufhetzen sollten, werden Sie einen guten Grund haben, mich zu fürchten. Das verspreche ich Ihnen.“

Daraufhin wies er spöttisch zur Tür.

Mit hoch erhobenem Kopf raffte sie die Röcke und trat über die Schwelle. Dann eilte sie aufs Deck hinaus, während er die Tür zu seiner Kajüte schloss. Zu ihrem Ärger blickten mehrere Piraten hoch, als sie erschien. Vielsagend sahen sie Sara an, die spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.

Lieber Himmel, wie musste sie aussehen - ohne Haube, mit herabhängendem Haar und geröteten Lippen! Was mussten sie von ihr denken!

Was sie dachten, erriet sie an ihrem Grinsen. Sie straffte sich und ignorierte sie, als sie an ihnen vorbei zur Luke eilte. Diese elenden Schurken! Vermutlich waren sie es gewohnt, dass oft Frauen die Kajüte ihres Captains verließen und so aussahen, als hätte er sich mit ihnen vergnügt. Ganz sicher dachten sie, sie sei den Annäherungsversuchen des Piratenlords erlegen gewesen.

Zielstrebig überquerte sie das Deck. Zugegeben, sie war ein wenig schwach geworden. Aber nur bei einem Kuss. Nun ja, bei zwei. Oder waren es drei?

Ach, es spielte doch keine Rolle, wie viele es waren. Mehr würden es jedenfalls nicht werden. Das hatte er gesagt, und sie würde ihn ganz gewiss beim Wort nehmen. Zwischen ihnen würde es keine weiteren Liebkosungen mehr geben, es sei denn, dieser boshafte Pirat zwang sie ihr auf!

Nein, wirklich nicht. Keinen einzigen Kuss mehr!

Petey schloss sich den Piraten an Deck an und hockte mit einem unangenehmen Gefühl in der Brust auf einem Fass, während er darauf wartete, dass der Captain zu sprechen begann. Gott helfe ihm, wie sollte er bloß die kleine Miss beschützen? Als er sich auf die Satyr geschlichen hatte, hatte er überhaupt keinen Plan gehabt. Ganz gewiss würde er es nicht riskieren, ohne Miss Willis nach England zurückzukehren. Das war weniger eine Frage der Pflicht, sondern eher die Angst vor dem, was der Earl ihm und seiner Familie antun würde, wenn er allein zurückkäme.

Nun, der Earl schien einigermaßen vernünftig zu sein, wenngleich er seiner Schwester einen Spion hinterhergeschickt und dafür ein Vermögen bezahlt hatte. Dennoch wagte Petey es nicht, den Zorn des Earl auf sich zu ziehen. Tom brauchte die Arbeit im Haushalt des Earl besonders jetzt, da der Vater den Metzgerladen verloren hatte. Doch Petey fühlte sich, als wäre er vom Regen in die Traufe geraten. Wenn der Earl schon zu fürchten war, dann versetzte ihn der Piratenlord in Angst und Schrecken...

Petey stöhnte. Ihm war ganz elend geworden, als Captain Horn gedroht hatte, ihn auszusetzen. Das war sicher eine übliche Methode bei Piraten, und der Gedanke hatte Petey schaudern lassen. Gott sei Dank hatte er seinen Vater erwähnt. Er wusste bei weitem nicht so viel, wie er vorgegeben hatte. Doch was konnte ein Pirat auch schon mit einem Metzger anfangen?

Er schirmte die Augen mit der Hand vor dem Licht der untergehenden Sonne ab und beobachtete den Piratenlord, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen und wütender Miene über das Achterdeck marschierte. Er war schon schlecht gelaunt gewesen, als er anordnete, dass sich die Männer an Deck versammeln sollten, und dann nach den Frauen schickte.

Petey fragte sich, ob Miss Willis etwas damit zu tun hatte. Sie hatte schon eine scharfe Zunge, und es würde ihn nicht überraschen, wenn sie die dazu benutzt hatte, um den Captain zu tadeln. Um ihretwillen hoffte er, dass sie das nicht getan hatte. Jeder konnte sehen, dass der Piratenlord nicht mit sich spaßen ließ.

In diesem Moment traten die Frauen, angeführt von Miss Willis, aus der Luke hinter Petey heraus. Er fing ihren hilflosen Blick auf, als sie mit den Frauen an ihm vorbeikam.

„Was soll das denn alles?“ hörte er einen Mann neben sich murren. Es war Silas, der zuvor das Essen ausgeteilt hatte.

Der Erste Offizier erwiderte: „Ich weiß es nicht. Aber diese Lady Sara hat etwas damit zu tun. Da könnt ihr sicher sein.“

Petey schluckte. Gebe Gott, dass sie all die Frauen nicht mit ihrer Unruhestifterei zu einem schrecklichen Schicksal verdammt hatte, obwohl er zugeben musste, dass die Frauen bisher gut behandelt worden waren. Prüfend suchte er in der Menge nach der zierlichen Ann, doch er konnte sie nirgends entdecken.

