2. KAPITEL

Eine Woche nach Saras Unterhaltung mit ihrem Stiefbruder stand sie an Deck der Chastity. Es war früher Morgen, und auf dem Ozean kräuselten sich nur kleine Wellen. Ein herrlicher Anblick. Obwohl sie ihn erst vor zwei Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, als sie aus der Themse ins offene Meer hinausgeglitten waren, liebte sie jetzt schon seine Wandlungsfähigkeit.

Am ersten Tag war es fast so gewesen, als trüge ein wilder Drache das Schiff auf seinem wellenförmigen Rücken dahin. Sein Atem hatte ihnen Gischt ins Gesicht geschleudert, und seine nassen Klauen hatten wild gegen den Schiffsrumpf geschlagen, was den Dreimaster bei jeder neuen Welle zum Schlingern und Stampfen gebracht hatte.

Heute jedoch ging es sanfter zu, eher wie auf einem Schaukelpferd, das das Schiff in angenehmer Bewegung voranbrachte. Sie atmete die salzige Luft ein, die so anders war als der widerliche Gestank in London. Gott sei Dank war ihr die Seekrankheit erspart geblieben, unter der einige der Gefangenen litten. Vielleicht war sie ja für die Seefahrt geschaffen.

„Ist das nicht ein herrlicher Tag, Miss?“ sagte eine Stimme.

Als sie sich umdrehte, stand einer der Matrosen neben ihr an der Reling. Sie hatte schon bemerkt, dass er sie interessiert angesehen hatte. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor, doch sie wusste nicht, was es war. Er ähnelte niemandem, den sie kannte. Obwohl er einigermaßen harmlos aussah, störte sie sein starkes Interesse an ihr.

Und er stand viel zu dicht neben ihr. „Ja“, meinte sie und rückte ein wenig von ihm ab. „Es ist wirklich ein herrlicher Tag.“ Sie sah auf den Ozean hinaus und ignorierte ihn so auffällig, weil sie hoffte, dass er sie dann in Ruhe lassen würde.

Doch er kam nur noch näher. „Sind Sie Miss Willis, die die Gefangenen unterrichtet?“

„Ja, wir beginnen heute Morgen mit dem Unterricht.“

Als er sich zu ihr neigte, begann ihr Herz, heftig zu schlagen, und sie sah sich auf dem Schiff nach Hilfe um. Doch keiner der anderen Matrosen war in Rufweite. Außerdem traute sie keinem der dreiundzwanzig Männer. Einen hatte sie schon tadeln müssen. Sie hatte ihn spät nachts im Gefängnisbereich entdeckt, als sie ihre winzige Kabine verlassen hatte, weil sie nicht hatte schlafen können.

Doch wo waren der Kapitän und die Schiffsoffiziere an diesem Morgen? Oder der Arzt und seine Frau?

„Ich möchte gern mit Ihnen sprechen“, begann der Mann, und sie bereitete sich innerlich darauf vor, ihm eine scharfe Abfuhr zu erteilen. Zum Glück ertönte in diesem Moment die Schiffsglocke und kündigte den Beginn der nächsten Wache an.

Während die Männer aus den Wanten herunterkletterten und andere Männer an Deck kamen, nutzte sie das Gewühl, um dem seltsamen Matrosen zu entkommen. Doch ihr Puls schlug heftig, als sie zu dem Salon eilte, in dem sie und die Schiffsoffiziere frühstückten.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich, als sie den Salon betrat. Hier wimmelt es von Menschen. Geh einfach nicht mehr allein aufs Deck.

Der Schiffskoch stellte eine Schüssel mit Hafergrütze vor Sara ab. Sie hielt sie fest, damit sie nicht durch das leichte Schaukeln des Schiffes vom Tisch herunterrutschte. Sie würde sich einfach nur auf ihre Arbeit konzentrieren. Zum Glück gab es ja genügend für sie zu tun, denn es waren acht Schulkinder an Bord, einundfünfzig Frauen und dreizehn Kleinkinder. Sie vermutete, dass sie alle irgendeine Form von Unterweisung benötigten.

