10. KAPITEL

Noch vor Sonnenaufgang stand Sara schon auf. Sie brauchte zum Waschen nur wenig Zeit und zog sich ihr Kleid über das Unterkleid, in dem sie geschlafen hatte. Weil sie keine Bürste hatte, fuhr sie sich nur mit den Fingern durchs Haar und rieb sich anschließend das Gesicht mit Meerwasser aus einem Eimer ab, den ein gewissenhafter Pirat vor ihrer Tür hinterlassen hatte. Dann eilte sie aus ihrer Kabine hinaus aufs Deck.

Sie hatte vor, mit Petey zu sprechen. Falls er eine Möglichkeit zur Flucht sah, sollte er auch ohne sie zu entkommen versuchen. Das wollte sie ihm sagen. Doch dazu musste sie ihn erst einmal finden.

Bevor sie sich gestern getrennt hatten, hatte er ihr erklärt, dass er heute Morgen Wache habe. Vielleicht entdeckte sie ihn ja, noch ehe alle anderen erwachten. Sie schaute sich auf dem Deck um und war erleichtert, dass die wenigen Wachhabenden sie kaum beachteten. Doch wo war Petey?

Vielleicht hatte man ihn in die Takelage hinaufgeschickt, wie Captain Rogers das oft gemacht hatte. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand gegen das Licht der aufgehenden Sonne, hob den Kopf und ließ den Blick über die Masten schweifen. „Wen suchen Sie denn?“ fragte eine tiefe Stimme neben ihr. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Es war Gideon. Warum schlief er denn nicht mehr?

Sie merkte erst, dass sie ihn anstarrte, als er mit leiser und rauer Stimme fragte: „Nun?“

„Ich. . . ich . . .“ Wütend sagte sie das Einzige, was ihr gerade einfiel. „Sie.“

Argwöhnisch blickte er sie an. „In der Takelage?“

„Ja. Warum denn nicht?“

„Entweder haben Sie keine Ahnung von den Aufgaben eines Captain, oder Sie lügen. Was ist es also?“

Sie ignorierte das unbehagliche Gefühl, das sie beschlich, und rang sich ein Lächeln ab. „Gideon, Sie sind wirklich sehr misstrauisch. Gestern Abend haben Sie mir vorgeworfen, dass ich hinter Ihrem Rücken Pläne schmiede, und heute behaupten Sie, dass ich lüge. Nach wem, außer Ihnen, sollte ich denn wohl suchen?“

Obwohl er ihr durchdringend in die Augen sah, als versuchte er, die Wahrheit darin aufzustöbern, schaute sie ihn unschuldig

an.

Er blieb skeptisch. „Und warum suchen Sie nach mir?“ Was sollte sie denn nun darauf antworten? „Weil. . . weil ich nach unten gehen möchte.“ Ja, das war eine vernünftige Erklärung. „Ich möchte nach den Frauen sehen und mit dem Unterricht beginnen. Ich brauche ja wohl Ihre Erlaubnis dafür, da Sie sicher eine Wache . . .“

„Ist es denn nicht noch ein bisschen früh für den Unterricht? Die meisten Frauen werden doch noch schlafen.“

Seine hochgezogenen Augenbrauen machten deutlich, dass er ihr nicht glaubte. Ihr Mut sank. Schon Jordan hatte liebevoll festgestellt, dass sie keine gute Lügnerin war. Doch nie zuvor hatte sie einen verzweifelteren Grund für die Unwahrheit gehabt.

Sie wandte sich von ihm ab, ehe ihr Gesichtsausdruck sie verraten konnte. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Es ist wirklich früh. Vielleicht mache ich erst einmal eine Runde ums Deck.“ Und dabei konnte sie nach Petey Ausschau halten und Gideon vielleicht abschütteln.

„Das ist eine großartige Idee“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Es ist ein herrlicher Morgen und noch nicht heiß. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie begleite?“ Zur Hölle mit ihm. Der misstrauische Rüpel schien sie nicht aus den Augen lassen zu wollen. Sie zwang sich dazu, ihn fest anzuschauen. „Habe ich eine Wahl?“

„Sie haben immer eine Wahl, Sara.“ Unter seiner grollenden Stimme liefen ihr kleine Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal lächelte er sie strahlend an. Das brachte sie völlig aus der Fassung und erinnerte sie daran, wie er sie gestern in seiner Kajüte festgehalten und leidenschaftlich geküsst hatte.

