XIX.

 

Während des Abendessens gibt sich Hendrik Würtz ungewöhnlich schweigsam. Mit unbewegtem Gesicht sitzt er mir gegenüber, doch ab und zu treffen mich Blicke, die mir ganz und gar nicht behagen.

Seufzend schiebe ich das Dessert beiseite. Ich liebe Mousse au Chocolat, aber Hendrik Würtz‘ Miene verleidet mir heute jeden Genuss daran.

Die Reisegruppe ist dabei, sich nach und nach aufzulösen. Ich glaube, wir haben es geschafft: Die alten Herrschaften sind pflastermüde und denken nur noch ans Bett, nicht mehr ans Feiern.

„Morgen, neun Uhr vor dem Hotel“, erinnere ich die Hinausgehenden. „Und ziehen Sie sich etwas Warmes über, wir werden uns vorwiegend im Freien aufhalten.“

Als die meisten von ihnen den Saal verlassen haben, greife ich nach meiner Jacke.

„Ich hätte Sie gern noch einen Augenblick gesprochen“, hält mich der Reiseleiter zurück, als ich mich ebenfalls mit einem Nicken verabschieden will.

Was er nur hat? Es ist doch alles in bester Ordnung, denke ich, setze mich zurück auf meinen Platz und winke dem Kellner.

„Ein Kirschbier“, bestelle ich. „Für Sie auch? Schließlich ist Feierabend.“

Er lehnt heftig ab, ordert demonstrativ ein alkoholfreies Pilsner.

Als der Kellner die Getränke gebracht hat, räuspert sich Würtz, dann setzt er zu einer Strafpredigt an, die sich gewaschen hat.

„Ihr Verhalten seit heute Mittag ist absolut unprofessionell und nicht zu entschuldigen, Fräulein Bauer...“

Aha, jetzt statt Lena wieder Fräulein Bauer, denke ich. Na mal sehen, was er vorzubringen hat.

„...dass sie auf die Answalts warten wollten, kann ich noch nachvollziehen, aber dass sie deren Anrufe nicht entgegengenommen haben und den halben Nachmittag über verschwunden waren, ist unverzeihlich. Wo haben Sie sich rumgetrieben? Waren Sie shoppen, oder was?“

Ich beiße mir auf die Lippe. Auf diese Fragen erwartete er doch hoffentlich keine Antwort. Sie sind einfach nur unverschämt.

Vorhin noch habe ich mich dazu durchgerungen, ihm das mit der vergessenen Handtasche im Bus zu beichten. Das kann er nun vergessen. Ich lasse mich nicht herunterputzen. Schließlich mache den Job nicht erst seit gestern.

„Ich habe auf die Answalts gewartet, sie sind nicht am Treffpunkt erschienen, da bin ich allein zurück ins Hotel“, entgegne ich kühl.

„Warum haben Sie auf deren Anrufe nicht reagiert? Auch ich habe es mehrmals vergeblich versucht.“

Verärgert schüttelt er den Kopf und mustert mich mit inquisitorischem Blick.

 „Ich hatte mein Handy auf ‚lautlos‘ gestellt und das Vibrieren bei dem Straßenlärm nicht mitbekommen.“

Das ist natürlich eine Lüge, aber er hat es nicht anders verdient.

„Und bis zum Hotel, das keine eineinhalb Kilometer vom Parlament entfernt liegt, haben Sie über zwei Stunden gebraucht?“, bohrt er weiter.

„Ich habe mich verlaufen. Das ist Ihnen wohl in einer fremden Stadt noch nie passiert?“

Mit keiner Silbe werde ich ihm verraten, was ich tatsächlich erlebt habe.

Einen Moment lang stockt das unerfreuliche Gespräch. Er nimmt einen Zug aus seinem Bierglas. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass er mir nicht glaubt.