Nachdem sie eine Stunde später zu den Gefängniszellen auf dem Orlopdeck hinuntergegangen war, fing sie eifrig mit der Arbeit an. Seltsamerweise fühlte sie sich in der Gesellschaft der Gefangenen sicherer als bei den Matrosen.

Da die Zellentüren offen standen und die Frauen herumliefen, um sich auf den Tag vorzubereiten, konnte sie fast vergessen, dass sie Straftäterinnen waren. Sie waren in acht Gruppen aufgeteilt worden. Nachts wurden jeweils zwei Gruppen von Frauen mit ihren Kindern in je eine der vier zweieinhalb mal

dreieinhalb Meter großen Zellen eingeschlossen, doch tagsüber hatten sie mehr Freiheit. Jetzt sahen sie aus wie ganz normale Frauen auf Reisen.

Abgesehen, natürlich, von den Tätowierungen. Doch nur die abgebrühtesten Gefangenen hatten Tätowierungen, Frauen, die Bettlerbanden angehört hatten oder sich nicht nur der Prostitution schuldig gemacht hatten, sondern dabei auch noch gestohlen hatten. Die Mädchen, die abgeschoben worden waren, weil sie die zum Leben notwendige Nahrung oder gebrauchte Kleidung entwendet hatten, würden nicht im Traum daran denken, ihre Körper derart zu verunstalten.

Als das Schiff niederging, hielt Sara sich an einem Pfosten fest und betrachtete sie alle mit kritischem Blick. Ihre Bekleidung war erbärmlich. Wie üblich waren die Verfügungen der Admiralität völlig unsinnig gewesen. Irgendein Narr hatte festgelegt, dass Wolle und Flanell ungesund seien und sich daher nicht für Sträflingsuniformen eigneten. Daher trugen nun die Frauen und Kinder Baumwollsachen, die sie gegen die kalte Luft auf dem Nordatlantik überhaupt nicht schützten.

Dagegen musste sofort etwas unternommen werden. Außer den Kleidern aus leichtem Musselin für das wärmere Klima hatte sie auch noch fünf preiswerte Wollkleider mitgenommen. Doch sie benötigte nicht so viele. Zwei waren ausreichend, auch wenn das bedeutete, dass sie täglich waschen musste. Die anderen konnten zur Herstellung von warmen Sachen für die Kinder verwendet werden. Und vielleicht konnte sie ja auch den Captain dazu bringen, einen Ofen in dem Frachtraum aufstellen zu lassen, wenigstens für die Zeit, bis sie tropische Regionen erreichten.

Doch das hatte Zeit. Jetzt würde sie sich erst um ihre kleine Schule kümmern. Sie ließ den Pfosten los, spreizte leicht die Beine, um auf dem rollenden Schiff das Gleichgewicht zu halten, und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zu ziehen.

Sobald sich alle gesetzt hatten, lächelte sie. „Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Viele von Ihnen kennen mich schon als eine von Mrs. Frys Damen, die Sie in Newgate besucht haben. Allen anderen möchte ich mich vorstellen. Ich bin Miss Sara Willis und Ihre Lehrerin.“

Die Frauen begannen zu murren. Zwar hatte man ihnen gesagt, dass sie Unterricht erhalten würden, doch die Vorstellung schien manchen nicht zu gefallen. Nach einigem Getuschel trat eine Frau vor. Ihr Gesicht und die unbedeckten Hände waren von der Kälte aufgesprungen und rot. Trotzdem strahlte sie Arroganz aus, was in seltsamem Gegensatz zu ihrer Lage stand. „Viele von uns kennen schon Buchstaben und Zahlen, Miss. Wir brauchen keinen Unterricht.“

Sara nahm ihr den unverschämten Ton nicht übel. Die Gefangenen hatten in letzter Zeit viele verwirrende Veränderungen durchgestanden und misstrauten ihr daher. Sie musste ihre Befürchtungen so schnell wie möglich zerstreuen.

