XXXII.

 

„Und, geht’s Ihnen etwas besser?“

Erleichtert bemerke ich, wie Monsieur de Marvilles bleiches Gesicht etwas Farbe bekommt. Die Wasserflasche setzt er erst ab, als sie völlig geleert ist, dann lässt er sie ins Gras fallen, das mit kleinen Fläschchen übersät ist.

„Noch einen Klaren?“, frage ich.

„Non!“, winkt er entsetzt ab. „Auf keinen Fall!“

Ich muss grinsen. Er soll sich bloß nicht so haben. Fritzes Notapotheke hilft, innerlich oder äußerlich angewendet, auch bei scheinbar aussichtslosen Fällen. Wie sich gerade gezeigt hat.

Vier Rationen besten Nordhäuser Doppelkorn habe ich geopfert, um die Kopfwunde zu desinfizieren. Eine habe ich ihm eingeflößt, ganz behutsam, denn er sollte ja zu sich kommen und nicht daran ersticken.

Vom Erfolg meines Tuns begeistert, genehmige ich mir einen „Kleinen Feigling“. Auf leerem Magen brennt er ganz schön, beruhigt aber meine strapazierten Nerven ungemein.

Es war vielleicht eine Plackerei, die Autoreifen heranzuschleppen, um damit an die Fenster zu gelangen. Schuldbewusst schiele ich auf eine zerbrochene Scheibe, deren Scherben am Boden verstreut herumliegen.

Es tut mir ja leid, Fritzes Bus verwüstet zu haben, aber ich wusste mir keinen anderen Rat, um an das Wasser zu kommen. Dabei habe ich, statt etwas zu Essen, seinen Schnapsvorrat für lustige Seniorenfahrten entdeckt.

 De Marville versucht, sich aufzurichten, ich springe in die Höhe, um ihn notfalls zu stützen, aber er schafft es allein.

„Gehört bei Ihnen Überlebenstraining zur Ausbildung für den diplomatischen Dienst, Mademoiselle Boyer?“

Er deutet auf den demolierten Bus, seinen Kopf und die leeren Schnapsfläschchen. „Dann ist Deutschland uns darin weit voraus.“

Obwohl das sicher ein Scherz sein soll, behagt mir das Thema nicht. Auch nicht, dass er mich mit dem Namen einer Person anredet, die ich nicht kenne, die aber gewiss einige Schuld an unserer gegenwärtigen Situation trägt. Trotzdem kann ich mir eine Frage nicht verkneifen.

„Was passiert eigentlich, wenn Sie nicht rechtzeitig im Parlament eintreffen, fällt die Anhörung dann aus?“

Er wagt ein paar unsichere Schritte, wobei er sich an den Bäumen abstützt. Seine Stirn legt sich in sorgenvolle Falten.

„Mich man kann leicht ersetzen, auf Sie kommt es an!“

Warum spüre ich urplötzlich wieder den Geschmack von Zartbitterschokolade auf der Zunge? Eigentlich bin ich doch nur froh, dass ich Gesellschaft in dieser Einöde habe.

De Marville greift in seine Brusttasche.

„Keine Chance, Akku leer“, nehme ich ihm die Hoffnung, per Handy Hilfe herbeirufen zu können.

Mein Magen knurrt unanständig laut. Ich genehmige mir einen weiteren „Feigling“. Der Alkohol betäubt das Hungergefühl.

„Sieht wohl etwas schlecht aus, mit unserem Timing“, werfe ich kleinlaut ein.

Seine Knie knicken ein, er lässt sich resigniert neben mir ins Gras sinken.

„Da Sie haben recht, Mademoiselle Boyer. Ich wüsste nicht, wie wir so schnell können hier wieder wegkommen.“

Boyer, Boyer! Ich kann diesen Namen nicht mehr hören, deshalb schließe ich mit mir einen Kompromiss, denn ihm gerade jetzt zu verraten, dass er sich irrt, was meine Person anbetrifft, halte ich nicht für angebracht.

„Bitte nicht so förmlich, Monsieur de Marville, ich glaube, das ist unserer gegenwärtigen Lage nicht angemessen. Sagen Sie doch einfach Lena zu mir. Eine Kurzform von Elena“, füge ich schnell hinzu.

Er sieht mich einen Moment verwundert an, dann versucht er zu lächeln. Es fällt etwas gezwungen aus.

