22. KAPITEL

Seit Sara zugestimmt hatte, Gideon zu heiraten, waren zwei glückselige Tage für sie vergangen.

Heute hatten Ann und sie den Unterricht der Kinder ausfallen lassen, und Sara hatte ihnen drei Geschichten erzählt. Dann war plötzlich Gideon aufgetaucht und hatte sich von den Kindern erst durchkitzeln lassen, um ihnen die Angst vor ihm zu nehmen.

Und nun betrachtete sie ihn, wie er im Kreise der Jungen und Mädchen saß und ihnen eine Geschichte über den einäugigen Jack erzählte, den Schiffspapagei, der gepökeltes Rindfleisch über alles mochte.

Während sie die Hand entspannt durch den Sand gleiten ließ, wusste sie, dass sie ihn von ganzem Herzen liebte. Er würde ihr seine Gefühle noch offenbaren. Das musste er tun, sonst würde sie sich nicht mehr von ihm lieben lassen.

Er beendete seine Geschichte, und die Kinder bettelten um eine weitere. Doch er hob bestimmt die Hände. „Es tut mir Leid, Kinder, aber jetzt ist Schluss. Silas und die anderen warten auf mich. Wir müssen jagen gehen.“

Als sich alle Kinder lauthals beschwerten, fragte er: „Ihr mögt doch Schweinefleisch, oder?“

Die Kinder nickten eifrig.

„Also“, sagte er, während er aufstand und sich den Sand von der Hose wischte, „dann müssen wir dafür sorgen, dass ihr es bekommt. Aber wir sind vor Einbruch der Dunkelheit zurück, und dann erzähle ich euch noch eine Geschichte, in Ordnung?“

„Ja!“ schrien die Kinder.

Als er zu Sara hinüberging, stand Ann auf und warf ihm und Sara ein mildes Lächeln zu, während sie die Kinder um sich scharte. „Kommt, wir gehen zum Strand hinunter. Ich habe nicht weit von hier ein Schildkrötennest entdeckt.“

Sara schaute ihre Freundin dankbar an, weil Ann sie mit Gideon allein ließ.

„Du wirst den ganzen Tag fort sein?“ fragte sie enttäuscht, sobald die Kinder außer Hörweite waren.

Er lächelte, als er sie in die Arme nahm. „Du klingst wie eine Ehefrau, und dabei sind wir noch nicht einmal verheiratet.“

„Stört dich das?“ fragte sie schalkhaft.

„Überhaupt nicht.“ Er küsste sie heftig, während seine Hände sich dorthin bewegten, wo sie - jedenfalls in aller Öffentlichkeit - bestimmt nichts zu suchen hatten.

Als er sie losließ, klammerte sie sich an ihn, weil sie ihn nicht gehen lassen wollte. Aus unerfindlichen Gründen mochte sie sich heute nicht von ihm trennen. „Ich könnte mitkommen.“

Er lachte. „Und was willst du tun? Unsere Gewehre laden? Die Beute töten und das Fleisch zubereiten? Du hast doch etwas Besseres zu tun, als mit einer Horde Männer durch das Unterholz zu schleichen.“

„Du weißt ganz genau, dass dies nicht der Grund ist, warum du mich nicht mitnehmen möchtest“, hielt sie ihm vor. „Ihr wollt ja nur ungestört sein und Rum hinunterkippen, ohne euch Gedanken darüber machen zu müssen, was wir Frauen davon halten.“

„Gut, dass du mich erinnerst.. ."

„Oh, scher dich bloß weg“, sagte sie gespielt entsetzt und schob ihn fort. „Glaub nur ja nicht, dass du heute Nacht zu mir ins Bett kommen darfst, wenn du nach Rum und Schweineblut stinkst.“

„Keine Angst.“ Er zog sie wieder an sich. „Wenn ich zu dir komme, Sara, habe ich vorher ein ausgedehntes Bad genommen.“ Erneut zog Gideon sie an sich und blickte verlangend in den Ausschnitt ihres Kleides. „Und dann werde ich mir ein paar andere Freuden gönnen.“

„Gideon!“ protestierte sie und errötete heftig. Würde sie sich wohl jemals an sein dreistes Verhalten gewöhnen?