Sie lächelte die Frau an. „Sehr gut. Alle von Ihnen, die schon eine Ausbildung genossen haben, können mir gut bei den anderen helfen, die noch nicht so weit sind. Wenn Sie mich unterstützen würden, Miss . .Sie hielt inne. „Wie ist Ihr Name?“

Ihre Freundlichkeit schien die Frau zu verblüffen. „Louisa Yarrow“, sprudelte sie hervor. Dann warf sie den Kopf zurück und sagte: „Ich weiß aber noch nicht, ob ich Ihnen helfen möchte.“

„Das können Sie ganz allein entscheiden, Miss Yarrow. Natürlich wäre es eine Schande, wenn die Kinder auf der ganzen Reise keinen Unterricht bekommen würden. Ich hatte so gehofft, dass jemand sich mit ihnen beschäftigen würde, während ich mich um die Frauen kümmere, die ihre Ausbildung verbessern möchten.“ Sie seufzte übertrieben laut. „Doch wenn niemand helfen möchte . . .“

„Ich will es, Miss!“ rief eine Stimme von hinten aus einer der Zellen.

Sara bemerkte das schwarzhaarige Mädchen, dem sie jetzt aufmunternd zulächelte. „Und wie heißen Sie?“

„Ann Morris. Aus Wales.“ Der starke walisische Akzent der Frau war nicht zu überhören. „Ich kenne die englischen Buchstaben nicht sehr gut, aber die walisischen schon.“

„Und was soll uns das in dem Land nützen, zu dem wir unterwegs sind?“ schrie eine barsche Stimme. „Nur weil der Ort New South Wales heißt, bedeutet das noch lange nicht, dass dort Waliser leben!“

Alle lachten laut auf, und als die kleine Ann Morris nun niedergeschlagen aussah, reizte das manche nur noch mehr zum Lachen.

Sara klatschte so lange in die Hände, bis wieder Ruhe eingekehrt war. „Sie können mir trotzdem helfen, Ann.“ Sie überging schweigend das Murren der anderen. „Sie müssen die englischen Buchstaben nicht unbedingt kennen, um den Kindern zu helfen, während ich die Frauen unterrichte. Sie können sie zusammen mit den Kindern lernen.“

Jede andere Frau wäre sicher beleidigt gewesen, wenn man sie mit den Kindern gleichgesetzt hätte, doch Ann Morris lächelte Sara dankbar an, ehe sie sich wieder setzte. Offensichtlich mochte sie Kinder, und Sara wollte das nutzen, um die junge Frau an das Lernen heranzuführen.

Als Sara sich den anderen wieder zuwandte, stellte sie überrascht fest, dass sie nicht mehr ganz so feindselig dreinblickten. „Das Damenkomitee hat uns viele Stoffreste und Nähmaterialien zur Herstellung von Patchwork-Steppdecken zur Verfügung gestellt. Sie alle werden ein Päckchen Nähutensilien erhalten und einige Stoffe. Sie können die fertig genähten Steppdecken verkaufen und den Erlös für sich behalten.“

Dieser Vorschlag gefiel den Frauen schon besser. Obwohl die Steppdecken nicht viel einbrachten, war das Geld in dem fremden Land äußerst willkommen. Es war das erste Mal, dass man Arbeitsmaterial zur Verfügung stellte.

„Ich werde die Pakete gleich verteilen“, sagte Sara, „doch zuvor möchte ich herausfinden, welche Ausbildung Sie haben. All die, die schon Buchstaben kennen, heben bitte die Hand.“ Ein unbehagliches Schweigen folgte, argwöhnische Blicke flogen hin und her, und es wurde hörbar mit den Füßen gescharrt. Als sich niemand meldetet, erklärte Sara: „Meine Damen, ich versichere Ihnen, dass das unter uns bleibt.“

Das schien sie zu beruhigen. Ungefähr die Hälfte der Frauen hoben die Hände, auch Louisa Yarrow. Als sie die Hände wieder herunternehmen wollten, sagte Sara: „Warten Sie. Wer schon eine gedruckte Seite lesen kann, lässt bitte die Hand oben.“

Nur die Hälfte meldete sich noch. Also konnten wohl ungefähr dreizehn Frauen lesen. Sara fragte daraufhin, wer schreiben konnte, und hatte schließlich sieben Frauen, die sowohl lesen als auch schreiben konnten. Nach eingehender Diskussion erklärten sich zwei Frauen dazu bereit, Ann beim Unterrichten der Kinder zu helfen. Und die anderen fünf wollten ihr Wissen an kleine Gruppen von Frauen, die nach ihrem Kenntnisstand gebildet wurden, weitergeben.

