XXXVI.

 

Ich erwache mit einem Brummschädel im Bett meines Hotelzimmers. Wie ich da hineingekommen bin, kann ich beim besten Willen nicht sagen.

Mein Mund ist trocken. Ich erhebe mich mühsam. Aus der kleinen Hausbar entnehme ich ein gekühltes Wasser und stürze es in einem Zug hinunter. Das tut gut!

Meine Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag kehren nach und nach zurück. Doch ist es wie bei einem Puzzlespiel. Wichtige Teile fehlen, es ergibt sich kein schlüssiges Bild.

Nach einem Blick auf die Uhr schleiche ich ins Bad. Das einzige, was mir hilft, ist eine kalte Dusche. Eine eiskalte.

Prustend lasse ich das Wasser über meinen Körper rieseln. Das tut gut.

Ich kann mir viel Zeit dabei lassen. Hendrik hat gesagt, ich sei freigestellt und brauche mich nicht um die Reisegruppe zu kümmern.

Hendrik? – Keine Ahnung, wer auf diese Idee gekommen ist, aber irgendwann habe ich mit Hendrik und André Brüderschaft getrunken. Mit Elena auch. Mit der habe ich mich erstaunlicherweise später noch ganz angeregt unterhalten während sie ihrem ‚Pascha‘ nicht mehr von der Seite gewichen ist.

Und André?

Als ich daran denke, dass ich ihm schließlich doch den Witz über französische Sprachkenntnisse erzählt habe, schießt mir Röte ins Gesicht. Weniger wegen des Witzes selbst, sondern wegen seines Blicks, den er mir daraufhin zugeworfen hat.

Ich greife nach dem Handtuch und rubbele mir den Körper trocken.

In frischer Wäsche und mit einem Hauch Makeup im Gesicht fühle ich mich gleich viel wohler.

Aus meinen Sachen wähle ich das schlichte, graublaue Leinenkleid aus, das meine Augen besonders intensiv leuchten lässt und meine Haarfarbe gut zur Geltung bringt.

Um zehn Uhr wollen mich die drei zum Shoppen abholen, und mit Elena möchte ich, obwohl wir jetzt Freundinnen sind, konkurrieren können.

Doch bevor es losgeht, muss ich unbedingt mit Fritze sprechen. Ihm alles erklären. Er hat genauso viel Zeit wie ich, denn solange sein Bus nicht fahrtüchtig ist, wird er nicht gebraucht.

Ich erinnere mich dunkel, dass Hendrik davon gesprochen hat, einen Reiseleiter und einen neuen Bus seiner Firma zu ordern, der die Gruppe übernehmen wird. Fritze könne in Brüssel Urlaub machen, bis die Schadensfrage geklärt und sein Gefährt repariert sei. Mir hat er freigestellt, morgen mit ihm und Elena zurück nach Deutschland zu fliegen oder Fritze hier Gesellschaft zu leisten.

Ein nobles Angebot, das muss ich schon sagen. Ich habe mich noch nicht festgelegt.

Ich seufze schmerzlich auf. Da hat noch ein anderer mitzuentscheiden, doch der ahnt sicher gar nichts davon.

Es ist ein heiterer Vormittag geworden. Schwer ist mir nur das Geständnis bei Fritze gefallen, obwohl der die Sache mit dem Bus locker genommen hat.

„Meen Brava hätte eh‘ bald ne Jeneralüberholung nötich jehabt, jut, wenn det die Vasichrung blecht, mach dir keen Kopp drüba, Lena“, hat er mich getröstet. Als ich die Rede auf André gebracht habe, ist er skeptisch gewesen.

„Biste sicha, det so‘n Politika det richtige für dir is, Kleene? Nich, det der dir nur veralbert. Aba, wenna dir weh tut, krichta det mit mir zu tun!“

Erst auf meine Versicherung, dass mein Auserwählter rein gar nichts von seinen Chancen ahnt, hat er mich einem ‚Mach-mia-ja-keene-Dummheiten-Lenchen‘ gehenlassen.