Wahrscheinlich nicht, dachte sie, als sich seine Augen verdunkelten und sich seine Hand um ihre Taille schloss. Sie zitterte schon in Erwartung seines Kusses.

„Captain!“ rief eine Stimme aus dem Wald. „Kommen Sie nun oder nicht?“

Stöhnend ließ er sie los. „Ja, verflixt noch mal“, rief er. „Ich bin sofort bei euch.“

„Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut.“ Sie streckte sich und küsste ihn auf die Wange. „Hab Spaß, und bring uns ein gutes fettes Schwein für die Hochzeitsfeier mit.“

„Genau das habe ich vor, meine Liebste“, sagte er lächelnd. Dann drehte er sich um und ging quer über den Strand zu den Bäumen hinüber.

Ihr Herz schlug heftig, als er stehen blieb, ihr zuwinkte und daraufhin im Wald verschwand. Er hatte sie meine Liebste genannt. Vielleicht hatte das nicht viel zu bedeuten, aber es ließ sie hoffen. Ob er noch viel mehr sagen würde? O ja, das würde er. Jetzt war sie sich ganz sicher. Sie konnte es kaum erwarten, ihm ihre Gefühle ebenfalls zu offenbaren.

Seufzend hob sie die Röcke und wanderte am Strand entlang. Sie verlor sich so sehr in ihre träumerischen Gedanken an Gideon, dass sie gar nicht merkte, wie weit sie sich von den anderen entfernt hatte.

Bis jemand sie von hinten packte, ihr eine Hand auf den Mund presste und sie dann rückwärts zu den Bäumen zerrte. Angst ergriff sie, und sie kämpfte wild in den Armen des Mannes.

„Lass sie los, Petey!“ zischte eine Stimme, als sie den Wald erreichten. „Du machst ihr Angst!“

„Nicht schreien, kleine Miss, ja?“ murmelte eine vertraute Stimme an ihrem Ohr. „Ich lasse Sie jetzt los.“

Als Antwort rammte sie ihm den Ellbogen in die Rippen. „Au!“ schrie er, als er den Griff von ihr löste. „Womit habe ich denn das nun verdient?“

Sie wirbelte mit funkelnden Augen zu ihm herum. „Weil du mich, verdammt noch mal, so erschreckt hast, du Narr!“ „Verdammt noch mal?“ sagte eine andere vertraute Stimme. Jordan trat hinter einem Baum hervor, sah ausgemergelt und bleich und völlig fehl am Platz aus in seinem maßgeschneiderten Gehrock und der eleganten Hose. „Deine Ausdrucksweise hat sich etwas geändert, seit wir zuletzt zusammen waren, Sara.“

„Jordan!“ schrie sie auf, überglücklich, ihren geliebten Stiefbruder wieder zu sehen. Sie warf sich in seine ausgebreiteten Arme und barg das Gesicht an seiner Schulter. „O Jordan, du bist hier!“

„Ja, Sara, ich bin hier.“ Er drückte sie so fest an sich, dass es sie fast schmerzte. „Geht es dir gut? Haben diese Teufel dich verletzt?“ Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg und musterte sie eingehend. „Du schaust gut aus, aber das hat ja nicht viel zu bedeuten.“

„Es geht mir wirklich gut“, flüsterte sie.

Er schob ihr das Haar aus dem Gesicht, während er sie forschend betrachtete. „Du kannst dir nicht vorstellen, welche Qualen ich gelitten habe bei der Vorstellung, durch welches Grauen . . .“ Mit grimmiger Miene unterbrach er sich. „Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich habe dich ja jetzt wieder. Und du bist in Sicherheit.“

Sie fühlte sich schuldbewusst. In Sicherheit? Wie sollte sie ihm bloß klarmachen, dass sie die ganze Zeit sicher gewesen war? Sie hatte es genossen, hier zu sein, hatte ein neues Leben geführt und sich verliebt, während Jordan Um ihretwillen gelitten hatte.

Doch das war nicht ihre Schuld. Wenn Gideon ihren Bruder jetzt sehen könnte, würde er verstehen, wie ungerecht es von ihm war, sie alle zu entführen.

Gideon! Lieber Himmel, was sollte sie bloß mit Gideon und Jordan machen?

