XXI.

 

Fast am „Hotel Le Dome“ angekommen, zögert André de Marville einen Moment und schnippt ein Staubkorn von seinem dunkelgrauen Anzug. Am liebsten würde er kehrt machen. Nach dem langen, aufreibenden Tag, verlangt ihn eher nach einem Glas Rotwein und seiner Couch, als nach einem weiteren dienstlichen Gespräch.

Hätte mich der Brief von Mademoiselle Boyer nicht erst morgen erreichen können, hadert er mit sich. Doch pflichtbewusst, wie er nun einmal ist, hat er ihn gelesen und kann die darin vorgetragene Bitte nicht ignorieren. Wenn er ehrlich ist, ist er sogar ein wenig neugierig darauf, wie sie ihm ihr plötzliches Verschwinden erklären wird.

Irgendwie verspürt er dabei das Gefühl, dass das nicht alles ist, was ihn an der Referentin interessiert.

Eine Vorstellung, wie sie wohl im hoteleigenen Bademantel aussehen mochte, huscht durch sein Gehirn. Schnell schiebt er sie beiseite, zusammen mit der Vision ihres feucht glänzenden Haarschopfs und über die zarte Haut rinnenden Wasserperlen.

Was mag sie nur für eine Frau sein?

Erneut verspürt er den Ärger, der in ihm aufgestiegen ist, als er wie auf Kohlen umsonst auf sie gewartet hat, um anschließend zum Termin bei der IWF-Direktorin zu hetzen. Ja, hetzen ist der treffende Ausdruck.

Und dann der Brief, er solle in ihr Hotel kommen. Impossible! Eine vollkommen unmögliche Person – für den diplomatischen Dienst jedenfalls. Aber ansonsten verteufelt hübsch. Das hat sein Assistent noch vor ihm registriert und sofort zu flirten versucht. Das ist ihm ganz und gar nicht recht gewesen und er deshalb augenblicklich eingeschritten.

Unwillkürlich tastet er nach der Botschaft von Mademoiselle Boyer in seinem Jackett, faltet sie auseinander und liest sie nochmals durch.

Sie schreibt von einem Missgeschick.

Einem? Er verkneift sich ein Lächeln. Den ganzen Tag hat sie ihn in Atem gehalten und seinen Dienstplan komplett durcheinander gebracht. Ist erst zu spät erschienen, dann verschwunden und nun schickt sie nach ihm. Genau genommen rechtfertigen die Unterlagen das sogar.

Verwirrt stutzt er. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass das Schreiben auf Französisch abgefasst ist, dabei hat er den Eindruck gehabt, sie verstehe die Sprache nicht, vom Sprechen oder Schreiben ganz zu schweigen.

Eine seltsame Person, diese Elena Boyer. Sympathisch, aber äußerst rätselhaft. Er kennt sie erst seit wenigen Stunden und trotzdem ist es ihr gelungen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, sich in seinen Kopf regelrecht einzunisten.

Plötzlich hat André de Marville kein Verlangen mehr nach seiner heimischen Couch. Auf einen guten Rotwein schon, aber nicht allein. Vielleicht sind sie mit den Absprachen zu der morgigen Anhörung schnell zu Ende und die Mademoiselle lässt sich nach getaner Arbeit auf ein Glas einladen.

Es ist verdammt lange her, dass er sich für ein nettes Gespräch mit einer attraktiven Frau etwas Zeit genommen hat…

Nach einem letzten, prüfenden Blick auf sein Äußeres geht der Vize-Präsident entschlossen auf das große, selbsttätig öffnende Glasportal des Hotels zu, doch bevor er es erreicht hat, ertönt hinter ihm eine gedämpfte Stimme.

„Entschuldigen Sie, Monsieur, gehen Sie mir aus dem Weg. Schnell bitte!“

Der junge Mann, der neben ihn getreten ist, hat den Arm voller Akten, die sein Gesicht verbergen und die er mühsam balanciert. Vergeblich. Eine rutscht ihm zu Boden, eine zweite hinterdrein. Aufheben kann er sie nicht ohne den restlichen Stapel zu gefährden.

