XXVIII.

 

Ein Stöhnen direkt an meinem Ohr reißt mich aus dem unruhigen Halbschlaf, in den ich gefallen sein muss.

Ich schrecke hoch, brauche einen Moment, um mich zu orientieren.

Dies ist nicht mein Hotelbett, und ich habe auch nicht schlecht geträumt. Es ist real, dass ich, Lena Bauer, mit gefesselten Händen und einem zugeklebten Mund im Kofferraum von Fritzes Reisebus gefangen bin und neben einem Körper liege, der anfangs reglos, sich nun zu bewegen beginnt.

 „Aie, ma tête!“ (Oh weh, mein Kopf!)

Ein weiteres Stöhnen folgt.

„Au diable, qu'est-ce qui m'est arrivé? Où suis-je?“  (Zum Teufel, was ist mit mir geschehen? Wo bin ich?)

Es ist ein Mann, damit habe ich recht gehabt. Ein Franzose oder ein Belgier. Jedenfalls spricht er französisch und ich verstehe wieder einmal kein Wort.

Als eine Hand nach mir tastet, rücke ich, so gut es geht, beiseite.

 „Qui est là? Répondez-moi!“  (Wer ist hier? Antworten Sie!)

Was hat er gesagt? Obwohl ich nicht mal ahne, was er von sich gibt, würde ich ihm gern antworten, doch mit zugeklebtem Mund geht das schlecht. Er hat die Hände frei, könnte mich befreien.

Ich rücke wieder näher an ihn heran, richte mich auf und nähere mein Gesicht dem seinen. Doch bevor ich mit dem Klebeband seine Lippen berühre, dreht er den Kopf zur Seite.

So ein Idiot! Nimmt er etwa an, ich habe das Verlangen, ihn zu küssen? Ich weiß ja nicht einmal, wie er aussieht. Aber irgendwie muss ich ihm deutlich machen, warum ich nicht antworte.

Ich überlege kurz, dann versuche ich es anders. Ich drehe mich auf die Seite, ihm den Rücken zugewandt, und bemühe mich, ihm meine gefesselten Hände entgegen zu schieben. Wenn er sie betastet, muss er doch merken, was los ist.

Er begreift anscheinend nicht, was ich tue, und stellt erneut eine Frage.

Wie kann man nur so schwer von Begriff sein! Verzweifelt grüble ich, was ich noch anstellen kann, damit er meine Situation erkennt. Mir will nichts einfallen. Ich drehe mich auf den Rücken und stöhne.

Er verstummt.

Das ist es! Ich stöhne noch einmal.

Seine Hand langt tastend zu mir herüber – und zuckt zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt.

Ja, das war doch schon sehr gut. Nur ein bisschen zu tief eben. Jedenfalls hat mein Leidensgefährte erkannt, dass es eine Frau ist, die neben ihm liegt.

„Excusez-moi, Madame“, höre ich ihn stammeln.

Lass die Entschuldigungen und mach weiter, sporne ich ihn wortlos an.

Nach einer Weile, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, findet seine Hand mein Gesicht. Als die Finger über meinen verklebten Mund fahren, halten sie inne.

Ist jetzt endlich der Groschen gefallen?

Ich höre, wie er sich mit einen Stöhnen aufrichtet und nun seinerseits näher zu mir heran rutscht.

„Autsch!“, schreie ich auf, als er eine Ecke des Klebestreifens gefunden hat und ihn mit einem Ruck abzieht. Vor Schmerz schießen mir die Tränen in die Augen. Da stellt er schon wieder eine Frage.

Ich reibe mir die schmerzenden Lippen.

„Monsieur, sprechen Sie Deutsch? Do you speak English? Habla español?“

Damit ist mein Angebot an Sprachen, in denen ich mich mit ihm verständigen kann, erschöpft.

Einen Moment herrscht Schweigen.

„Allemagne?“, fragt er mit heiserer Stimme. „Sie sind Deutsche? Sagen Sie mir, wo sind wir und wie kommen wir hierher?“

„Wie Sie hierherkommen, weiß ich nicht“, antworte ich und beschreibe ihm unseren gegenwärtigen Aufenthaltsort.

„Non! Quelle horreur!“ Er atmet stoßweise aus. (Das ist ja schrecklich!)

Was hat er nur?

„Würden Sie jetzt so liebenswürdig sein, und meine Handfesseln lösen?“, werfe ich ungeduldig ein, bevor er eine neue Frage stellen kann. „Ich drehe Ihnen den Rücken zu, dann können Sie mich befreien.“

Wieder entschuldigt er sich wortreich.

Während er sich abmüht, das meterlange Klebeband abzuwickeln, habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich seine Stimme schon irgendwo gehört habe.

Dann bin ich frei.

Mit einem Seufzer bewege ich die steifen Schultern, massiere abwechselnd meine Handgelenke. Als ich mich aufrichten will, stoße ich mir unsanft den Kopf an der niedrigen Decke.

Das war echt blöd. Ich habe dutzende Male mitgeholfen, Gepäck einzuladen. Da sollte ich wissen, wie hoch so ein Kofferraum ist.

Mein Leidensgenosse hat sich mit einem Schmerzenslaut auf den Boden zurückfallen lassen.

„Was ist mit Ihnen“, frage ich besorgt.

„Mir ist ein bisschen übel ... und mein Kopf... er tut höllisch weh...“

Er spricht so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Ich schiebe mich neben ihn, richte mich ein wenig auf  und betaste seinen Kopf.

„Eine ganz nette Beule haben sie da“, flüstere ich gewollt munter, als ich die Stelle in seinem dichten Haar finde. Sie ist feucht und klebrig.

Er gibt keine Antwort. Verdammt, er wird doch nicht wieder wegtreten. Wir müssen dringend beratschlagen, wie wir aus dem Bauch des Busses herauskommen. Auf Hilfe von draußen rechne ich nicht, denn wenn die beiden Gangster gewollt hätten, dass man uns findet, hätten sie den Bus auf dem Parkplatz stehen lassen können.

Also müssen wir uns selbst befreien. Je schneller, desto besser.

Es ist nicht nur verdammt kalt hier, auch die Luft wird immer schlechter.

Während ich mit meinen Fäusten wild gegen die Buswand schlage, kann ich mich eines Gedankens nicht erwehren, der mich in Panik verfallen lässt: Müssen wir in diesem Kofferraum ersticken?

Liebe in Zartbitter
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