Wenn er nur nicht so umwerfend gut aussehen würde. Warum musste Gott die abscheulichsten Männer mit einem

Äußeren ausstatten, das Frauen schwach werden ließ? Erst Oberst Taylor und nun auch noch dieser Pirat. Das war verdammt unfair.

Sie stöhnte. Der Halunke brachte sie sogar zum Fluchen, Wo sollte das bloß enden?

Mit höflicher Geste, die gar nicht zu seinem Aufzug passte, bot er ihr den Arm. Sie zögerte. Er schaffte es, das Schlimmste aus ihr herauszulocken, und im Augenblick wollte sie lieber einen klaren Kopf behalten.

Andererseits wollte sie Gideon besser nicht provozieren, weil sie fürchtete, seinem Charme nicht widerstehen zu können. Es war besser, wenn sie ihre Kämpfe sorgfältig plante. Und davon würde es noch genügend geben.

Sie schob die Hand in seine nackte Armbeuge und ließ sich von ihm übers Deck führen. Ihre bloßen Finger berührten seine Haut. So eine Intimität war sie nicht gewöhnt. Wenn sie in London am Arm eines Mannes gegangen war, hatte sie nur den Stoff seiner Kleidung gefühlt.

Jedes Mal, wenn Gideon einen Muskel anspannte, spürte sie das, und seine Haut strahlte eine Hitze aus, die erst ihre Finger wärmte, dann ihren Arm und sich schließlich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ach, sie wünschte sich so sehr, sie hätte ihre Handschuhe nicht auf der Chastity zurückgelassen.

Schweigend spazierten sie eine Weile nebeneinander her. Sie kamen an einem Piraten vorbei, der die Messingbeschläge der Ankerwinde polierte, doch als Sara versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, um festzustellen, ob er Petey war, klemmte Gideon ihre Hand fester in seine Armbeuge.

„Sara, was kann eine Dame wie Sie dazu bringen, mit der Chastity zu fahren? Warum haben Sie so eine harte und gefährliche Reise auf sich genommen?“

„Sie wurde erst gefährlich, als Sie und Ihre gierigen Piraten auftauchten“, erwiderte sie spitz.

„Ich kann Ihnen versichern, dass es viel gefährlicher geworden wäre, wenn sie weiter auf der Chastity geblieben wären. Schon viele Schiffe sind in den rauen Gewässern des Kaps untergegangen, auch ein oder zwei Sträflingsschiffe. Dass eine Frau Ihres Standes sich für eine Gruppe armer Unglücklicher in Gefahr begibt, macht die Angelegenheit noch seltsamer.“ Sein Ton wurde schärfer. „Wenn es nur um die Unterhaltung gehen würde, hätte sich doch die Tochter eines Earl auf den zahlreichen Bällen genügend amüsieren können.“

Meine Güte, was für eine Idee! Wie konnte er so etwas annehmen, da er sie doch überhaupt nicht kannte!

Sie ließ seinen Arm los, ging von Gideon weg und trat an die Reling. Dass dieser große Mann hinter ihr stand, beunruhigte sie sehr. „Wie meine Mutter habe auch ich mein Leben lang für Reformen gekämpft. Ihr Leitsatz war: ,Nur eine mitleidige Seele kann die Dinge verbessern.1 Und nach diesem Motto habe auch ich so gut wie möglich gehandelt.“

Sara umfasste ihr Medaillon. Ihre frühesten Erinnerungen waren, dass sie Gefangenen Körbe mit Nahrungsmitteln gebracht hatten und dass sie bei der Herstellung von Steppdecken für die Armen das Nähen erlernt hatte.

„Und Ihr Vater?“ fragte Gideon.

„Mein richtiger Vater starb im Schuldgefängnis, als ich zwei Jahre alt war.“

Betroffen schwieg Gideon. Als er nach einer Weile wieder sprach, klang echtes Mitgefühl in seiner Stimme. „Das tut mir Leid.“

„Ich habe ihn nie kennen gelernt, doch meine Mutter hat ihn sehr geliebt. Nach seinem Tod wollte sie nur noch das Leben der Leidenden verbessern. Obwohl sie wenig Geld und noch geringere Zukunftsaussichten hatte, hat sie sich bei den Behörden für Gefangene eingesetzt und Gesuche an das Oberhaus geschickt, damit ungerechte Gesetze geändert wurden. Bei dieser Gelegenheit hat sie Lord Blackmore, meinen Stiefvater, kennen gelernt und ihn geheiratet.“

Gideon stellte sich neben Sara und lehnte sich an die Reling. „Und er hat ihren guten Taten ein Ende gesetzt, nicht wahr?“ Sie sah ihn an, doch er hatte den Blick starr auf das glitzernde Wasser des Meeres gerichtet.