Hilfsbereit bückt sich André de Marville nach den Ordnern.

Bevor er sich jedoch wieder aufrichten kann, erhält er einen Schlag auf den Hinterkopf und geht in die Knie, dann wird es dunkel um ihn herum.

 

Pascha? Elena starrt ungläubig aus dem Fenster, doch es ist kein Irrtum. Der junge Mann, der vor dem Hoteleingang auf- und abmarschiert, ist kein anderer als ihr Verlobter. Ihr Herz schlägt freudig erregt. Hat er es also doch einrichten können, und nun steht er vor ihrem Hotel.

Ungeachtet des verbundenen Knöchels stürzt sie zum Fahrstuhl, dann an der Rezeption vorbei. Als sich das Glasportal öffnet, kehrt er ihr den Rücken zu.

Lautlos tritt sie hinter ihn, hält ihm die Augen zu.

Mit einem Ruck wendet er sich halb um. Durch die kleinen Damenfinger hindurch erkennt er einen kupferblonden Wuschelkopf.

„Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt, Fräulein Bauer? Was soll das?“, schnaubt er und befreit sich unsanft aus den ihn umschlingenden Armen.

„Aua, Pascha, du tust mir weh!“

Hendrik Würtz erstarrt zur Salzsäule. Das ist doch nicht möglich, denkt er und betrachtet die junge Frau vor ihm wie einen Geist. „Elena? Du?“

„Wer sonst?“, schmollt die und tritt einen Schritt zurück. „Gefalle ich dir etwa nicht mit meiner neuen Frisur? Ist allerneuester Chic – aber wer ist dieses Fräulein Bauer?“

Misstrauisch starrt sie ihren Verlobten an, bricht dann aber über seinen Gesichtsausdruck in perlendes Gelächter aus.

„Wenn du dich sehen könntest! Nun komm schon oder willst du ewig vor der Tür stehen bleiben? Meine Suite ist sehr bequem, Schatz.“   

Würtz steht noch immer wie vom Donner gerührt.

„Du wohnst auch hier?“, fragt er ungläubig.

„Was heißt auch?“

Erneut steigt Argwohn in Elena auf. Ist der Verlobte gar nicht wegen ihr zum Hotel gekommen?

„Wer noch? Dieses Fräulein Bauer vielleicht?“

„Ja, ja, die auch“, bestätigt der vorgebliche Reiseleiter gedankenlos. Er ist noch nicht darüber hinweg, dass vor ihm nicht Lena Bauer steht, sondern seine Verlobte. Er wird Elena einiges erklären müssen.

„Och, da bisste ja, Kleene. Ick hab‘ mir schon Sorjen jemacht. Haste den Schlüssel?“ spricht Fritze, der gerade aus der Kneipe kommt die vermeintliche Lena an. Erst dann bemerkt er den Reiseleiter. Verdammt, sagt er sich verlegen, der Heini soll doch nüscht davon erfahren.

„Kannst ihn mir morjen früh beim Frühstück jeben, Lenchen“, flüstert er ihr zu und verschwindet in Richtung Fahrstuhl.

Würtz schaut unbehaglich drein, Elena überrascht. Sie begreift noch immer nicht, was abläuft.

„Komm bitte mit in meine Suite und hilf mir zu verstehen, was hier gespielt wird“, fordert sie energisch. Ihre wasserblauen Augen funkeln, als sie den jungen Mann zum Aufzug zieht.

Der macht keine Anstalten sich zu sträuben, sondern überlegt blitzschnell, was er der erzürnten Elena sagen darf, um sie zu beruhigen. Um alle Karten auf den Tisch zu legen, dazu ist es jedenfalls noch zu früh.

Liebe in Zartbitter
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