Eine kecke Prostituierte mit Namen Queenie, die behauptet hatte, lesen und schreiben zu können, weigerte sich, jemand zu unterrichten, weil sie lieber ihre Zeit mit „anderen“ Dingen verbringen wollte. Als sie die Röcke hob und sie um ihre Waden schwingen ließ, lachten mehrere Frauen, und auch Sara wusste, was Queenie meinte.

Mrs. Fry hatte Sara gewarnt, dass es nicht immer nur die Schuld der Männer sei, wenn sich die Matrosen an die Frauen heranmachten. Einige der „gefallenen Täubchen“ unter den verurteilten Frauen waren glücklich, wenn sie ihren Beruf auch auf der Reise ausüben konnten.

Sara würde das nicht dulden. Wenn nur eine Frau die Männer auf diese Art und Weise provozierte, forderte sie die anderen praktisch dazu auf, es ihr gleich zu tun. Sie hatte das in Newgate gesehen, und hier würde es genauso sein. Sie wollte lieber erreichen, dass die Frauen ihren eigenen Wert erkannten - und das ging nicht, wenn sie sich selbst verkauften.

Doch das konnte sie Queenie ja schlecht sagen. Stattdessen ging sie die Sache von einer anderen Seite an. „Das ist in Ordnung, Queenie. Wenn Sie nicht fähig sind zu unterrichten, dann tun Sie auf jeden Fall etwas anderes. Ich möchte mir nur von denjenigen helfen lassen, die wirklich Lust dazu haben. Wenn Sie sich nicht eignen sollten, möchte ich natürlich nicht, dass Sie den anderen Frauen die Chance nehmen, sich weiterzubilden. “

Als alle um sie herum kicherten, verlor Queenie ihre Affektiertheit. „Also, ich habe ja nicht gesagt, dass ich es nicht tun kann, sondern nur .. . “

„Ich übernehme gern Queenies Schüler“, warf Miss Yarrow zu Saras Überraschung ein. Als Sara ihr einen fragenden Blick zuwarf, streckte die redegewandte junge Frau das Kinn vor und fügte hinzu: „Es gibt nichts anderes, was ich tun könnte. Und ich möchte schon gar nicht das tun, von dem Queenie gesprochen hat. Ich erlaube keinem Mann, mich mit seinen dreckigen Pfoten anzufassen.“

Miss Yarrow hatte so heftig gesprochen, dass Sara sie ganz verwundert anblickte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie in der Liste der Gefangenen über ihre Straftaten gelesen hatte. Ach ja, Louisa war die Gouvernante der Töchter des Duke of Dorchester bis zu der Nacht gewesen, in der sie den ältesten Sohn des Duke niedergestochen und fast getötet hatte. Nun verbüßte die wohlerzogene Frau eine Strafe von vierzehn Jahren Deportation.

Louisas wütende Worte hatten die anderen Frauen zum Schweigen gebracht, und Sara wusste nicht, wie sie nun reagieren sollte. Plötzlich meldete sich Ann Morris' sanfte Stimme. „Louisa, wir werden keine Wahl haben, wenn wir in New South Wales ankommen. Ich weiß, was sie dort mit uns tun. Wir werden zu den Kolonisten geschickt. Es gibt zu viele Männer dort. Sie machen uns zu gefallenen Frauen, ob wir das nun wollen oder nicht.“

Wut kochte in Sara bei dem Gedanken hoch, dass sogar eine so reizende junge Frau wie Ann sich so hilflos fühlte.