Sie zog sich von ihrem Bruder zurück. Während sie nach Worten suchte, mit denen sie ihm verständlich machen konnte, wie die Dinge sich in den letzten Monaten verändert hatten, überdeckte sie ihre Verwirrung mit Fragen. „Wieso bist so schnell hierher gekommen?“

„Als die Chastity nach London zurückkehrte, kam der Captain sofort zu mir und erzählte mir von dem Gefangenentransport. Ich segelte sofort zu den Kapverdischen Inseln, wo das Schiff zuletzt angelegt hatte. Als ich die Inseln durchstreifte, um herauszufinden, wo sich die Piraten aufhalten mochten, fand ich Petey auf Sao Nicolau, der einen Schlafplatz auf einem Schiff suchte, das nach England fuhr. Er hat mich hierher geführt.“

Sie hatte gar nicht bedacht, dass so etwas geschehen könnte

- doch sie hätte wissen müssen, dass Jordan sofort losfahren würde, sobald die Chastity England erreichte. Jetzt war er hier. Und sie war kein bisschen auf ihn vorbereitet. „Wo ist dein Schiff?“

„Petey hat sich auf der Insel kurz umgeschaut, ehe er fortging, und brachte uns zu einem versteckten Hafen, in dem meine Männer warten, bis wir beide mit dir und Peteys Verlobter zurückkehren. “

„Nach der ich nun . . .“, begann Petey.

Jordan gab ihm einen Wink. „Ja, geh, und hol sie. Aber beeil dich, ehe das Schiff entdeckt wird. Sara und ich warten hier auf euch.“

Gut, dachte sie, als Petey davoneilte. Sie musste einen Moment mit Jordan allein sein, ohne dass Petey sich einmischte.

Jordan wandte sich ihr mit finsterer Miene wieder zu. „Ich weiß, dass du die anderen Frauen retten möchtest, Sara, aber ich wollte dich erst in Sicherheit bringen. Wenn Petey seine Verlobte findet, können wir zur Defiant zurückkehren.“

Sara sah ihn überrascht an. Die Defiant war der Stolz seiner Flotte. Sie konnte kaum glauben, dass er sie für sie aufs Spiel gesetzt hatte.

„Ich hätte auch die Marine gleich mitbringen können“, fuhr er fort, „doch damit hätte ich deinen Ruf für alle Zeiten ruiniert. Ich habe schon den Captain der Chastity dafür bezahlt, dass er über das, was während des Piratenangriffs geschehen ist, Stillschweigen bewahrt. Daher hielt ich es für besser, mit meinem eigenen Schiff hierher zu kommen.“

„Aber Jordan . . .“

„Mach dir keine Sorgen“, fuhr er fort, als hätte sie gar nichts gesagt. „Ich habe genügend bewaffnete Männer und Kanonen, um dieses Piratennest auszuräuchern. Wir können die Satyr so schnell versenken, dass die Bastarde nicht einmal merken, was geschieht. Dann werden wir . . .“

„Nein! Das darfst du nicht tun!“

Er sah sie an, als hatte sie den Verstand verloren, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Ach ja, ich hatte es vergessen. Petey sagte mir, dass die Frauen an Bord des Schiffes schlafen. Also können wir die Satyr nur auf See in Sicherheit bringen, ehe wir angreifen. Ich habe genügend Männer...“

„Jordan, bitte! Du darfst überhaupt nichts tun.“

„Warum nicht?“

Sie rang die Hände und suchte nach einer Antwort. „Weil ich das nicht zulasse. Ich möchte nicht, dass du Gideon verletzt.“ „Gideon?“ Jordans Augen glitzerten hart. „Du sprichst doch nicht zufällig von Captain Horn, dem Piratenlord? Dem Mann, der in den englischen Gewässern zehn Jahre lang sein Unwesen getrieben hat? Dem skrupellosen Menschen ..."