„Nein“, sagte sie sanft. „Er hat ihre Reformbemühungen bis zu ihrem Tod unterstützt.“ Sie fuhr mit den Fingern über die glänzende Reling. „Sie nahm mich immer mit und vermittelte mir den Glauben, dass die Menschen sich von einer ungerechten Welt befreien können, wenn sie es nur versuchen. Und ich bin einfach ... in ihre Fußstapfen getreten.“ Sie lächelte. „Da sie und mein Stiefvater nun tot sind, halte ich es für meine Pflicht, nach ihrem Lebensgrundsatz zu handeln.“

„Bedeutet dies auch, dass man eine junge Frau von Stand mit Dieben und Mördern auf Reisen schickt?“

Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. „Eben haben Sie die Leute noch ,arme Unglückliche“ genannt.“ Das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, ließ seine Züge ein wenig weicher erscheinen. „Wirklich? Dennoch verstehe ich nicht, warum Ihr Stiefbruder solch ein riskantes Unternehmen gutheißen konnte, auch wenn es für einen guten Zweck war. “

„Das hat er ja auch nicht.“ Wolken waren aufgezogen und schoben sich jetzt vor die Sonne. „Er hat versucht, mich davon abzuhalten. Doch das war natürlich zwecklos. Ich bin alt genug, zu tun, was mir beliebt, mit oder ohne seine Erlaubnis, und so musste er sich schließlich damit abfinden.“

Gideons Lächeln verschwand. „Das scheinen Sie sich ja wohl zur Gewohnheit gemacht zu haben.“ Er stützte einen Ellbogen auf die Reling und sah sie an. „Aber lassen Sie sich von mir warnen, Sara Willis. Ihre Familie mag Ihren Eigensinn dulden, ich jedoch tue es nicht. Ihren Launen werden Sie weder auf meinem Schiff noch auf meiner Insel nachgehen.“ „Ihre Insel? Ich dachte, Atlantis würde niemand gehören. Soll auf ihr nicht das Prinzip einer klassenlosen Gesellschaft verwirklicht werden?“

Sein Gesicht verdunkelte sich. „Ja, natürlich. Doch irgendjemand muss Regeln festlegen und durchsetzen, und meine Männer haben mich dazu auserwählt. Also werden meine Regeln auf der Insel gelten.“ Er hielt inne. „Ich weiß, dass dies für jemand wie Sie hart ist. Sie sind es gewöhnt, dass Sie als Tochter des Earl of Blackmore das bekommen, was Sie wollen. Doch Sie werden sich anpassen oder lernen müssen, was I es heißt, sich gegen die Obrigkeit zu stellen.“

Sie ignorierte seine Drohung, doch dass er ,die Tochter des Earl of Blackmore mit so viel Geringschätzung gesagt hatte, erregte ihre Neugierde. Warum hatte er nur einen so unsäglichen Hass auf den Adel? Das rührte sicherlich nicht nur daher, dass er ein Amerikaner war.

„Ich frage mich, wer Sie gelehrt hat, was es heißt, sich gegen die Obrigkeit zu stellen. Und ich frage mich auch, welche Erfahrung Sie gelehrt hat, Frauen von Stand so sehr zu verabscheuen.“

Einen Moment lang fürchtete sie, sie wäre zu weit gegangen. Seine Augen funkelten, als er sich von der Reling abstieß. Jeder Muskel seines schlanken Oberkörper spannte sich wie bei einem Tier an, das kurz vor dem Absprung war. Und sie wich unwillkürlich vor ihm zurück, die Hand an der Kehle.

„Glauben Sie mir“, sagte er gefährlich leise, „es ist besser, wenn Sie das nicht so genau wissen.“

Er machte auf dem Absatz kehrt, schritt rasch in Richtung Vorderdeck davon und ließ sie zurück.

