XXIX.

 

Die Fragerei der beiden Polizisten raubt Hendrik Würtz den letzten Nerv. Ungeduldig starrt er auf seine Uhr. Was wollen sie noch aus ihm und Fritze herauspressen? Der Alte hat seine Geschichte bereits zum dritten Mal erzählt, und er selbst weiß so gut wie gar nichts über das Geschehen vom vergangenen Abend. Er hat sich bis in die frühen Morgenstunden in Elenas Suite aufgehalten. Die ist, als er ihren verbundenen Knöchel bemerkt hat, mit dem Überfall herausgerückt. Da hat er sich noch nichts dabei gedacht, sie nur tröstend in den Arm genommen und ermahnt, künftig vorsichtiger zu sein.

Inzwischen hat er Zeit zum Nachdenken gehabt, und nun will ihm eine Vermutung nicht mehr aus dem Kopf. Doch die ist so haarsträubend, dass er sie den beiden Uniformierten vorenthält. Was würden die von so einer Räuberpistole – anders kann er es selbst nicht bezeichnen - halten? Dabei gibt es einige Indizien, die seinen Verdacht stützen.

Er denkt an die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Frauen, das Gleichklingen ihrer Namen, das ihm der Nachtportier deutlich vor Augen geführt hat, ihr Aufenthalt im selben Hotel.

Schweiß tritt ihm auf die Stirn, als er den Gedanken weiterspinnt.

Wenn der fehlgeschlagene Raub von Elenas Tasche kein Zufall war, sondern mit ihrer wichtigen Mission hier in Brüssel zusammenhängt, haben die Täter ihr sicher nachspioniert, dann aber versehentlich das falsche Zimmer durchwühlt. Dazu brauchten sie den Schlüssel. Seine Reiseleiterin ist verschwunden und mit ihr der Reisebus. – Wenn ihn nicht alles täuscht, haben sie sich Lena Bauers bemächtigt, in der Annahme es sei Elena Boyer.

Hendrik Würtz versucht nicht, sich vorzustellen, was mit ihr geschehen wird, wenn sie ihren Irrtum erkennen.

Endlich kommen die Polzisten zum Ende. Hoffnung auf eine schnelle Aufklärung der Busentführung machen sie dem Reiseleiter nicht. Um das Verschwinden der Frau werde man sich jedoch vorrangig kümmern, Brüssel sei nicht Chicago, versprechen sie und verabschieden sich.

Allein zurückgeblieben, empfiehlt Würtz dem völlig geknickten Fritze, den Tag freizunehmen und sich auszuruhen. Mehr als Abwarten könnten sie jetzt sowieso nicht.

Die Reisegruppe ist versorgt. Dank Carlos Unterstützung sind die älteren Leutchen seit einer Stunde mit neuem Fahrer und Reiseleiter unterwegs, werden den Tag in Brügge verbringen.

Während sich Fritze murrend zurückzieht, eilt Würtz zu Elena hinauf.

Die hat sich, von Vize-Präsident de Marville versetzt, telefonisch bei seinem Assistent informiert, für wann die Anhörung angesetzt ist und erfährt, dass man sie gegen 12 Uhr im Europa-Parlament erwartet. Die Beratung solle nach der Mittagspause um 14 Uhr beginnen.

Hendrik Würtz, der Elena sicherheitshalber nicht mehr aus den Augen lassen will, beschließt, sie zu begleiten.

 

Unausgeschlafen, mit rotgeränderten Augen, aber korrekt gekleidet und einem gewinnenden Lächeln im Gesicht, eilt Christian Tulip durch die Gänge der neunten Etage. Der Kabinettssekretär, den er noch in der Nacht informiert hat, ist nicht zufrieden gewesen.

Sein Versprechen, es sei dafür gesorgt, dass die junge Deutsche ihren Vortrag nicht halten kann, hat er kommentarlos ohne weitere Fragen hingenommen. Das verunsichert den Verwaltungsangestellten, dem die aus dem Ruder gelaufene Durchsuchung des Hotelzimmers schwer im Magen liegt. Gern hätte er sich mit Jean-Paul beraten, doch der ist nach seinem dortigen Wutanfall noch nicht wieder aufgetaucht.

Also hat Christian beschlossen, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen, seiner Arbeit nachzukommen und dabei heimlich zu beobachten, wie die Anhörung ohne Mademoiselle Boyer von statten gehen wird. 

Wie vorausberechnet, läuft ihm der Assistent des Vize-Präsidenten über den Weg. Er sieht weder nach rechts noch nach links, scheint völlig kopflos zu sein.

„Was für ein verdammter Tag“, flucht er leise, als ihn Tulip anspricht.