„Nein, er ist nicht skrupellos! Und er ist auch kein Gesetzloser mehr.“

„Weil er behauptet, dass er sich auf dieser Insel für immer niederlassen will? Petey hat mir alles über diesen Mann erzählt, den er merkwürdigerweise zu bewundern scheint. Aber ich bin nicht von romantischen Legenden über die Piraterie verblendet, Sara. Für mich ist der Mann das, was er ist.“ „Aber er ist nicht so, wie du denkst! Er ist nicht dieser .. . grausame, hinterhältige Schurke, zu dem man ihn in der Öffentlichkeit gemacht hat. Er ist gerecht, freundlich und . . .“ „Und er entführt Frauen zu seinem Vergnügen.“

Sie schluckte. Wie sollte sie Jordan das nur erklären? „Nicht aus Vergnügen. Ja, er hat uns entführt, und es war auch dumm von ihm. Doch wenn du mir genügend Zeit lässt, kann ich ihn dazu bringen, die Frauen freizulassen, die von der Insel fortwollen.“

„Dir genug Zeit geben?“ Jordan packte sie bei den Schultern. „Sara, hier geht es nicht um einen dieser wimmernden alten Männer der Admiralität, die du beschwatzen kannst, das zu tun, was du möchtest! Hier geht es um einen kampferprobten Verbrecher! “

„Du kennst ihn nicht!“

„Kennst du ihn denn?“ Jordan kniff die Augen zusammen, als er sie genauer betrachtete. Erst jetzt bemerkte er ihre nachlässige Aufmachung und die nackten Füße. „Wie genau kennst du ihn?“

Sie errötete und wandte das Gesicht ab. „Gut genug. Ich liebe ihn, Jordan. Er hat mich gebeten, ihn zu heiraten, und ich habe zugestimmt. Wir werden übermorgen heiraten.“ „Nur über meine Leiche!“ erwiderte Jordan scharf. „Wenn du glaubst, dass ich auch nur einen Moment untätig zusehen werde, dass du diesen Fehler machst.. .“

Wütend blickte sie ihn an. „Es ist kein Fehler! Ich weiß genau, was ich tue!“

„Ja, genauso wie damals, als du dich an diesen verteuftelten Oberst Taylor gehängt hast!“

Sie wich vor Jordan zurück. „Du . . . du . . .“ Ihr fehlten die Worte. Tief atmete sie durch, um ihre Wut unter Kontrolle zu bekommen. „Wie kannst du es wagen, sie miteinander zu vergleichen! Oberst Taylor war nur hinter meinem Vermögen her! Gideon möchte meine Zuneigung haben!“

Jordan rieb sich über seine Faust und wirkte, als wollte er sie jemandem ins Gesicht schlagen. Vielleicht in Gideons. „Hör zu, Sara. Du verteidigst einen Mann, der den englischen Adel schon gehasst hat, als er zum ersten Mal Segel gesetzt hat! Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Engländer dieser Pirat ausgeraubt hat? Wie vielen Frauen er Gewalt angetan hat, wie viele . . .“

„Niemals würde er einer Frau Gewalt antun. Er würde nur so weit gehen, wie sie es zulassen würde“, sprudelte Sara hervor. Gleich darauf brannten ihre Wangen so sehr, dass sie fortschaute. „Ich . . . ich meine . . .“

„Du meinst, dass er dich verführt hat“, sagte Jordan mit donnernder Stimme. Er schob eine Hand in seine Brusttasche und zog eine Pistole hervor. „Jetzt muss ich ihn töten.“

Sie warf sich ihm entgegen und hielt seinen starren Arm mit aller Kraft fest. „Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, werde ich dir das nie verzeihen!“

„Damit kann ich leben“, knurrte Jordan, während er sie von sich fortzustoßen versuchte. „Also, wo ist der Bastard .. .“ „Wage es ja nicht! Ich werde dich an die Piraten verraten, ehe du die Insel verlassen kannst. Ich schwöre es!“ Gideons Männer würden Jordan nur auf ihren Befehl hin angreifen, Sie hatten begonnen, ihr zu vertrauen und sie vielleicht sogar zu respektieren.

Bei Gideon war sie sich nicht so sicher. Wenn Gideon auch nur einen Moment lang glaubte, Jordan sei gekommen, um sie von hier wegzubringen, würde er ihn in Ketten legen. Sie musste alles tun, um die beiden Männer voneinander fern zu halten.

Ungläubig blickte Jordan sie an. „Du würdest mich den Piraten ausliefern?“

„Ich lasse nicht zu, dass du ihn verletzt! Und ich lasse nicht zu, dass deine Männer Atlantis zerstören! Dazu haben wir viel zu hart gearbeitet. Verstehst du das denn nicht? Das ist jetzt ein Ort, an dem Menschen leben, arbeiten und Familien haben. Du kannst nicht deine Kanonen hierher bringen und alles zerstören, was sie aufgebaut haben.“

„Bedeutet dir das so viel?“

„Diese Insel bedeutet mir alles“, sagte sie ruhig und entschlossen zugleich.