„Nein, das werden sie nicht. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das zu verhindern. Sobald wir in New South Wales ankommen, sorge ich dafür, dass Sie eine anständige Anstellung bekommen, in der man Sie respektvoll behandelt. “

Sara ging zu den mit den Nähutensilien gefüllten Jutesäcken hinüber, nahm eine Hand voll Päckchen heraus und teilte sie aus. „Doch bevor Sie den Respekt anderer gewinnen können, müssen Sie lernen, sich selbst zu respektieren. Sie müssen sich darum bemühen, ihre anderen weibliche Fähigkeiten zu verbessern und stolz zu werden. Nur dann haben Sie eine Chance, Ihr früheres Leben hinter sich zu lassen.“

Einige spotteten, versammelten sich murrend in den Zellen. Doch andere schauten sie hoffnungsvoll an. Sie nahmen die Päckchen von ihr entgegen, betrachteten sie neugierig, und es dauerte nicht lange, da beschäftigten sich alle Frauen mit ihrem Arbeitsmaterial und sprachen darüber.

Nachdem alle Päckchen verteilt waren, blieb Sara im Hintergrund, weil sie ihre Schutzbefohlenen beobachten wollte. Viele dieser Frauen hatten niemals eine Chance gehabt. Niemand hatte ihnen je gesagt, dass sie es wert waren, gerettet zu werden, und man hatte sie in dem Glauben gelassen, dass sie immer Diebinnen, Prostituierte oder Mörderinnen bleiben müssten.

Doch das war nicht wahr. Sie waren zu viel mehr fähig. Das erkannte sie deutlich daran, dass manche sich gegenseitig halfen und wieder andere sich sofort niedersetzten und eifrig mit dem Nähen begannen. Und auch daran, wie Ann einen kleinen Jungen beiseite nahm und ihm geduldig zeigte, wie man etwas aus einer Tasche stibitzte . ..

„Ann Morris!“ rief Sara entsetzt aus. Als sie zu der zierlichen walisischen Frau hinüberging, zog der kleine Junge gerade kichernd blitzschnell ein Päckchen mit Nähzeug aus Anns Schürzentasche heraus. „Was machen Sie denn da, um Himmels willen?“

Ann lächelte sie offen an. „Das ist ein Zaubertrick, Miss Willis. Queenie hat ihn mir gestern beigebracht. Man kann einem Menschen etwas wegnehmen, ohne dass er es bemerkt.“ Sie wandte sich dem Jungen zu. „Gib es zurück, Robbie. Du kannst es nicht behalten. Das wäre Stehlen.“

Sara unterdrückte irritiert einen Seufzer und warf Queenie einen strengen Blick zu, die plötzlich eifrig ihre Stoffreste zu sortieren begann und dabei etwas über „naive Mädchen vom Land“ vor sich hin murmelte.

Saras Stimme war freundlicher, als sie sich Ann wieder zuwandte. „Es wäre besser, wenn Sie in Zukunft solche ,Zaubertricks unterließen. Damit könnten Sie nämlich Ihre Strafe verlängern.“

Es würde nicht einfach sein, die Unverbesserlichen davon abzuhalten, die Unschuldigen zu verderben. Einige dieser Frauen konnten sicher wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden, doch das war gewiss nicht über Nacht zu erreichen.

Es war schon Nacht, als Saras erster Tag mit den Frauen endete. Obwohl der Unterricht schon lange vorbei war, hatte sie sich noch unter Deck aufgehalten, um so viel wie möglich über die Gefangenen zu erfahren. Anfangs hatten sie ihr nur wenig von sich erzählt, doch nach ein wenig gutem Zureden hatte sie etwas über sie und ihre Kinder herausfinden können.

Nachdem nun alle Frauen für die Nacht eingeschlossen worden waren und Sara die steile Treppe vom Frachtraum zum Zwischendeck hinaufstieg, tat ihr der Kopf weh und sie spürte jeden Muskel. Sie wollte nur noch in ihre Koje kriechen und schlafen.