Sobald sich die Frauen an Deck versammelt hatten, bedeutete der Piratenlord Miss Willis mit einem Wink, zu ihm auf das Achterdeck zu kommen. Und sie gehorchte, wenn auch äußerst widerwillig. Als sie schließlich neben dem Captain stand, dessen Furcht erregende Größe sie noch kleiner wirken ließ, begann er zu sprechen.

Anfangs konnte Petey den Worten des Mannes kaum glauben. Eine Kolonie? Die Piraten beabsichtigten, eine Kolonie zu gründen? Und sie wollten, dass die Frauen sich ihnen als Ehefrauen anschlossen? Als der Piratenlord das Schiff geentert und erklärt hatte, dass sie Ehefrauen wollten, hatte Petey das für einen ziemlich boshaften Scherz gehalten. Doch offensichtlich meinte der er das wirklich so.

Wurden Piraten sesshaft? Wer hätte das gedacht? Piraten liebten doch ihre Freiheit viel zu sehr, als dass sie sich irgendwo niederlassen würden. Aber die Männer verhielten sich so, als sei ihnen das alles vertraut. Ja, Petey bemerkte sogar, dass sie die Frauen interessiert musterten, als versuchten sie schon jetzt herauszufinden, welche ihnen gefielen.

Ihn schauderte. Seine kleine Ann sollte von einem dieser grobschlächtigen Männer ausgesucht werden. Nein, das durfte nicht sein! Wenn er jetzt zu den Piraten gehörte, war ihm doch auch eine Frau erlaubt, oder nicht? Und er würde mit jedem Mann um Ann kämpfen.

Danach hörte sich Petey nur noch mit halbem Ohr die Bedingungen an, die der Captain für die Zeit des Werbens festgelegt hatte. Petey dachte an Ann. Wie schön es wäre, sie zur Frau zu haben, sie zu küssen, zu streicheln . . .

Jäh wurde er aus seinen angenehmen Träumen gerissen, als der Erste Offizier ausrief: „Und was ist mit der Schwester des

Earl, Captain? Muss sie sich auch einen Ehemann aussuchen? Oder ist sie schon vergeben?“

Unter dem Gelächter der Piraten blickte Miss Willis schweigend vor sich hin, die Wangen so rot wie der Himmel bei Tagesanbruch. Petey hielt den Atem an und wartete auf die Antwort des Piratenlords.

Captain Horn warf seinem Ersten Offizier einen scharfen Blick zu. „Sie können annehmen, was Sie wollen, Mr. Kent. Und ja, sie wird sich wie alle anderen auch einen Ehemann aussuchen.“

Ein Schauder des Entsetzens erfasste Petey. Dieser verdammte Schurke! Zwang er Miss Willis wirklich, einen dieser Piraten zu heiraten? Aber das war undenkbar! Nicht eine Dame wie sie!

All seine Träume, Ann zu heiraten, schwanden dahin. Wenn Miss Willis auch umworben werden sollte, hatte Petey nur eine Wahl: Er musste seine Pflicht ihr gegenüber tun. Er würde sie heiraten - oder zumindest so tun, um sie vor diesen anderen Kerlen zu schützen, bis er sie wohlbehalten ihrem Bruder zurückbringen konnte.

Oh, aber Ann . . .

Petey ging mit sich selbst ernst ins Gericht. Ann war ja ein hübsches Mädchen, doch seine Pflicht ging vor. Er würde seiner Familie schaden, wenn er Miss Willis' Wohlergehen ignorierte.

Captain Horns Miene war jetzt finster, als missfiele auch ihm das Thema über Miss Willis' zukünftigen Ehemann. Doch er sprach mit ruhiger, kalter Stimme weiter: „Da ihr jetzt die Situation kennt, Männer, erwarte ich von euch ein taktvolles Verhalten. Wir wollen eine Kolonie gründen und kein Bordell. Ihr werdet die Frauen respektvoll behandeln, oder ihr werdet mir Rede und Antwort stehen.“

Miss Willis sah ihn überrascht an, doch er ignorierte sie. „Wenn wir kein schlechtes Wetter bekommen, werden wir die Insel in zwei Tagen erreichen. Bis dahin bleiben eure Pflichten unverändert, doch ihr könnt die Frauen in eurer Freizeit besuchen. Sorgt dafür, dass ihr während der Werbungszeit nicht eure Pflichten vernachlässigt.“

„Die Damen können sich auf dem Schiff frei bewegen, wenn sie den normalen Arbeitsablauf nicht stören. Doch nachts werden sie im Frachtraum eingeschlossen, vor dem ein Wächter postiert wird, falls einige von euch glauben, sie könnten die Hochzeitsnacht schon vor der Hochzeit feiern.“

Einige der Männer murrten, doch das verging schnell, als der Captain sie strafend anschaute. Dann musterte er die Menge, bis sein Blick den Mann neben Petey streifte. „Silas, du findest heraus, welche Fähigkeiten die Frauen haben. Und mach eine Liste der Hilfsmittel, die sie zum Nähen und für andere Arbeiten brauchen. Wir werden uns aus guten Gründen in nächster Zeit zwar von der Insel Santiago fern halten müssen, doch ich könnte nach unserer Ankunft auf Atlantis einige Männer zu einer der anderen Kapverdischen Inseln schicken, um alles Nötige einzukaufen.“