Inzwischen ist Mittag vorbei und mir tun die Füße weh. Elena hat uns stundenlang durch verschiedene  Schuh- und Handtaschengeschäfte geschleift, doch nach einem Blick auf die geforderten Preise habe ich automatisch verzichtet, während sie mit entzückten Ausrufen Dutzende hochhackige Designer-Pumps probierte. Wenigstens als Begutachterin ihrer Auswahl habe ich mich nützlich machen können, während die beiden Männer geduldig vor jeder Boutique ausgeharrt haben. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich prächtig verstehen.

Erst in der Rue de la Cottine gelingt es mir, Elena und Hendrik abzuschütteln, um wenigstens ein paar Minuten mit André allein zu sein.

Als ich auf den Laden mit dem Schild „L’Art du chocolat“ zusteuere, bleibt Elena wie erwartet zurück. Und damit auch Hendrik.

Ich winke André, mir zu folgen.

Die Ausstattung des Pralinengeschäfts lässt mich ans Paradies denken. In seiner Mitte sprudelt ein riesiger Schokoladen-Brunnen, der die halbflüssige süße dunkelbraune Masse über mehrere Etagen hinab rinnen lässt. In zahlreichen Vitrinen liegt alles aus, was Meister der belgischen Chocolaterie-Kunst zu kreieren vermögen. Ich bin wie hypnotisiert, stehe mit leuchtenden Augen davor, wie ein Kind unterm geschmückten, hell erleuchteten Weihnachtsbaum.

Ich will alles, vom hellen und dunklen Nougat über Trüffel, Marzipan- und Weinbrandpralinen bis hin zur Bruch- und Borkenschokolade.

„Soll ich dir den Laden kaufen“, neckt mich André, dem meine weit aufgerissenen, glänzenden Augen nicht entgangen sind.

Obwohl ich noch nicht ein Praliné gekostet habe, macht sich das Aroma bitterer Schokolade auf meiner Zunge breit. Es ist so intensiv, dass ich es fast nicht mehr aushalten kann.

Lena, du bist ein modernes Mädchen, sage ich mir, trotzdem kannst du dem Mann neben dir, nicht einfach ins Gesicht sagen, dass du ihn liebst. Emanzipation gut und schön, aber so etwas willst du zuerst von ihm hören.

Ich beschließe, ihm wenigstens einen Tipp zu geben.

„Machen Sie auch Schokoladenüberzüge“, frage ich den Verkäufer, der dienstbeflissen abwartet, dass ich mich sattgesehen habe, und meine Wünsche äußere.

„Sie meinen über Obst?“, erkundigt er sich verwundert. „Das ließe sich machen.“

„Nein, ich möchte diesen Herren hier in Schokolade gegossen, damit ich ihn mit nach Deutschland nehmen kann“, platze ich heraus.

Zwei Augenpaare starren mich an, eines verdutzt, das andere mit einem Blick, der mich dahin schmelzen lässt wie die Schokolade in dem Brunnen.

„Soll ich wirklich?“, fragt André und tritt entschlossen einen Schritt auf den Brunnen zu.

„Non, Monsieur, c’est impossible!“

Der Verkäufer streckt abwehrend die Hände aus.

André de Marville auch. Aber nach mir.

„Weißt du, dass du bist süßer als alle Schokolade auf der Welt, Lena?“

Ich bin baff. Solche Worte aus dem Mund eines nüchternen, von einem Termin zum anderen hetzenden Politikers zu vernehmen, der sich nicht scheut, eine Frau hinter sich her zu zerren, nur um nirgends unpünktlich zu erscheinen, ist mehr als ungewöhnlich.  

Wenn das keine Liebeserklärung gewesen ist, dann zumindest ein Versuch in dieser Richtung.

 „Ja?“, frage ich zweifelnd.

Statt weiterer Worte zieht er mich an sich und sucht mit seinen Lippen mein Ohr. Der Verkäufer hat sich diskret abgewendet.

„Mousse au chocolat“, haucht er hinein, „das habe ich gespürt schon gestern bei dem Bruderschaftskuss. Der hat mir aber nicht gereicht. Gib mir mehr davon!“

„Gern, aber nicht hier“, flüstere ich mit geröteten Wangen zurück und mache mich sanft los.

Dann darf der Verkäufer endlich seinen Pflichten nachkommen.

Liebe in Zartbitter
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