„Nun, ich kann Ihnen nichts Gegenteiliges beweisen. Aber eines muss ich Ihnen sehr deutlich sagen: Sie haben dem Ruf der ‚Reisen bildet GmbH‘ sehr geschadet, das werde ich nach unserer Rückkehr melden müssen.“

Ich schnappe nach Luft, will protestieren, aber er spricht schon weiter. „Lassen Sie die Answalts auf die Idee kommen, später zu reklamieren, weil sie das versprochene Programm nicht genießen konnten. Dann muss der Veranstalter den Reisepreis zurückerstatten und mit ein bisschen Pech auch noch eine Art ‚Schmerzensgeld‘ draufzahlen. Das kann teuer werden, besonders, wenn sich das rumspricht und andere Reisende auf die gleiche Masche zu reisen versuchen. – Sie haben mit Ihrem unverantwortlichen Benehmen leichtfertig die Existenz des Unternehmens gefährdet.“

Jetzt reicht es mir aber. Was bildet sich der Kerl ein?

Augenblicklich fällt mir das Gespräch mit Sabine ein. Der Waffenstillstand ist beendet. Er hat ihn gebrochen. Wenn er Krieg haben will, kann er Krieg bekommen!

„Ach, nee!“, fahre ich ihn an. „Ich habe dem Reiseunternehmen also geschadet? Darüber kann ich nur lachen. Was ist denn mit Ihnen, Herr Hendrik Würtz? Was sollen die Damen und Herren denken, wenn sie erfahren, dass sich jemand unter falschem Namen in die Reisegruppe eingeschmuggelt hat und auch noch den Chef hervorkehrt? Wem haben sie sich da anvertraut? Einem Hochstapler, einem Betrüger!? Ein Mitarbeiter dieses Namens existiert im gesamten Unternehmen nicht. Statt Jerome Navarre, der eigentlich die Fahrt begleiten sollte, müsste ich jetzt einen Pieter Schucht vor mir haben. Aber der sind Sie auch nicht. Ich habe mich erkundigt.“

In meinem Zorn werfe ich ihm alles an den Kopf, was mir gerade einfällt.

Er unterbricht mich nicht, aber als er mir antwortet, klingt seine Stimme eiskalt.

„Das ist sehr interessant, Fräulein Bauer. Wer hat denn hier Firmen-Interna ausgeplaudert? Ich werde es in Erfahrung bringen, und dann fliegt die entsprechende Person. Und Ihnen rate ich, Ihre Zunge im Zaum zu halten und sich genau zu überlegen, was Sie sagen. Alles Weitere klären wir in Deutschland.“

Mit einem Zug trinkt er sein Bier aus. „Und jetzt dürfen Sie sich zurückziehen. Gute Nacht!“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ohne das Kirschbier auszutrinken, springe ich auf und stürze aus dem Speisesaal ins Freie. So schnell lasse ich mich nicht einschüchtern, trotzdem muss ich diese Drohung des angeblichen Reiseleiters in Ruhe verdauen.

Wer zum Teufel ist dieser Hendrik Würtz?

 

Nachdem ich die Straße vor dem Hotel einmal hinauf- und einmal hinab gelaufen bin, finde ich langsam wieder zu mir. Es beginnt zu dämmern und mit dem Verschwinden der Sonne wird die Luft merklich kühler.

Was soll ich jetzt tun? Die Standpauke hinnehmen und morgen früh so tun, als ob nichts gewesen wäre? Die restlichen drei Reisetage irgendwie überstehen, meine Pflichten erfüllen und diesem Kerl möglichst aus dem Wege gehen?

Wenn ich mir wenigstens sicher wäre, dass dieser Würtz tatsächlich nur ein Aufschneider ist, ginge es mir bedeutend besser. Doch ein unbestimmtes Gefühl rät mir, vor dem Mann auf der Hut zu sein. 