„In ein, zwei Stunden tagt die Fach-Gruppe zum Euro-Rettungsschirm und mein Chef, der die Aussprache nach der Anhörung leiten soll, ist wie vom Erdboden verschwunden.“

„Wie meinen Sie das?“, fragt Christian Tulip scheinheilig. „Der Herr Vize-Präsident zeichnet sich dadurch aus, akkurat wie ein Uhrwerk zu funktionieren. Pünktlich bis auf die Sekunde. Das hat sich im ganzen Haus herumgesprochen.“

Der Assistent seufzt.

„So war es auch, bis gestern diese Mademoiselle aus Deutschland aufgetaucht ist. Sie ist verdammt hübsch, aber wie eine Handvoll Sand im Getriebe. Den ganzen Tagesplan hat sie meinem Chef durcheinandergebracht. Und nun ist er nicht auffindbar!“, klagt er dem anderen sein Leid. „Ich arbeite jetzt fast fünf Jahre für ihn, damals war er noch einfacher Abgeordneter, aber so etwas habe ich bisher noch nie erlebt. Und jetzt entschuldigen Sie mich!“

Er will weiterstürmen, doch sein Gesprächspartner hält ihn am Ärmel zurück.

„Nicht möglich. Kann denn die Anhörung ohne ihn nicht stattfinden?“

„Doch, doch“, antwortet der Assistent hastig, wobei hektische Röte sein Gesicht überzieht. „Als Monsieur de Marville um zehn Uhr noch immer nicht eingetroffen war und ich ihn weder in seiner Dienstwohnung noch über Handy erreichen konnte, habe ich vorsichtshalber seinen Stellvertreter informiert. Das hat dem zwar gar nicht gepasst, aber im Notfall wird er die Gesprächsleitung übernehmen.“

Mit einem Aufstöhnen macht er sich los. „Und jetzt lassen Sie mich, ich habe noch so viel zu erledigen bis 14 Uhr – die Anwesenheitsliste, die Einweisung der Dolmetscher – und jetzt bin ich auf dem Weg, die Referentin vom Empfang abzuholen. Mit Begleitung, die nicht angemeldet war. Das muss ich nun auch noch regeln!“

Er stürzt auf den nächstgelegenen Fahrstuhl zu.

Entgeistert starrt Christian Tulip dem Assistenten hinterher. Die Referentin hier im Haus? Das ist unmöglich. Davon muss er sich selbst überzeugen.

Mit weichen Knien begibt er sich ebenfalls zum Aufzug.

 

„Merde!“ Nach dem Anruf seines Kontaktmannes hat Jean-Paul Dumont endgültig die Nase voll. Er ballt die Fäuste, möchte am liebsten alles kurz und klein schlagen. Niemand würde ihn jetzt davon abhalten, wie Christian gestern Nacht im Hotel, als sie vergeblich nach den Vortragsunterlagen gesucht haben. 

In was haben sich Christian und er da bloß hineingeritten? Die Weitergabe von halböffentlichen Dokumenten für ein kleines Honorar ist ein Kavaliersdelikt gegen das, was sie jetzt auf dem Kerbholz haben: versuchter Raub, Körperverletzung, Entführung, Einbruch, zählt er insgeheim für sich auf. Und nun, wo es an allen Ecken und Enden richtig schiefläuft,  sollen sie die Sache einfach abblasen, so tun, als ob nichts gewesen wäre?

Er lacht bitter auf. Ja, so läuft es in der großen Politik. Da haben sich Christians Kanzlerin und sein Ex-Präsident blitzschnell über Mittelsmänner verständigt, und der neue Präsident hat den seit Monaten zurückliegenden, gewagten Vorstoß der beiden in Sachen Euro-Rettungsschirm im Nachhinein sanktioniert, weil er die bilateralen Beziehungen beider Länder nicht gefährden will.

Wie hat sein Kontaktmann so schön gesagt: Damit bestünde keine Notwendigkeit mehr, die bis dato brisanten Zahlen zu verschleiern, und die kleine Referentin aus dem Bundesministerium könne ihren Vortrag ruhig halten.

Wer weiß besser als er, dass sie das gegenwärtig nicht kann.

Jean-Paul schaut auf die Uhr. Was wird es für eine Aufregung geben, wenn in zwei Stunden die Anhörung beginnt und Mademoiselle Boyer nicht auftaucht – genauso wenig wie der verantwortliche Organisator, der bestimmt schon seit einigen Stunden vermisst wird.

Eilig schlüpft der junge Angestellte in Hemd und Anzug, bindet mit fahrigen Fingern seinen Schlips.

Obwohl es sein freier Tag ist, wird er schnellstens ins Parlament fahren und dort mit Christian besprechen, wie der angerichtete Schaden wenigstens zu begrenzen ist.

Um Aufsehen zu vermeiden, können sie frühestens nach Eintritt der Dunkelheit nach dem Reisebus und dessen unfreiwilligen blinden Passagieren sehen.

„Merde!“, flucht Jean- Paul noch einmal, bevor er seine kleine Wohnung in der Oberstadt verlässt.

Liebe in Zartbitter
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