Er senkte den Blick und schob die Pistole zurück in seine Brusttasche. „Na gut, ich werde tun, was du wünschst.“ Misstrauisch sah sie ihn an. „Was ich wünsche?“

„Ich werde meine Kanonen nicht hierher bringen lassen.“ Durchdringend blickte er sie an. „Aber nur unter einer Bedingung.“

„Und zwar?“

„Dass du mit mir kommst.“

Es verschlug ihr den Atem. Sie hätte das vorhersehen müssen. Jordan hatte schon immer alles zu ihrem Schutz unternommen, und wenn er sie auch wie jetzt erpressen musste.

„Vergiss nicht“, fügte er hinzu, als er sie fest anblickte, „dass meine Männer den Befehl erhalten haben anzugreifen, sollte ich bis Mittag nicht auf die Defiant zurückgekehrt sein. Ich gehe nur, wenn du mit mir kommst, auch wenn das bedeutet, dass wir uns sonst die Zerstörung der Insel von hier aus ansehen müssen. “

Sie schauderte. „Jordan, bitte verlange das nicht von mir. Es gibt einige Frauen, die von hier fortwollen. Du solltest sie auch mitnehmen, doch ich . . .“

„Ich bin nur an dir interessiert, Sara. Ohne dich gehe ich hier nicht weg.“

„Ich möchte nicht weg von hier! Hörst du mir denn gar nicht zu?“

„Doch, aber ich bin nicht der Ansicht, dass du meinst, was du sagst.“ Seine Stimme klang jetzt beschwichtigend. „Soldaten kennen diese bemerkenswerte Erscheinung. Das geschieht ihnen immer wieder. Während sie von aller Welt abgeschnitten sind, verlieren sie den klaren Blick und vertrauen ihren Peinigern. Nach ihrer Rettung erkennen sie jedoch, dass sie nicht ganz bei sich gewesen sind.“

Nicht ganz bei sich! „Oh, wie kann ich es dir bloß erklären. Ich bin bei mir, und ich weiß auch, was ich tue. “

„Dann beweise es mir. Komm mit mir nach England zurück, Sara. Überlasse die Kolonie diesen Halunken. Wenn du nach einigen Wochen noch immer so denkst wie jetzt, werde ich dich zurückbringen.“

„Nein, das wirst du nicht tun. Ich kenne dich, Jordan. Selbst wenn du deinen Irrtum einsiehst, wirst du Entschuldigungen dafür finden, warum du dein Versprechen nicht halte: kannst.“ Bittend sah sie ihn an. „Wenn du mich zwingst, mit dir von hier fortzugehen, wird mich das vernichten. Ich werde dich dafür hassen, davon bin ich überzeugt.“

Das ließ ihn kurz zusammenzucken, doch dann wurde er wieder unerbittlich. „Es ist besser, wenn du mich jetzt hasst, als dass du nachher bereust, hier geblieben zu sein. Wenn du nicht mitkommst, nehme ich alle Piraten gefangen und bringe sie nach England. Und die Frauen auch. Ich habe genügend Männer und Waffen.“

Es schauerte sie bei der Vorstellung, welche Verwüstung seine Gefolgsleute auf der Insel anrichten würden. Wie konnte sie ihn nur aufhalten? Wie konnte sie ihm nur klarmachen, dass sie wirklich wusste, was sie tat?

Plötzlich hörten sie Knacken im Unterholz. Und im nächsten Moment kam Petey mit Ann zwischen den Bäumen auf sie zu.