Auf dem Weg zurück ins Hotel, sehe ich durch das Fenster einer Kneipe Fritze. Leider ist er nicht allein, plaudert mit einem jüngeren und einem etwa gleichaltrigen Mann. Wahrscheinlich Kollegen. Während ich noch überlege, ob ich ihm mein Leid klagen oder mich still und heimlich auf mein Zimmer schleichen soll, hat auch er mich entdeckt und winkt mich herein.

Der junge Mann bietet mir seinen Platz an und verabschiedet sich mit dem Kraftfahrergruß.

„Een netta Kolleje von de ‚Berlin-Tours‘“, brummt Fritze und winkt dem Kellner. „Aber nu is jenuch von de Arbeit. Komm, Kleene, trink ‘n Bierchen mit Vatan. Eent darf ick.“

„Bis später!“

Der zweite Kraftfahrer nickt ihm zu, verdrückt sich an die Bar und plaudert mit dem Mann hinterm Tresen.

Ich möchte Fritze gern mein Herz ausschütten, ihm vom Auftritt des Reiseleiters erzählen, aber etwas anderes brennt mir viel mehr auf der Seele. Meine Tasche aus dem Reisebus. Die brauche ich jetzt unbedingt, damit Würtz nicht zu guter Letzt dahinterkommt, dass ich ihn angelogen habe. Das wäre Wasser auf seine Mühlen.

Wenigstens Fritze ist guter Stimmung. Während ich an meinem Kirschbier nippe, erzählt er, was mir in der Schokoladenfabrik entgangen ist.

„Vakostung vom feinsten, Kleene. Da konnte selbst icke nich widastehn. Die hatten allet da: helle und dunkle Schokolade und die Jarnierung erst...“

Dunkle Schokolade. Ich spüre wie mir das Wasser im Munde zusammenläuft. Danke, das Erinnern daran, was ich versäumt habe, hat mir jetzt gerade noch gefehlt.

„Machst‘n fürn Jesicht, Lenchen?“ – Obwohl er es nicht weiß: Fritze ist der einzige, der mich ungerügt so nennen darf. – „Ick hab‘ natürlich an dir jedacht und een jroßen Beutel mitjebracht. Liecht allet im Bus.“

Das ist das Stichwort. Ich frage ihn, wo er den abgestellt hat.

„Uff’m Parkplatz am Park, keene fünf Minuten von hier“, antwortet er gemütlich und schmunzelt über beide Backen. „Willste etwa gleich ran an die Dinga, kleene Naschkatze.“

Ich setze ein gespielt beleidigtes Gesicht auf.

„Was denkst du von mir, Fritze? Die Schokolade läuft mir nicht weg, oder?“

Dann gestehe ich ihm, warum ich unbedingt noch zum Bus muss.

Er schüttelt besorgt den Kopf.

 „Meechen, Meechen, ob det klug war? Der Schlips- und-Kragen-Heini is nich ohne. Det könnte Ärjer jeb’n.“

„Wenn ich meine Tasche wiederhabe und du mich nicht verrätst, sehe ich keinen Grund dafür“, werfe ich schnell ein.

Er zieht ein Bund mit Schlüsseln aus der Hosentasche, zeigt mir welchen ich benutzen muss und erklärt mir den Weg.

Als ich mich erhebe, trinkt er sein Bier aus und gähnt.

„Een bisschen Bewejung könnte mia ooch nich schaden. Vielleicht sollte ick lieba mitkomm‘.“ 

Der Kollege an der Bar schaut herüber. Wahrscheinlich will er seinen kleinen Schwatz mit Fritze fortsetzen. Männergespräche.

Ich winke ab.

„Bleib ruhig sitzen. Es ist doch gleich um die Ecke, da brauchst du keine Angst zu haben, dass ich mich verlaufe. Ich bin doch schon ein großes Mädchen.“

Bevor er widersprechen kann, bekommt er einen Schmatz auf die stachlige Wange, dann bin ich hinaus.

Liebe in Zartbitter
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