Als sie den Lukendeckel öffnete, stand ein Matrose auf dem voll gestopften Deck direkt daneben. Er war der gleiche Mann, der in der Nacht zuvor schon versucht hatte, zu den Frauen hinunterzugehen. Und er war genauso überrascht wie sie. „Guten Abend“, sagte sie streng. Er war natürlich allein. Die Zwischendecks wurden als Lagerräume benutzt. Da kaum jemand hier herunterkam, hatte er wohl keine guten Absichten.

Ihr schauderte. Doch sie ließ sich von ihrem Unbehagen nichts anmerken und blickte ihn stattdessen ungehalten an. „Was machen Sie hier unten?“

Der Matrose gehörte zur übelsten Sorte. Sein Bart war zerzaust, und er stank nach Whiskey. „Hören Sie, Missy“, erwiderte er scharf, „Queenie erwartet mich, also mischen Sie sich nicht ein.“

Der Gedanke, dass sich dieser Mann vor allen anderen Gefangenen mit einer der Frauen „beschäftigte“, entsetzte sie. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde nicht zulassen, dass die kleinen Kinder so etwas mitbekommen.“ Aufgebracht sah er Sara an. „Kleine Kinder? Nein. Ich hole sie hier herauf. “ Er zog ein Schlüsselbund aus seiner schmutzigen Hose hervor und ließ ihn vor ihrem Gesicht herumbaumeln. „Das Mädchen und ich werden hier bestimmt ein ruhiges Plätzchen finden. Aber das geht Sie sowieso nichts an.“

„Wer hat Ihnen die Schlüssel gegeben?“ fragte Sara erbost. „Der Erste Offizier. Hat uns gesagt, dass es ihm egal sei, was wir mit den Frauen tun, solange wir niemanden belästigen.“ Unmöglich! Sie würde das ganz bestimmt in ihrem Tagebuch vermerken. Das Damenkomitee musste unbedingt erfahren, dass dieses unglaubliche Verhalten auch nicht vor den Schiffsoffizieren Halt machte.

Sie trat schnell auf den Lukendeckel und versperrte ihm den Weg. „Ich werde Ihnen nicht erlauben, nach unten zu gehen.“ „Das hat Sie überhaupt nicht zu kümmern, Missy.“ Er kam grinsend näher und entblößte dabei seine lückenhaften Zähne. „Sie sollten mir lieber aus dem Weg gehen, sonst überleg ich mir noch mal, wen ich haben will.“

Sie wurde rot. Was für eine Dreistigkeit! Darüber musste sie sofort mit dem Captain sprechen! Der würde solche Annäherungsversuche bei einer so respektablen Frau wie ihr bestimmt nicht gutheißen!

„Verschwinden Sie jetzt, oder ich werde den Captain über Sie informieren!“

Wütend zog er die buschigen Brauen zusammen. Er stellte die Kerze ab, umfasste ihre Arme und hob sie vom Lukendeckel herunter. „Sie werden niemandem etwas erzählen. Ich werde sagen, dass Sie lügen, und der Erste Offizier wird mich decken.“ Hinter dem Lukendeckel ließ er sie wie einen Mehlsack fallen und beugte sich herab, um den Deckel zu öffnen.

Noch wollte sie nicht aufgeben. Mit dem Schuh schob sie den Deckel wieder zu. Diesmal holte der ekelhafte Matrose mit der Hand aus, als wollte er sie schlagen.

Doch eine Stimme von der Leiter über ihm hielt ihn auf. „Wenn du sie anrührst, Kumpel, wirst du Sterne stehen.“ Sara und der Matrose drehten sich erschrocken um. Sie hatten nicht gemerkt, dass der andere Mann vom Oberdeck herabgestiegen war. Er umrundete nun die Leiter und streckte dabei seine Hände wie Messer vor sich aus.

Sara stöhnte. Das war der Matrose, der heute Morgen mit ihr an Deck gesprochen hatte. Nun musste sie auch noch mit einem zweiten Lümmel fertig werden.