„Da seid ihr ja“, grollte Jordan. „Es wird auch Zeit. Wir müssen uns beeilen. “

Petey sah Ann an und straffte die Schultern. „Ann und ich bleiben hier. Wir kehren nicht mit Ihnen nach England zurück, Sir.“

Jordan ballte die Hände zu Fäusten. „Seid ihr denn alle verrückt geworden? Hat dieser Pirat euch alle verhext?“

„Ich kann nicht nach England zurückkehren, Mylord“, flüsterte Ann und sah Jordan ehrfürchtig an. „Man wird mich sofort wieder nach New South Wales zurückschicken. Oder ich muss mich für den Rest meiner Tage vor den Behörden verstecken. Und Petey möchte das nicht riskieren.“ Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. „Er bleibt lieber mit mir hier, als ohne mich in England zu sein.“

„Hören Sie, Miss Morris“, sagte Jordan. „Ich kann mit einigen einflussreichen Leuten sprechen und sicherstellen, dass sie nicht mehr deportiert werden . . .“

„Das ist es nicht allein, Mylord“, unterbrach Petey ihn. „Das ist hier ein richtig schönes Fleckchen Erde. Ich war ja beim letzten Mal nur einen Tag lang hier, doch da habe ich schon gesehen, dass man hier angenehm leben kann. Auf mich wartet in England nichts. Tommy braucht mich nicht. Er hat eine eigene Familie. Es würde Jahre harter Arbeit auf See erfordern, bis ich genügend Geld für ein winziges Häuschen hätte, und dann wäre ich auch die meiste Zeit von Ann getrennt. Doch wenn ich hier hart arbeite, kann ich alles haben, was ich mir wünsche.“ Er sah voller Verehrung auf Ann herab. „Alles.“

„Und was wird der Piratenlord machen, wenn er dich hier wieder entdeckt?“ fragte Jordan scharf.

„Das weiß ich nicht, Mylord. Aber er ist ein vernünftiger Mann. Wenn ich ihm erkläre, dass ich nur meine Pflicht gegenüber Miss Willis getan habe, wird er das verstehen.“ Sara war sich dessen nicht so sicher, doch sie wollte seine Begeisterung nicht dämpfen. „Siehst du, was ich meine,“ fauchte sie Jordan an. „Selbst unser Diener möchte Atlantis nicht verlassen.“

„Atlantis“, schnaubte Jordan. „Was für ein Name für eine Piratenhöhle. Die Griechen würden sich in ihren Gräbern umdrehen.“ Unwillig blickte er Petey an. „Dann bleib eben hier. Ich hoffe nur, dass du morgen noch lebst, um den Aufenthalt auf dieser Insel zu genießen.“

Er wandte sich seiner Stiefschwester zu. „Doch du, meine Liebe, wirst mit nach England kommen. Oder ich schwöre dir, dass ich diesen gottverdammten Piratenlord zur Strecke bringen und ihm den charmanten Kopf abschlagen werde.“ Sie musterte das Gesicht ihres Stiefbruders mit sinkendem Mut. Er meinte es ernst. Wenn sie sich ihm weiterhin widersetzte, würde er Gideon töten oder gefangen nehmen, was auch seinen Tod bedeuten würde. Abgesehen von dem, was seine Männer der Insel und ihren Bewohnern antun würden.

„Wenn ich mache, was du verlangst, schwörst du dann, dass du niemand verletzen wirst? Und wirst du außerdem schwören, keinem Menschen von dieser Insel zu erzählen?“ Das war das Beste, was sie unter den gegebenen Umständen erreichen konnte. Peteys Rückkehr hatte das Ganze ins Rollen gebracht, und sie konnte den Schaden nicht völlig wieder gutmachen.

„Ich kann nicht verhindern, dass meine Männer die Lage der Insel verraten“, knurrte Jordan.

Sie blickte ihn an. „Wenn der Earl of Blackmore das nicht kann, wer sonst?“

„Sara, du strapazierst meine Geduld ..

„Die Männer wissen nicht, wer auf dieser Insel lebt, Miss Willis“, mischte Petey sich ein und handelte sich Jordans zornigen Blick ein. „Seine Lordschaft hat ihnen nicht gesagt, worum es ging, bis sie die Kapverdischen Inseln erreichten, weil er verhindern wollte, dass sie nachher einen Skandal auslösen würden. Und er hat auch danach nichts verraten, weil er nicht wollte, dass sie aus Angst vor einer Begegnung mit dem Piratenlord über Bord springen. Die meisten Seeleute fürchten sich vor Cap'n Horn.“

Sara sah ihren Bruder an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich gehe erst mit, wenn du schwörst.“

Jordan musterte sie. „Wenn ich schwöre, wirst du dann nach England zurückkehren und diesen ganzen Unsinn hier vergessen?“