Nach einem flüchtigen Blick auf den Kompass drehte Gideon das Steuerrad um eine Vierteldrehung herum. Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen schräg über das Achterdeck und wärmten ihm Kopf und Rücken. Leider war ihm, dank Sara Willis, schon viel zu warm.

Er war ihr den ganzen Tag lang ausgewichen, nachdem er Barnaby mit ihrer Beaufsichtigung betraut hatte. Doch er hatte weiter über sie nachdenken müssen. Ihre Mutter, eine Reformerin, das hatte ihn überrascht. Außerdem war sie mit einem Earl verheiratet gewesen. Verblüffend.

Aber wahrscheinlich war das alles nicht ganz so dramatisch, wie Sara es hingestellt hatte. Ihre und die Reformbemühungen ihrer Mutter hatten sich vermutlich nur auf sichere Situationen beschränkt. Er hatte genügend englische Earls kennen gelernt, um zu wissen, dass sie übervorsichtig und anmaßend waren, die ihren weiblichen Verwandten nicht erlaubten herumzureisen und sich die Hände bei der Fürsorge Armer schmutzig zu machen.

Trotzdem war Sara mit der Chastity gereist. Und sie hatte sich auch ohne Rücksicht auf sich selbst für die Gefangenen eingesetzt. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte sie ihm von ihrem Stiefbruder nur deshalb erzählt, weil sie ihn davon hatte abbringen wollen, die Chastity zu kapern. So verhielt sich keine ängstliche oder verwöhnte Dame.

Er lächelte in sich hinein. Wenn es um die Frauen und ihr Wohlergehen ging, kämpfte sie wie eine gut bewaffnete Brigg. Ihr Mut war erschreckend . . . und ernüchternd. Sie hatte es sogar geschafft, dass er an der Berechtigung, das Sträflingsschiff zu kapern, zweifelte.

Aber vermutlich würde dieser verfluchte, Röcke tragende

Soldat jeden Mann an seinen Taten zweifeln lassen. Gott helfe dem Mann, der sie heiratete. Sie würde ihn Tag und Nacht antreiben und ihn keinen Augenblick zur Ruhe kommen lassen.

Außer, wenn er sie liebte. Er stöhnte. Warum sah er Sara jedes Mal, wenn er an sie dachte, im Bett vor sich, mit ausgestreckten Armen und sinnlich verschleiertem Blick, während sie ihn anlockte wie eine Sirene, die nach einem Seemann ruft?

Nein, nicht ihn. Denn er würde sich nicht selbst vernichten.

Doch dann würde ein anderer Mann das Vergnügen haben, sie zu küssen, ihr seidenes Haar zu berühren, ihren nackten Körper zu streicheln ... Er stieß einen lauten Fluch aus, weil sein Körper sofort reagierte. Wenn er nicht aufhörte, an sie zu denken, würde er verrückt werden oder den Rest seines Lebens in kaltem Wasser verbringen müssen.

„Gideon, du solltest mal nach unten gehen und dir anhören, was diese Miss Willis unterrichtet“, sagte Barnaby hinter ihm. Er stand mit amüsierter Miene oben auf der Leiter zum Achterdeck.

„Mich kann nichts, was sie sagt oder tut, mehr überraschen.“ Gideon konzentrierte sich wieder auf das Steuerrad. Er würde sich Sara überhaupt nicht mehr nähern, jedenfalls nicht, wenn er sich so wie jetzt fühlte. Sollte sich Barnaby heute doch um sie kümmern.

„Vielleicht nicht, doch man kann sich trotzdem Gedanken darüber machen. Du hast mehr Bildung als ich, aber ist Lysistrata nicht das Drama, in dem die Frauen sich so lange ihren Ehemännern verweigern, bis diese den Krieg beenden?“

Stöhnend klammerte sich Gideon ans Steuerrad. Lysistrata gehörte zu den Werken der Literatur, mit denen sein Vater ihn geplagt hatte, kaum dass er hatte lesen können. „Ja. Aber erzähl mir nicht, dass sie ihnen das beibringt. Das ist Griechisch, um Himmels willen. Selbst wenn sie es so gut kennt, dass sie es rezitieren kann, werden sie kein Wort davon verstehen.“

„Sie kennt es so gut, dass sie imstande ist, ihnen eine freie Zusammenfassung zu geben. Als ich fortging, erzählte sie ihnen begeistert die Geschichte.“

Barnaby übernahm das Steuerrad, als Gideon es ihm fluchend überließ. „Ich hätte sie geknebelt und gefesselt nach England zurückschicken sollen“, grollte er auf dem Weg zur Leiter.