„Das geht dich einen Dreck an, Petey“, herrschte der Matrose mit den Zahnlücken ihn an. „Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, und überlass es mir und der Miss, das hier zu regeln.“

Petey ließ die Hände in der Luft kreisen. „Lass sie in Ruhe, oder ich mach dich kalt.“

„Du willst mich kaltmachen, du dürres kleines Nichts?“ Der Matrose drohte ihm mit der Faust. „Mach, dass du wegkommst, und lass mich und die Kleine in Ruhe.“

Dann geschah alles ganz schnell. Eben noch hatten sich die beiden Männer gegenübergestanden, und im nächsten Moment lag der Matrose, der Sara bedroht hatte, bewusstlos flach auf dem Rücken, und Petey stand in seltsamer Haltung über ihn gebeugt da.

Als Petey Sara anschaute, flüsterte sie: „Lieber Gott, was haben Sie mit ihm gemacht?“

Er entspannte sich und hob die Schlüssel auf, die er dem anderen Mann aus der Hand geschlagen hatte. „Ich habe einige Nahkampftricks gelernt, als ich in chinesischen Gewässern unterwegs war, Miss. Da ich so klein bin, dachte ich, dass ich so viel wie möglich von ihren Kampfmethoden lernen sollte. Denn ein kleiner Mann kann auf diese chinesische Art genauso gut kämpfen wie ein großer.“

Sie bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Wenn Petey einen so ungeschlachten Matrosen in zwei Sekunden bewusstlos schlug, was würde er dann mit ihr anstellen?

Allerdings war er ihr ja zu Hilfe gekommen. Sie zwang sich zu einem herzlichen Ton. „Ich verstehe. Danke, Sir, dass Sie Ihre . . . ungewöhnliche Technik für mich eingesetzt haben. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden . . .“

Sie ging auf die Leiter zu und hoffte, ihm zu entfliehen, noch ehe er auf die Idee kam, für seine Hilfe eine zweifelhafte Belohnung von ihr zu verlangen.

Doch sie war nicht schnell genug. „Warten Sie, Miss, ich muss mit Ihnen sprechen. Ich habe den ganzen Tag schon versucht. . .“

„Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie mir zu sagen hätten“, erklärte sie, während sie die Leiter zum Hauptdeck hinaufhastete. Wenn sie doch nur eine Waffe hätte - ein Messer, eine Pistole . . . irgendetwas.

Zu ihrem Entsetzen stieg er über den schlaffen Matrosen hinweg und kam ihr auf der Leiter nach. „Bitte fürchten Sie sich nicht. Ich werde Ihnen nichts tun.“ Er griff nach ihrem Knöchel, und als sie mit eisigem Blick auf ihn herabsah, fügte er leiser hinzu: „Ich heiße Peter Hargraves, Miss. Ich bin Thomas Hargraves' Bruder und stehe in den Diensten des Earl.“

In diesem Moment änderte sich alles. Sie war so erleichtert, dass sie fast ohnmächtig wurde. Wenn er Thomas Hargraves' Bruder war und in den Diensten des Earl stand, hieß das nichts anderes, als dass Jordan ihn engagiert hatte. Gott sei Dank für ihren sich einmischenden und übermäßig beschützenden Stiefbruder.

Sie hätte wissen müssen, dass Jordan nicht so schnell aufgeben würde. Als er sie nicht von der Reise abhalten konnte, hatte er sich einfach etwas zu ihrem Schutz einfallen lassen. Und sie war dankbar, dass er sich über ihre Wünsche hinweggesetzt hatte.

„Ich verstehe.“ Sie sah sich um und hoffte, dass niemand seine Worte gehört hatte. „Vielleicht sollten wir das besser unter vier Augen in meiner Kajüte besprechen.“ Daraufhin stieg sie zum Hauptdeck hinauf und wartete dort auf ihn, ehe sie zu ihrer Kabine eilte, die sich unterhalb des Achterdecks befand. „Kommen Sie mit.“

Sobald sie ihre bescheidene Kajüte betreten hatten, drehte sie sich um, um den Matrosen anzuschauen, der seinen breitrandigen Hut abgenommen hatte. Nun wusste sie auch, warum er ihr so vertraut vorgekommen war. Mit seinem rötlichen Haar und den tief liegenden haselnussbraunen Augen ähnelte er seinem Bruder sehr.

