XXXIX.

 

Ohne Trubel ist das Umfeld des EU-Parlaments nicht vorstellbar. Bis in die Abendstunden halten sich hier Touristen auf, hasten Politiker und Verwaltungspersonal von einem Gebäude zum anderen. Fahren Reisebusse vor und ab.

Mit langsamen Schritten nähere ich mich den Eingang, wo vor fünf Tagen mit einer Verwechslung begann, was mir jetzt das Herz zu brechen droht.

Ach, André de Marville, warum bist du kein deutscher Abgeordneter, seufze ich insgeheim, dann würde es wenigstens eine winzige Chance für uns geben.

Bevor eine vorwitzige Träne ihren Weg über meine Wange findet, wische ich sie energisch weg und mit ihr die aufsteigende Traurigkeit. Mit trübsinnigem Grübeln will ich uns das letzte Zusammensein nicht verderben.

Auf dem Treppenansatz entdecke ich ihn und winke ihm mit einem wehmütigen Lächeln zu. Er stürzt heran.

„Da bist du ja endlich, Lena. Schnell, schnell, wir sind spät dran!“

Ohne eine Begrüßung packt André mein Handgelenk und zerrt mich die Stufen hinauf.

Was soll das? Ich begreife nichts, folge ihm aber gehorsam zum Empfang. Wahrscheinlich muss er noch arbeiten und ich soll solange auf ihn warten.

Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich ist es unser letzter gemeinsamer Abend. Doch André de Marville kann wohl nun einmal nicht aus der Haut des nüchternen und pflichtbewussten Politikers heraus.

„Hat Pierre heute nicht Spätdienst?“, fragt er den Uniformierten, der eine Gruppe Besucher abfertigt. Der tut es ganz gemütlich, denn Schlangen bilden sich um diese Zeit nicht mehr.

„Pierre holt sich eine Tasse Kaffee“, schwatzt er munter drauflos, „er ist drauf und dran, sich krank zu melden. Die Woche hat ihn völlig geschafft.“

Wir erfahren, dass Pierre glaubt, überarbeitet zu sein, und beginnt, an seinem Verstand zu zweifeln.

„Da gibt es eine junge Frau, die ihn bis in seine Träume verfolgt“, macht sich der Uniformierte wichtig.

Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. Lena und Elena - im Doppelpack können wir den gewissenhaftesten Staatsbediensteten aus der Fassung bringen.

Ich stelle mir vor, wie er an Tag der Anhörung, kurze Zeit, nachdem ich das Gebäude verlassen habe, auf Elena getroffen ist, die ihm ganz korrekt ihre Kennkarte ausgehändigt hat.

„Da ist er ja.“

André winkt den Sicherheitsmann zu sich heran.

Bei meinem Anblick zuckt der zusammen.

„Non, non, non, nicht schon wieder Sie! Sie kommen heute hier nicht herein!“, stammelt er. „Nicht ohne Ausweis!“, beharrt er entschlossen.

„Aber Pierre“, rügt ihn André sanft. „Es muss doch noch ihre Legitimation vorliegen.“

„Die ist seit gestern ungültig!“

André zieht mich näher zu sich heran und legt den Arm um mich.

„Wissen Sie denn, wen Sie hier vor sich haben?“

„Mademoiselle Elena Boyer, ein Geist der hier ein- und ausgeht, mal mit Ihnen, mal mit einem anderen, mal mit Kennkarte, mal ohne“, stöhnt der Uniformierte und fasst sich an den Kopf.

„Da irren Sie sich, Pierre. Außerdem hat der Spuk ab sofort ein Ende“, beschwichtigt mein Begleiter den Aufgeregten. „Elena Boyer ist bereits abgereist. Diese Dame nennt sich Lena Bauer - und wenn sie es will, schon bald Helene de Marville.“

Jetzt schaue ich fassungslos zu André auf, dann begreife ich.

„Ist das dein Ernst?“, flüstere ich ungläubig. „Aber wie soll das gehen? Wie stellst du dir das vor?“

Statt einer Antwort sucht er meine Lippen. Hier, vor allen Leuten!

„Mon trésor, nous allons trouver une solution. Je ne sais qu'une chose: je ne peux plus vivre sans toi.“ (Da finden wir einen Weg, mein Liebling, ich weiß nur, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann.)

„Sprich deutsch, bitte“, flehe ich, während er mich an dem konsternierten Beamten vorbei durch die Sperre schiebt. „Französisch muss ich doch erst noch lernen.“                                                                        

 

Liebe in Zartbitter
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