Während er hinabstieg, hörte er Sara eifrig sprechen. Lächelnd hörte er sich ihre Version des Stückes an, bei der sie viele phallische Wortspiele einfach ausließ. Nur Sara konnte Lysistrata, das unflätigste aller griechischen Dramen, in eine keusche Geschichte verwandeln.

Mit wieder ernster Miene ging er ganz hinunter. Sara war umringt von ungefähr dreißig Frauen und Kindern, die ihren Worten begierig lauschten. Wie schaffte sie es bloß, diese Frauen, die die schlimmste Seite des Lebens kennen gelernt hatten, so zu fesseln? Sie vertrauten ihr und waren bereit, mit ihr alle möglichen Schwierigkeiten durchzustehen. Doch das würde er nicht noch einmal zulassen. Alles lief gut, und sie würde das nicht mit ihrer ständigen Aufhetzerei gefährden.

Als er näher trat, drehte Sara sich um. Sofort errötete sie schuldbewusst, was ihm ihre Absichten verriet.

„Guten Abend, meine Damen“, sagte er eisig. „Der Unterricht ist für heute beendet. Warum gehen Sie nicht alle an Deck und schnappen eine bisschen frische Luft?“

Empört blickte Sara ihn an. „Sie haben kein Recht, meinen Unterricht zu beenden, Captain Horn. Wir sind noch nicht fertig. Ich erzähle ihnen gerade eine Geschichte . . .“

„Ich weiß. Es dreht sich um Lysistrata." Zuerst sah sie ihn überrascht, dann hochnäsig an. „Ja, Lysistrata“, sagte sie mit honigsüßer Stimme, die ihn nicht täuschen konnte. „Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich die Frauen mit den großen Werken der Weltliteratur vertraut mache, Captain Horn.“

„Kaum.“ Er stützte die Hände in die Seiten. „Aber glauben Sie nicht auch, dass Aristophanes die Auffassungsgabe Ihrer Schülerinnen ein wenig übersteigt?“

Er freute sich über ihre schockierte Miene. Doch sie fing sich schnell wieder und richtete sich kerzengerade auf. „Was wissen Sie denn schon von Aristophanes?“

„Man muss kein englischer Lord sein, um in der Literatur bewandert zu sein, Miss Sara. Ich kenne die Schriftsteller, von denen ihr Engländer so angetan seid. Jeder von ihnen wäre eine bessere Wahl als Aristophanes.“

Als sie ihn wenig überzeugt anschaute, kramte er in seinem Gedächtnis nach passenden Versen.

„Sie erzählen ihnen etwas über Lysistrata, und dabei sollten Sie ihnen lieber sagen: .Dein Ehemann ist dein Herr, dein Erhalter, / Dein Licht, dein Haupt, dein Fürst, / Er sorgt für dich / Und deinen Unterhalt, gibt seinen Leib / Mühsel'ger Arbeit preis zu Land und Meer.“ Ihre Überraschung über seine Shakespeare-Kenntnisse verging, sobald sie die Stelle erkannte, die er zitiert hatte.

Saras Augen glitzerten, als sie auf ihn zukam. „Wir sind noch nicht Ihre Frauen. Und Shakespeare hat auch gesagt: ,Klagt Mädchen, klagt nicht Ach und Weh, / Kein Mann bewahrt die Treue. / Am Ufer halb, halb schon zur See / Reizt, lockt sie nur das Neue.““

„O ja, Viel Lärm um nichts. Doch sogar Beatrice ändert am Schluss ihre Meinung. Ich glaube, Beatrice sagt: ,Leb wohl dann, Mädchenstolz, auf immerdar / Mich lüstet nimmermehr nach solchen Preisen. / Und Benedict, lieb immer: So gewöhn ich / Mein wildes Herz an deine teure Hand.“

„Man hat sie mit einem Trick dazu gebracht, das zu sagen. Man zwang sie genauso, ihn zu akzeptieren, wie Sie uns zwingen!“

„Ich zwinge Sie?“ schrie er. „Sie wissen ja gar nicht, was Zwang ist! Ich schwöre, wenn Sie . . .“