„Stimmt, Förmlichkeiten helfen uns nicht weiter in dieser Situation, Lena, aber Sie müssen mich dann ebenfalls nennen beim Vornamen. Ich heiße André.“

So, wie er ihn mit seinem leichten  Akzent ausspricht, klingt der Name unglaublich romantisch. Ondree. Er greift nach meiner Hand und drückt sie, ich rücke ein wenig näher an ihn heran.

Meine Radikalkur zeigt Wirkung, langsam scheint er sich zu erholen. Ich sehe es seinem Gesicht an. Das wirkt sehr anziehend, besonders wenn er lacht. Meine Augen verweilen an dem winzigen Spalt in seinem Kinn. Er wirkt so sexy.

Einen Moment herrscht Schweigen. Ich lange nach dem Wasser und biete ihm eine Flasche an.

„Wenigstens davon haben wir jetzt reichlich, nur nichts zu essen“, seufze ich, „und wenn es kalt wird, setzten wir uns in den Bus. Dort können wir notfalls sogar übernachten, wenn bis dahin keine Hilfe eintrifft.“

Das hoffe ich nicht. So wie ich Fritze kenne, wird er inzwischen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um seinen Bus zurückzubekommen.

Ich spüre, wie André zusammenzuckt. Auch ihm scheint die Aussicht auf einen längeren Aufenthalt in dieser Einöde nicht zu behagen. Doch was ihn wirklich bedrückt, verrät er mir mit in der nächsten Sekunde.

„Tun Sie mir einen Gefallen, Lena, sagen Sie mir bitte, was ist vorgefallen in der Nacht. Meine Erinnerung endet vor Ihrem Hotel als ich helfen wollte einem jungen Mann, aufzuheben seine Akten.“

Vor dem Hotel von Elena Boyer, meint er wohl.

Ich bin auf der Hut. Von meinem Streit mit Hendrik Würtz, der vergessenen Handtasche und Fritzens Bus kann ich ihm nicht erzählen, dann würde er ganz schnell darauf kommen, dass ich nicht die Referentin aus Berlin bin, für die er mich hält.

Sorgsam wäge ich meine Worte.

„Ich bin zu einem kleinen Abendspaziergang aufgebrochen, in den Park unweit des Hotels...“ Ein dritter „Feigling“ hilft mir, ihm wahrheitsgemäß vom Überfall des Vermummten zu berichten, der mir die Hotelschlüssel abgenommen, mich gefesselt, geknebelt und in den Kofferraum des Busses gesperrt hat.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, was der Kerl eigentlich von mir wollte“, ende ich unbestimmt.

André starrt mich an.

„Und im Kofferraum Sie sind dann irgendwann gestoßen auf ein hilfloses Bündel – auf mich“, flüstert er.

Es scheint ihm äußerst peinlich zu sein.

„Ich war so froh, nicht allein in dem dunklen Loch zu sein, das dürfen Sie mir glauben“, ergänze ich augenblicklich. Es stimmt ja auch.

„Sie sind ein tapferes Mädchen, aber ich bin Ihnen gewesen keine große Hilfe bei der Befreiungsaktion.“

Ich rücke noch ein wenig näher an ihn heran, lehne meinen Kopf an seine Schulter und protestiere.

„Sie haben getan, was Ihnen möglich war. Und Sie haben mich von den Fesseln erlöst. Allein hätte ich das nicht geschafft. Ebenso wenig wie das Sprengen der Verriegelung unseres Gefängnisses.“

Er streicht mir mit seiner Hand sanft übers Haar.

„Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber Sie sind einfach bezaubernd. Hübsch und klug, mutig und bescheiden...“

„Hören Sie auf, sonst werde ich noch rot vor Verlegenheit“, unterbreche ich seine Lobeshymne, obwohl sie mir ausnehmend gut gefällt. Wieder spüre ich den ausgeprägten Geschmack von Bitterschokolade auf meiner Zunge. Ich fühle mich plötzlich leicht und frei.

Lass ihn weiterreden, denke ich, vielleicht wird es ja eine Liebeserklärung. - Nimm dich zusammen, er ist sicher nur verwirrt, schließlich hat er einen Schlag auf den Kopf bekommen, bringt mich mein Verstand auf den Boden der Tatsachen zurück.

Was weiß ich denn von ihm? In seinem Alter hat ein seriöser Berufspolitiker garantiert Frau und Kinder zuhause.

