EPILOG

März 1819

Der Ballsaal im Anwesen der Drydens in Derbyshire war voll gestopft mit Menschen, die neugierig auf den lange verloren geglaubten Erben des Marquis waren. Seine Lordschaft hatte zu einem glänzenden Kostümball zur Begrüßung seines Sohnes geladen, und nun schlenderten Sara und Gideon durch den Saal. Man hatte sie schon mit so vielen Menschen bekannt gemacht, dass sie das Gefühl hatten, schon jeden Einwohner der Grafschaft kennen gelernt zu haben.

Zum Glück waren sie kostümiert, denn dadurch konnten sie sich mit den Leuten unterhalten, die Gideon kaum kannte. Sie hatten es für einen großen Scherz gehalten, Gideon als Sir Walter Raleigh zu verkleiden, damit er zu Saras Verkleidung als Queen Elizabeth passte. Sogar seinen Ohrring hatten sie ihm gelassen. Lady Dryden hatte gesagt: „Er sieht auch in zivilisierter Kleidung aus wie ein Pirat, also kann er das Ding ruhig tragen.“ Mit seiner schwarzen Maske, der gebräunten Haut und dem kurz geschnittenen schwarzen Haar hielt Sara ihn für den bestaussehenden Mann des Balles, und sie hatte bemerkt, dass einige Frauen ihn schon interessiert angesehen hatten.

Doch er merkte davon überhaupt nichts. Nie zuvor hatte sie ihn so unsicher erlebt, auch nicht, als er vor zwei Wochen wieder englischen Boden betreten hatte. Damals war er nur neugierig gewesen und irgendwie amüsiert, dass er nun ein geachtetes Mitglied eben jenes Adels war, den er so viele Jahre belästigt hatte.

Heute Abend jedoch schien er sich sehr bewusst zu sein, was man von ihm als Erbe des Marquis of Dryden erwartete. „Müssen denn die Frauen ständig einen Knicks vor mir machen, als ob ich ein König wäre?“ grummelte er.

„Ja. Das steht dir bei deinem Rang zu.“ Ein schalkhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Du musst nicht einmal deinen Säbel drohend vor ihnen schwingen, um das zu erreichen. Stell dir das vor. Das muss doch eine ganz neue Erfahrung für dich sein.“

Er sah sie von der Seite an. „Wenn du mir nicht etwas Respekt bekundest, meine liebe Frau, werde ich meinen ... äh . . . Säbel später vor dir drohend schwingen, wenn wir allein sind.“

„Ach wirklich? Und glaubst du, dass dir das Respekt einbringen wird?“

Er lächelte. „Das ist in der Vergangenheit ganz gut gegangen.“

Sie schlug ihn spielerisch mit ihrem Fächer. „Ihr seid wirklich zu unanständig für die gute Gesellschaft, Mylord.“

„Nenn mich bloß nicht so“, wehrte er sich. „Dieses Wort hinterlässt bei mir noch immer einen schalen Geschmack im Mund.“

„Nun, dann solltest du dich besser daran gewöhnen, wenn du Vorhaben solltest, dich häufiger in England aufzuhalten.“

„Wir wären gar nicht hier, wenn du nicht unser Kind erwarten würdest.“ Er sah auf ihren gerundeten Bauch herab, der von ihrem üppigen Kostüm kaum verborgen wurde, und seine Züge wurden weich. „Nachdem ich Mollys Gebären miterlebt habe, wollte ich bei unserem Erstgeborenen kein Risiko eingehen.“

„Das ist nicht der einzige Grund, warum wir hier sind, und das weißt du auch“, sagte sie ruhig. „Du wolltest dir ansehen, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn es Elias Horn nicht gegeben hätte, nicht wahr?“

Er zuckte mit den Schultern und blickte über die Menge hinweg. „Schon möglich.“

Sie wollte gerade weitersprechen, als ihr Stiefbruder zu ihr trat. Zu Gideons Leidwesen war er von dem Marquis und seiner Frau auch zur Hausfeier im Derbyshire-Anwesen eingeladen worden.

Es war typisch für Jordan, dass er sich keine Zeit genommen hatte, sich zu kostümieren, sondern wie viele andere Männer nur eine Maske zu seiner üblichen Abendgarderobe trug. „Und wie geht es der werdenden Mutter? Du darfst dich nicht überanstrengen, denn ich möchte nicht, dass mein Neffe so früh geboren wird, dass man die Augenbrauen hochzieht.“

Gideon legte ihr mit der beschützenden Geste die Hand auf den Rücken, einer Geste, die sie nur zu gut kannte. „Wollen Sie damit andeuten, dass ich zu den Männern gehöre, die ihren Frauen erlauben, sich zu überanstrengen?“

„Wenn der Schuh passt. . .“

„Benehmt euch, alle beide“, warnte sie, als Gideon zornig wurde und Jordan ihn anstarrte. „Wann immer ihr euch begegnet, benehmt ihr euch wie Schuljungen, die sich um einen Pfennig streiten.“

„Du bist weit mehr wert als ein Pfennig“, versetzte Jordan. Noch ehe Gideon etwas dazu sagen konnte, fügte er hinzu: „Aber ich bin nicht hergekommen, um dich du ärgern, Schwester. Ich wollte nur sagen, dass ich fortgehe.“

„Gut“, murmelte Gideon leise vor sich hin.

Sie versetzte ihm einen Schlag mit dem Fächer, ehe sie sich wieder ihrem Bruder zuwandte. „Was meinst du mit fortgehen? Ich dachte, du wolltest die ganze Woche bleiben!“

„Ich meine nicht, dass ich nach London zurückkehre. Ich verlasse den Ball nur für eine Weile. Ich muss nur eine Dame nach Hause bringen.“

„Eine Dame?“ fragte Sara neugierig. „Ich dachte, du kennst außer Lord und Lady Dryden keine Menschenseele in Derbyshire.“

Er lächelte. „Das stimmt auch. Doch wenn eine bezaubernde Witwe mich bittet, sie nach Hause zu begleiten, sage ich nicht nein.“

„Also, Jordan . . .“, warnte sie.