Er hörte mitten im Satz auf, weil er merkte, dass die Frauen ihn angstvoll ansahen. Sara drehte ihm die Worte so erfolgreich im Mund herum, dass er wie ein Ungeheuer wirkte. „Raus!“ herrschte er die Frauen an. „Ich will mit Miss Willis allein sprechen!“

Das musste er nicht zweimal sagen. Nachdem sie gegangen waren, wandte Sara sich ihm mit flammendem Blick zu. „Wie können Sie es wagen! Sie haben nicht das Recht, einfach hier hereinzuspazieren und meine Schülerinnen zu entlassen, Sie . . . Sie anmaßender, eingebildeter Grobian!“

Auch wenn sie mit ihrer Anschuldigung nicht ganz Unrecht hatte, konnte er sie nicht tolerieren. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. „Ich habe es satt, von Ihnen grob genannt zu werden, Sara. Sind Sie auf diesem Schiff in irgendeiner Weise misshandelt worden? Geschlagen? Hat man Sie in Ihrer Kajüte eingesperrt?“

„Nein, aber das ist sicherlich nur eine Frage der Zeit! Und Sie haben sich mir gestern aufgezwungen!“

Sara bedauerte ihre Worte sofort. An den gestrigen Kuss hätten sie beide nicht mehr rühren sollen. Und ausgerechnet sie hätte ihn nicht erwähnen dürfen - vor allem nicht derart aufmüpfig.

Gleich darauf packte Gideon sie an der Taille, noch ehe sie vor ihm fliehen konnte. „Ist das gestern passiert? Habe ich mich Ihnen aufgedrängt, und haben Sie meine Küsse nur erduldet? Seltsam, ich erinnere mich an etwas ganz anderes.“ Seine Stimme senkte sich zu einem rauen Flüstern. „Ich erinnere mich, dass sich Ihr Mund unter meinem geöffnet hat, dass Sie ihre Hände in mein Haar geschoben und sich an mich geschmiegt haben. So reagiert eine Frau nicht, wenn man Gewalt anwendet.“

Sie war wütend, dass er ihr ihre eigene Schwäche vorhielt, und presste die Fäuste gegen seine Brust, doch er zerrte sie dicht an sich, so dass sie seine festen Oberschenkel spürte. „Sie haben keine Vorstellung davon, was Gewalt ist, Sara. Vielleicht wird es Zeit, dass jemand Ihnen einmal zeigt, was wahre Gewalt ist.“

„Nein“, flüstere sie, als er den Kopf senkte, doch sein Mund auf ihrem schnitt ihr jeden weiteren Protest ab.

Sein Kuss war hart und unbarmherzig und seine Umarmung beinahe schmerzhaft. Sie wand sich und versuchte, sich zu befreien. Mit funkelnden Augen setzte er sie daraufhin auf eine hohe Truhe. Dann nahm er ihre Handgelenke und drehte sie ihr auf den Rücken. Dort hielt er sie mit einer Hand fest, während er mit der anderen ihr Kinn umfasste und ihren Kopf so ruhig hielt, dass er sie wieder küssen konnte.

Das war ein strafender Kuss, der dazu gedacht war, sie das Hassen zu lehren. Und Hass empfand sie auch in diesem Augenblick. Er versuchte, seine Zunge zwischen ihre Zähne zu schieben, doch sie presste sie fest zusammen, weil sie ihn diese Schlacht nicht gewinnen lassen wollte. Als ihr klar wurde, dass sie sich nicht befreien konnte, biss sie ihn in die Unterlippe. Fluchend zog er seinen Kopf zurück, ließ sie jedoch nicht los, obwohl er blutete.

„Das, meine liebe Sara, ist Gewalt“, stieß er mühsam heraus. „Und Sie mochten sie nicht, oder?“

Ihr war, als würde sie in seinen Augen einen Ausdruck von Schuldbewusstsein erkennen, doch das wies sie weit von sich. Dieses Scheusal konnte so ein Gefühl ja gar nicht empfinden!