„Die Damen haben schon alle erforderlichen Nähmaterialien“, warf Miss Willis ein. Da sie die ganze Zeit geschwiegen hatte, ließ ihre feste, aber sanfte Stimme nach Captain Horns barscher, kommandierender alle aufhorchen. „Ihnen wurden Werkzeuge und auch Stoffe an Bord der Chastity übergeben, und ich glaube, dass die meisten diese Dinge auch an Bord der Satyr mitgebracht haben.“

Der Captain wandte sich ihr zu, als fiele ihm erst jetzt auf, dass sie neben ihm stand. Man merkte ihm deutlich an, dass er sich nur ungern unterbrechen ließ. „Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, Miss Willis“, sagte er nüchtern. „Möchten Sie noch etwas hinzufügen?“

Unter seinem Blick errötete sie, doch sie hielt ihm stand. „Ja, allerdings. Wenn Sie nichts dagegen haben, Captain, würde ich gern mit dem Lese- und Schreibunterricht fortfahren, den ich den Frauen bisher gegeben habe. “ Als Gideon die Augenbrauen hochzog, fügte sie hastig hinzu: „Wenn Ihre Männer auch daran teilnehmen wollen, können sie das gern tun. “

Die Piraten brachen in lautes Gelächter aus, und Petey glaubte, den Captain auch einen Moment lang schmunzeln gesehen zu haben. Doch als sich Gideon wieder seinen Männern zuwandte, war der Eindruck wieder verschwunden. „Ihr habt gehört, was Miss Willis sagte. Ihr könnt euch den Frauen für den Unterricht anschließen, wenn ihr wollt. Aber nur, wenn ihr nicht auf Wache seid.“ Er bedachte die Besatzung mit einem langen, harten Blick, ehe er hinzufügte: „Ihr seid entlassen. Benehmt euch anständig.“

Als sich die Besatzung zerstreute, wartete Petey noch auf seinem Fass ab, weil er das Deck erst dann weiter mit Sand reinigen konnte, wenn es leer war. Ihm entging nicht, wie der Captain Miss Willis anschaute. Sie schien gar nicht zu merken, dass er mit dem Blick jeder ihrer Bewegungen folgte. Doch anderen fiel es auf.

„Der Captain kann sagen, was er will - ich bin überzeugt, dass er das Mädchen für sich haben möchte“, sagte Silas, der einige Schritte entfernt von Petey stand.

Verstohlen schaute er zu Barnaby hinüber, der skeptisch aussah.

„Da bin ich gar nicht so sicher“, meinte Barnaby. „Sie ist eine englische Adlige, und du weißt doch, was er von denen hält.“

„Hast du nicht bemerkt, wie er sie angesehen hat? Als hätte er zwei Wochen nichts zu essen bekommen, und sie wäre ein vorzügliches Stück Rindfleisch.“ Silas klopfte sich mit dem Pfeifenkopf gegen die Zähne. „Ja, er will sie haben. Der Trick besteht darin, sie dazu zu bringen, dass sie sich ihn aussucht.“

„Das dürfte nicht so schwierig sein. Jede Frau, die Gideon haben möchte, bekommt er auch. Wenn er sie wirklich haben will, wird er sie noch vor dem Ende dieser Woche so weit haben, dass sie ihn bittet, sie zu heiraten. Denk an meine Worte.“-

Petey schaute die beiden Männer entsetzt an. Es war eine Sache, zu versuchen, Miss Willis davor zu schützen, einen der anderen Piraten zu heiraten. Doch dem Captain Horn in die Quere zu kommen war etwas ganz anderes. Da konnte er ja den Kopf auch ebenso gut in den Rachen eines Haifischs stecken!

Plötzlich schien Barnaby zu spüren, dass Petey ihn ansah. Er warf ihm einen scharfen Blick zu. „Was ist los, Bursche? Ab mit dir! Mach deine Arbeit!“

„Aye, aye, Sir“, murmelte Petey. Er ging zu der Stelle, wo er den Eimer stehen gelassen hatte und nahm den Stein auf, den die Seeleute „Gebetbuch“ nannten. Es war ein handflächengroßer, glatter Stein, mit dem die schwer erreichbaren Stellen an Deck gereinigt wurden. Doch als er sich auf die Knie fallen ließ und die Teakplanken zu schrubben begann, dachte er wieder an Miss Willis. Er musste eine Möglichkeit finden, mit ihr zu sprechen. Dann würde er sie warnen, vorsichtig mit dem Captain umzugehen.

Doch wenn sie nicht äußerst vorsichtig war, wäre Petey sicherlich irgendwann gezwungen, zu drastischen Mitteln zu greifen, um sie vor dem Piratenlord zu schützen. Und es reizte ihn keineswegs, sich auf einen Kampf mit diesem Ungeheuer von einem amerikanischen Captain einzulassen.