„Kann ich etwas dafür, wenn die Frauen mich umwerfend finden?“ Er nickte Gideon zu. „Wenigstens gehöre ich nicht zu der Sorte deines Ehemanns und entführe Frauen gegen ihren Willen.“

Gideon sah ihn finster an. „Hören Sie zu, Blackmore, ich habe jetzt wirklich genug von .. .“

„Ruhig, Gideon. Merkst du denn nicht, dass er versucht, dich anzustacheln?“ Sie warf ihrem Bruder einen wütenden Blick zu. „Und was dich betrifft: Wenn du dich nicht benehmen kannst, werde ich nach Atlantis zurückkehren, noch ehe das Baby geboren ist, und dann wirst du es ein Jahr lang nicht zu sehen bekommen.“

Jordan beäugte sie misstrauisch. „Lady Dryden möchte die Geburt ihres Enkelkindes viel zu gern miterleben, dass sie dich gar nicht fortlassen würde.“

„Ich werde sie und Seine Lordschaft mitnehmen. Sie wollten uns schon besuchen, seit sie nach unserer Hochzeit zwei Wochen auf der Insel verbracht haben.“ Sie musste ihm nicht erzählen, dass Gideon ihr niemals erlauben würde, so kurz vor der Niederkunft mit einem Schiff zu reisen.

Jordan sah sie an. „In Ordnung, ich werde versuchen, mich zu benehmen. “ Dann schaute er in Richtung Tür, wo eine junge Dame stand, die ganz in schwarzes Bombasin gekleidet war. Jordans Miene veränderte sich leicht. „Ich kann mich heute jedem gegenüber anständig benehmen, wenn mir nur gestattet wird, diese Schönheit nach Hause zu begleiten.“ Er beugte sich zu Sara herab und flüsterte: „Gute Nacht, Schwesterchen, warte nicht auf mich.“ Dann drehte er sich um und ging forsch zu der jungen Frau hinüber.

Er war kaum außer Hörweite, als Gideon in Lachen ausbrach.

„Was ist denn, um Himmel willen, so komisch?“ fragte Sara.

„Wenn ich mich nicht irre, Liebste, hat dein Bruder die Absichten der Schönheit gründlich missverstanden. Er wird endlich seine lange fällige Strafe erhalten.“

Sara schaute ihn spöttisch an.

Seine Augen glitzerten amüsiert durch die Schlitze seiner Maske. „Ich habe die junge Dame vorhin kennen gelernt. Weißt du, wer sie ist? Die Tochter des Pfarrers und keine fröhliche Witwe. Sie betrauert ihre Mutter und nicht ihren Ehemann. Sie ist mit ihrem Cousin hergekommen, der genauso gekleidet ist wie dein Bruder, und ich wette, dass sie glaubte, sie spräche mit ihrem Cousin, als sie deinen Bruder bat, sie nach Hause zu begleiten.“

„Verflixt noch mal!“ rief Sara aus und wollte Jordan nachlaufen.

Doch Gideon hielt sie am Arm fest. „Wage es ja nicht. Er hat eine kleine Demütigung verdient für das, was er uns angetan hat, meinst du nicht auch?“

Sie zögerte und beobachtete, wie ihr Bruder den Arm der hübschen jungen Frau nahm und sie hinausführte. Sara zog Gideon auf den Balkon, weil sie wissen wollte, was weiter geschah. Sie kniff die Augen zusammen, als Jordan der Frau in die Blackmore-Kutsche half. Die Tochter des Pfarrers? Die nette, zuverlässige Tochter des Pfarrers?

Sie begann zu lächeln. „Vielleicht ist ja die Tochter des Pfarrers genau die Frau, die mein Bruder braucht.“

„Sprechen wir von demselben Mann? Von dem Earl of Blackmore, von dem du selbst gesagt hast, dass er ein Lebemann sei? Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass dein Bruder mit der Tochter eines Pfarrers verheiratet ist.“

„Ja, aber du hast ja auch wenig Phantasie.“ Sie wandte sich vom Balkon ab und sah Gideon liebevoll an. „Vor einem Jahr hättest du dir nicht träumen lassen, dass Barnaby glücklich verheiratet sein könnte mit einem Freudenmädchen wie Queenie und dass sie jetzt schon hoffnungsvoll auf ihr erstes Kind warten. Oder dass der mürrische alte Silas fähig sein könnte, Vater von Zwillingen zu werden, sie zu betreuen und gleichzeitig Atlantis in deiner Abwesenheit zu leiten. Oder dass du selbst dich mit der Stiefschwester eines Earl verheiraten würdest. Das hast du dir doch alles nicht vorstellen können, oder?“

„Nein.“ Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Na gut, du hast gewonnen. Ich denke, wenn ein blutrünstiger Pirat eine ehrbare Frau finden kann, kann das dein Bruder auch.“ Ohne Vorwarnung zog er sie zu einem Kuss in die Arme, der ihr fast die Sinne raubte. Als er sich von ihr löste, funkelten seine Augen. „Doch wenn ich die Dinge nach der kurzen Unterhaltung mit der Tochter des Pfarrers richtig deute, wird dein Bruder einige Kämpfe auszufechten haben.“

Sie begann zu lächeln, hob die Arme und zog ihn zurück in ihre Umarmung. „Umso besser. Wie ich schon immer sagte: Die besten Frauen - und Männer - sind die, um die man kämpfen muss.“

-ENDE -