Dann wurde sein Blick im Licht der Laterne weicher, und seine Stimme hatte einen zärtlichen Unterton. „Ich nehme Ihnen das nicht übel. Ich mag Gewalt auch nicht. Ich möchte nicht, dass Sie mit mir kämpfen. “

Jetzt betrachtete er sie so, als wollte er sich jede Einzelheit ihres Gesichtes für immer einprägen. Er lockerte den Griff um ihr Kinn und umfasste sanft ihren Hals. Als sie den Atem anhielt, ließ er die Finger über die weiche Haut gleiten. „Nein“, sagte er rau. „Ich finde es schöner, wenn Sie so sind wie gestern . . . weich . . . liebevoll. . . anschmiegsam . . .“

Die Worte selbst waren wie eine Liebkosung, und die Art, wie er ihren Mund anschaute, sandte ihr erregende Schauer über den Rücken. Sie kämpfte gegen diese verräterischen Gefühle an. „Nie werden Sie mich bekommen.“

„Nein?“ Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. Er senkte den Kopf, und sie machte sich auf einen weiteren brutalen Kuss gefasst. Doch er presste den Mund auf den Puls seitlich an ihrem Hals.

Seine Lippen waren warm und weich und ganz anders als noch kurz zuvor. Sie versuchte, still zu sitzen und so zu tun, als brachte er ihr Blut nicht in Wallung. Vergeblich. Wellen der Erregung durchfluteten ihren Körper und ließen sie erbeben. Jetzt glitt er mit dem Mund zu ihrem Ohr und bedeckte dann ihre Wange mit Küssen, während seine rauen Koteletten sie kratzten.

Sie ignorierte das Verlangen, das ihren Widerstand erlahmte, atmete tief durch und bemühte sich, so reserviert zu bleiben, wie das jeder Frau nur möglich war, wenn ein Mann ihren Körper mit tausend köstlichen Zärtlichkeiten verwöhnte. Doch als er begann, ihr Gesicht überall zu küssen, nur nicht ihren Mund, sehnte sie sich gerade danach.

Und dieser Schuft schien genau zu wissen, was sie wollte. Er zog sich einen Moment lang zurück und betrachtete ihre bebenden Lippen. Dann presste er seine auf ihre.

Seine Zunge folgte deren Konturen und drängte sich dann heftig in ihren Mund. Sara befahl sich, ihn abzuwehren, wie es sich für die anständige Tochter eines Earl gehörte. Er hatte kein Recht, so mit ihr umzugehen.

Doch sie konnte nicht mehr kämpfen. Er fühlte sich so stark und männlich an. Im Frachtraum des Schiffs war er in seinem ,

Element. Und selbst dessen Schaukeln schien ihm in die Hände zu spielen, weil es sie dazu zwang, sich an ihn zu lehnen, um nicht die Balance auf der Truhe zu verlieren. Er stieß die Zunge besitzergreifend in ihren Mund, und jeder weitere Stoß ließ sie immer schwächer werden .. . Lieber Himmel, niemand hatte sie das jemals fühlen lassen, diese verräterische Unruhe, diesen Drang, jede Liebkosung mit der gleichen Inbrunst zu erwidern.

Als seine Hand ihren Hals hinabglitt und auf ihrer Brust verharrte, schmolz sie wie Wachs dahin.

Gideon fühlte den Wandel in ihr sofort, besonders, als er ihre Hände losließ. Statt ihn jetzt fortzustoßen, ließ sie sie unter seine Weste gleiten. Zum Teufel mit ihr, sie war unglaublich. Warum verachtete sie ihn nicht für seine kühnen Zärtlichkeiten? Er selber verachtete sich so sehr dafür, dass er sie noch einmal geküsst hatte, um ihr zu zeigen, dass er nicht das Ungeheuer war, für das sie ihn hielt.

Jetzt wollte Gideon nur eins: Sie berühren und streicheln. Und er konnte sich nicht mehr zurückhalten.

Ihre Reaktion war so unschuldig, so ungeübt... so verführerisch. Am liebsten hätte er ihr die Kleider heruntergerissen, sie auf eine der Schlafmatten gelegt, um mit ihrem wundervollen Körper zu verschmelzen. Er stöhnte, als sie die Arme fester um seine Taille schlang. Er musste seine Gefühle beherrschen, weil er ihr nur so zeigen konnte, wie sehr sich Gewalt von gegenseitiger Befriedigung unterschied. Dann erst konnte er von ihr ablassen.

Aber später. Viel später. Nachdem er sie überall berührt und ihren Körper ganz und gar erforscht hatte, der ihn in der vergangenen Nacht Stunde um Stunde wach gehalten hatte.

Der Stoff zwischen seiner Handfläche und ihrer Brust machte ihn verrückt. Erregt zerrte er den Spitzeneinsatz aus dem Ausschnitt ihres Musselinkleides heraus. Sie löste ihren Mund von seinem und sah ihn mit großen Augen unsicher an. Als das Stückchen Spitze zu Boden flatterte, liebkoste er die Rundungen ihrer Brüste und wartete darauf, dass sie sich dagegen wehrte.