Bevor er darauf antworten kann, ist von Ferne Motorengeräusch zu vernehmen. Kurz darauf nähern sich zwei Motorräder.

Jugendliche, die auf dem Autofriedhof nach brauchbaren Ersatzteilen suchen wollen.

André de Marville strafft seine Gestalt und springt auf.

„Warten Sie hier. Jetzt sich findet eine Möglichkeit zu gelangen zurück in die Brüsseler Innenstadt.“

Er folgt den Jugendlichen. Auf halber Strecke ruft er ihnen etwas zu. Sie bleiben stehen, machen dann tatsächlich kehrt und gehen auf ihn zu. Was gesprochen wird, kann ich nicht hören – könnte es sowieso nicht verstehen. Nach einigem Hin und Her zückt de Marville seine Brieftasche. Sie scheinen sie sich geeinigt zu haben, denn er winkt mich heran.

„Kommen Sie schnell, ehe die sich das noch überlegen anders!“, fordert er mich auf.

Eine Minute später sitze ich als Beifahrerin auf einem der Feuerstühle, festgeklammert an Monsieur de Marville.  Obwohl mir bei seinem Vorhaben, selbst zu fahren, etwas mulmig zumute ist – schließlich ist er vor kurzer Zeit kaum in der Lage gewesen, aufzustehen – bin ich aufgestiegen.

Ich unterdrücke ein Kichern. Was sind wir für ein seltsam aussehendes Gespann. Er Hemdsärmelig, ich in dem mir viel zu weiten Jackett des Vize-Präsidenten. Er hat darauf bestanden, dass ich es überzuziehe, weil es während der Fahrt zugig werden wird. 

An ihn geklammert, nehme ich den zarten Duft seines Eau de Toilette wahr, den meine Nase schon im Parlament und im Kofferraum des Busses als angenehm empfunden hat, und ich spüre durch den Stoff die Wärme seines Körpers.

An uns fliegen Äcker und Wälder vorbei. Die ersten Häuser tauchen in der Ferne auf.

Ich klammere mich fester an den Fahrer, der weiter an Tempo zulegt.

Mein Gott, er könnte gut und gerne die Geschwindigkeit etwas drosseln. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an.

Er will mich am Hotel absetzen, damit ich mich umziehen und ihn ohne Verzögerung mit meinen Unterlagen ins Parlament begleiten kann.  - Welche Unterlagen?

Während wir bereits die Innenstadt erreichen, habe ich reichlich Stoff zum Nachdenken.

Wenn André am späten Abend tatsächlich vor dem „Hotel Le Dome“ gewesen ist, heißt das, dass diese Mademoiselle Boyer ebenfalls dort logiert.

Mir fallen die Kennkarte mit dem schlechten Foto und der Page mit der Rose ein, der meinen Namen französisch ausgesprochen hat – oder hat er in Wahrheit die andere gemeint?

Ich beginne, ein paar Zusammenhänge zu begreifen: Wenn es die Gangster weder auf Fritzes Bus noch auf mich, sondern auf die Referentin abgesehen und durch einen dummen Zufall die falsche erwischt hätten?

Wir biegen in die Straße zu meinem Hotel ein.

Schade. Von mir aus hätte die Fahrt ewig dauern können. Es ist so angenehm, sich nach all den Schrecken der vergangenen Nacht, an einem starken, gut aussehenden Mann festzuhalten. Selbst das Hungergefühl habe ich dabei vergessen. Ich weiß nur eines: Ich will mich noch nicht von Monsieur de Marville –  von André – trennen.

Ich beschließe, mein Geheimnis noch ein wenig länger für mich zu behalten, mit dem Vize-Präsidenten ins Parlament zu fahren und zu sehen, ob die echte Referentin unbehelligt den Vortrag auf der angesetzten Tagung hält. Dort werde ich irgendwann wohl oder übel Farbe bekennen müssen, aber, ehrlich gesagt, ist mir dabei diese Elena Boyer völlig gleichgültig. Was kann ich schließlich dafür, dass man mich mit ihr verwechselt hat?

Ich fühle mich leicht und frei, wie schwebend.

Vor dem Hotel angekommen, folge ich André zur Rezeption. Während er nach einem Telefon fragt, verlange ich leise, damit er es nicht versteht, meinen Schlüssel.

„Bitte beeilen Sie sich!“, ruft er mir nach, als ich in Richtung Fahrstuhl verschwinde.

Liebe in Zartbitter
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