„Ich kehre nach England zurück, aber ich werde überhaupt nichts vergessen. Ich nehme dich beim Wort, dass du mich hierher zurückbringst, wenn ich dich davon überzeugt habe, dass sich meine Gefühle nicht ändern werden.“

„Zum Teufel noch mal, Sara . . .“

„Das ist mein Angebot, Jordan. Akzeptierst du es?“

„Ja. Alles, nur um dich von dieser Insel wegzubringen.“ „Ich will dein Ehrenwort, hörst du? Ich möchte nicht, dass du deinen Marinefreunden sagst, wo sie eine gewisse Piratenhöhle finden können.“

„Du bist wirklich eine äußerst eigensinnige Frau.“

„Das habe ich von dir gelernt.“

Er seufzte. „Also gut, dann schwöre ich bei meiner Ehre, dass ich nichts über diese Insel verlauten lassen werde. Können wir jetzt gehen?“

„Was ist mit den Frauen, die nicht hier bleiben wollen?“

Er überhörte ihre Frage. „Lass uns jetzt von hier verschwinden.“

„Gleich.“ Sie wandte sich an Ann. „Sag den Frauen, dass ich zurückkehre. Wenn ich zurückkehre, können alle, die nicht hier bleiben wollen, gehen. “ Sie nahm ihr Medaillon ab, küsste

es und übergab es Ann. „Und gib das Gideon. Sag ihm, dass ich wiederkomme, ja?“

„Sara“, unterbrach Jordan sie. „Das hat deiner Mutter gehört.“

„Ja.“ Die Kehle war ihr mit einem Mal wie zugeschnürt. Sie würde ihr Medaillon bald zurückbekommen! „Gideon weiß, was es mir bedeutet, und er weiß auch, dass ich es nicht für immer zurücklasse. Nur damit kann ich ihm versichern, dass ich wiederkomme.“

Wie unzureichend war das doch angesichts der Untreue seiner Mutter. Dass sie sich so heimlich davonschlich, würde ihn vernichten. Vielleicht würde er ihr nie vergeben. Dieser Gedanke trieb ihr Tränen in die Augen.

Sie sah Petey an, weil sie ihn bitten wollte, Gideon zu sagen, dass sie gegen ihren Willen fortgegangen sei. Dann besann sie sich anders. Nein, denn wenn Gideon wusste, dass sie die Insel nicht freiwillig verlassen hatte, würde nichts ihn aufhalten können, ihr nach England zu folgen. Das wollte sie nicht. Er musste glauben, dass sie es aus freien Stücken getan hatte.

„Sag Gideon, dass ich unter allen Umständen wiederkomme, aber erzähl ihm nichts von meiner Abmachung mit Jordan, hörst du? Er würde mir nach England folgen und gehängt werden und auch alle, die ihn begleiten. Schwört beide, dass ihr ihm die Wahrheit verschweigt.“

Nach einem Moment des Zögerns nickte Petey und schließlich auch Ann.

Sara wurde es schwer ums Herz. Indem sie sie schwören ließ, brachte sie großes Leid über Gideon. Doch ihr war es lieber, dass er litt, als dass man ihn gefangen nahm, sobald er englisches Gewässer erreichte. In England würde ihn ein kurzes, grausames und endgültiges Schicksal erwarten. Sie mochte nicht einmal darüber nachdenken.

„Komm schon, Sara“, forderte Jordan sie ungeduldig auf. „Meine Männer greifen an, wenn ich nicht zur Mittagszeit auf die Defiant zurückgekehrt bin.“

„Ja, gut.“ Sie umarmte Ann und Petey. „Ich komme zurück“, versprach sie unter Tränen. „Es kann Monate dauern, aber ich werde so schnell wie möglich nach Atlantis zurückkehren.“ Als sie mit Jordan davonging, sah er sie wütend an. „Du benimmst dich, als ob du zu deiner Hinrichtung gehst und nicht

in die Arme deiner Familie und in dein rechtmäßiges Heim zurückkehrst. “

„In die Arme meiner Familie?“ Sie blickte mit versteinerter Miene vor sich hin und achtete kaum darauf, wohin sie ging. „Jetzt bist du in meinen Augen mein Kerkermeister. Und das wird sich erst ändern, wenn du mich hierher zurückbringst.“ Einmal wenigstens war ihr Bruder klug genug, nichts darauf zu erwidern.