Als sie nur still dasaß und ihn erschrocken anschaute, ließ er seine Hand in ihr Mieder gleiten und umfasste ihre feste Brust. Er musste sie einfach berühren. Er würde verrückt werden, wenn er es nicht tat.

Jetzt reagierte sie. „Sie sollten . . . mich nicht... so anfassen“, flüsterte sie, obwohl sich ihre süße kleine Brustknospe unter seiner Hand verhärtete.

„Nein, das sollte ich nicht.“ Er legte seine Hand flach um ihre Brust und knete sie mit langsamen, geübten Bewegungen. „Aber du möchtest es, nicht wahr? Du möchtest es.“ Sie musste zugeben, dass sie ihn wollte. Danach würde sie ihn niemals mehr beschuldigen können, dass er sie zu etwas gezwungen hatte.

Sie drehte den Kopf zur Seite, doch sie hielt Gideon nicht auf. „Ich möchte nicht... ich meine, ich. . . ich möchte nicht. .. ich .. . ich . . .“

Er presste seinen Mund wieder auf ihren und brachte sie damit zum Schweigen, dass er seine Zunge in das feuchte, warme Innere gleiten ließ, wie er in einen anderen ihrer Körperteile gleiten wollte. Als sie sich an ihn klammerte, fasste er um sie herum und öffnete ihr Mieder so weit, dass er ihr die Ärmel langsam über die Schultern herabziehen konnte. Ungeduldig zerrte er die Bänder ihres Unterhemds auf, zog den Musselin herunter und entblößte ihre Brüste.

Obwohl sie tief stöhnte und während seines Kusses erbebte, zog sie sich dennoch nicht zurück. Bei Gott, sie war die süßeste Frau, die ihm jemals begegnet war. Während er seine Zunge zwischen ihre Lippen stieß, umfasste er mit beiden Händen ihre Brüste, und sein Herz schlug wie wild.

Sie war so weich und hingebungsvoll. Langsam löste er seine Lippen von ihren und ließ sie zu ihrer Brust hinabgleiten. Lustvoll seufzte sie auf, als er zuerst die Zunge um die Spitze gleiten ließ und dann heftig daran saugte. Und sie wehrte ihn nicht ab. Nein, sie schmiegte sich an ihn, drückte ihre Finger in seine nackten Schultern. Er würde dort Spuren ihrer Fingernägel zurückbehalten, doch das kümmerte ihn nicht. Er wollte sie. Hier. Jetzt.

Er ignorierte die warnende Stimme in seinem Innern. Saras Duft und der salzige Geschmack ihrer Haut brachten ihn fast um den Verstand. Wenn sie die kühle englische Dame gewesen wäre, als die er sie angesehen hatte, hätte er ihr widerstehen können. Doch sie war eine feurige, sinnliche Frau, die darüber hinaus Lysistrata rezitierte, um ihre Gefährtinnen aufzustacheln. Einer solchen Frau konnte er nicht widerstehen.

Er begehrte sie, und sie begehrte ihn. Was zählte denn sonst

noch?

„O Gideon!“ flüsterte sie unter seinen aufreizenden Zärtlichkeiten.

„Du bist so wundervoll, Liebste.“ Noch nie hatte er sich nach einer Frau so sehr verzehrt wie nach Sara. Und er würde sie bekommen. Er musste sie haben. Sie gehörte ihm. Und sie wollte ihn ja genauso sehr. Was auch immer sie dagegen sagen mochte, ihr Körper strafte sie Lügen.

Damit rechtfertigte er sich vor sich selbst, als er sie wieder küsste, und diesmal mit einem Begehren, das sogar ihr süßer Mund nicht stillen konnte. Er wollte mehr. In wildem Verlangen schob er ihr die Röcke über die schlanken Beine nach oben.

Erregt ließ er die Hand über ihre weiche, helle Haut und zwischen ihre leicht gespreizten Schenkel gleiten. Sie würde ihm gehören und niemandem sonst. Nur er sollte sie bekommen.

Er würde ihr zeigen, wie sehr sie nach ihm verlangte. Er würde ihr das klarmachen, damit sie ihn nie wieder von sich stoßen konnte.