Sie lächelte ihn an. „Möchten Sie einen Schluck Wein trinken, um sich aufzuwärmen, bevor Sie an Deck zurückkehren, Mr. Hargraves?“

„Nein, Miss. Ich habe Nachtwache und wenig Zeit. Aber ich danke Ihnen sehr.“

„Dann hat also mein Stiefbruder Sie angestellt, damit Sie auf mich aufpassen?“

„Ja.“

„Und ich vermute, dass ich von dieser Abmachung nicht so bald erfahren sollte.“

„Ihr Stiefbruder bat mich, so lange damit zu warten, bis wir auf dem offenen Meer sind. Ich wollte es Ihnen schon früher erzählen, aber Sie waren ja den ganzen Tag unten im Gefängnis. Übrigens sollten Sie nicht bis in die Nacht hinein dort unten bleiben“, fügte er hinzu. „Es ist gefährlich, sich nach Einbruch der Dunkelheit unter Deck aufzuhalten.“

„Das habe ich auch schon festgestellt.“ Ihre Stimme war anklagend. „Doch jemand muss verhindern, dass die gefangenen Frauen von diesen Männern belästigt werden. “

Er drehte den Hut in der Hand und musterte sie interessiert. „Sie kümmern sich wirklich um diese Frauen, Miss? Tom erzählte mir, dass Sie weichherzig seien, doch meiner Ansicht nach sollten Sie nicht ihr eigenes Leben für eine Horde verdammter Hur . . . ich meine leichter Mädchen aufs Spiel setzen. Das dürfen Sie nicht noch einmal machen. Das nächste Mal kann ich Sie vielleicht nicht mehr schützen.“

Sie hatte jetzt schon den Eindruck, dass dieser Beschützer auch sehr lästig werden konnte. „Ich werde nicht zulassen, dass die Matrosen sich an die Frauen heranmachen“, sagte sie warnend. „Dort unten gibt es auch kleine Kinder und Mädchen, die höchstens vierzehn sind. Wenn es der Besatzung erlaubt ist, nach Belieben dort ein und aus zu gehen . . .“ „Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Miss. Wenn Sie möchten, werde ich dafür sorgen, dass die Männer nicht mehr dort hinuntergehen, und wenn ich das mit dem Captain besprechen muss.“ Peter kratzte sich hinter dem Ohr. „Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit dort unten aufhalten, ja?“ „Wenn ich Ihnen zusichere, meine Arbeit nach dem Abendessen zu beenden, würden Sie dann die Frauen vor den anderen Matrosen schützen, Peter?“

Obwohl er bei der Erwähnung seines Vornamens errötete, nickte er. „Seine Lordschaft hat mich gut dafür bezahlt, dass ich auf Sie achte. Und selbst wenn das heißt, auf eine Meute gefangener Frauen aufzupassen, schaffe ich das sicherlich.“ Sie betrachtete seine unerschütterliche Miene, die ihn seinem Bruder noch ähnlicher machte, und entspannte sich. Genau das hätte Hargraves auch sagen und tun können. „Gut, abgemacht, Peter.“

Er nickte ernst, als er den Hut wieder aufsetzte, und ging zur Tür.

„Peter?“

Er blieb stehen. „Ja, Miss?“

„Jordan scheint ja wohl den besten Mann engagiert zu haben, den er finden konnte.“

Peter errötete erneut. „Vielen Dank, Miss. Ich werde mein Bestes für Sie tun.“

Nachdem er gegangen war, ließ sie sich erleichtert in einen Sessel sinken. Jetzt musste sie die Sorge um die Frauen nicht mehr allein tragen.

Plötzlich schien die Reise, die vor ihr lag, nicht mehr ganz so entmutigend und strapaziös zu sein. Vielleicht würde sich, dank Jordans weiser Voraussicht, schließlich ja doch noch alles zum Guten wenden. Und wenn sie und Peter verhinderten, dass sich das Schiff in ein „schwimmendes Bordell“ verwandelte, würde man abwarten können, was sie in New South Wales vollbringen würden.