XVII.

 

Ich bin kaum dazu gekommen, meine Pumps abzustreifen, sie mit den bequemen Boots zu vertauschen, das Kostüm in den Schrank zu hängen und in Jeans und T-Shirt zu schlüpfen, als es zaghaft an meine Zimmertür klopft. Als ich öffne steht ein älteres Ehepaar vor mir – die Answalts.

„Dürfen wir Sie einen Moment stören?“

Es klingt schuldbewusst.

Erleichtert, dass sich die beiden wohlbehalten wieder eingefunden haben, bitte ich sie herein.

„Also, das war so“, beginnt Frau Answalt, eine mollige Mittsechzigerin mit mehr silberner als blonder, dauergewellter Frisur, und entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten, die sie und ihr Mann uns bereitet haben.

„Für uns war die Stadtführung nicht so interessant, darum haben wir uns abgeseilt. Wenn wir schon mal in Brüssel sind, wollten wir unbedingt ein paar Spezialitäten von hier mitbringen.“

Sie lächelt und deutet auf einen Stadtplan, den sie in der Hand hält. „Nachdem wir in diesen Galeries de la Reine in einigen Geschäften gewesen sind, um ein paar Souvenirs für die Kinder und Enkel zu kaufen – Pralinés, eine Gobelin-Handtasche, Deckchen und ein Sonnenschirmchen aus echter Brüsseler Spitze – na ja, eben typisch Belgisches...“, beginnt sie zu schwärmen, kommt dann aber zur Sache. „Also nachdem wir das eingekauft hatten, wollte mein Mann unbedingt in eine dieser Kneipen, wo es das berühmte Kirschbier von Lindemans gibt.“

Sie wirft ihrer Ehehälfte einen vorwurfsvollen Blick zu.

Herr Answalt, einen halben Kopf kleiner als sie, bringt höchstens die Hälfte ihrer Kilos auf die Waage. Sein gutmütiges, von etwas wirrem, graumeliertem Haar eingerahmtes Gesicht, nimmt einen zerknirschten Ausdruck an.

„Aber ich habe versucht zu telefonieren...“, wendet er zaghaft ein.

„Wir haben also so ein Lokal gefunden und sind dort auf ein Bier eingekehrt“, reißt Frau Answalt das Wort erneut an sich. „Bis zum Treff ist an sich reichlich Zeit gewesen, doch dann hat uns der Kellner ein Fachgeschäft für Bier empfohlen. Mein Mann war nicht mehr zu halten Da mussten wir unbedingt noch hin. Und aus diesem ‚Paradies für Bierliebhaber‘ war er einfach nicht mehr hinaus zubekommen.“

Erneut trifft den Verursacher der Verspätung ein missbilligender Blick.

„Aber ich habe versucht zu telefonieren!“, verteidigt der sich lahm.

„Er sammelt nämlich Bierflaschen, müssen Sie wissen.“, verrät sie, Ich schaue interessiert und wünsche mir, sie möge langsam zum Schluss kommen. Doch erst nachdem sie mitgeteilt hat, dass sie fast ein Dutzend gekauft haben, diese kaum schleppen konnten und deshalb mit einem Taxi ins Hotel zurückgefahren sind, beendet sie ihre Erklärungen.

„Von dort aus habe ich versucht zu telefonieren, aber Sie sind nicht rangegangen“, versichert Herr Answalt ein drittes Mal.

„Ist doch alles nicht so schlimm“, beruhige ich ihn. „Sie sind wieder da, und das nächste Mal melden Sie sich einfach ab, wenn sie eine Extratour vorhaben. Das lässt sich durchaus einrichten. - Ist es nicht Strafe genug, dass sie den Besuch der Schokoladenfabrik versäumt haben?“

So wie für mich, denke ich, als die beiden alten Leutchen nicken.

Ich begleite sie zur Tür. Dort dreht sich die mollige Oma noch einmal um.

„Das hat Herr Würtz auch gesagt. Wir wären ja sehr gern noch nachgekommen, aber Sie sind ja nicht ans Telefon gegangen. Also haben wir im Hotel auf die Gruppe gewartet. Uns hat das nicht viel ausgemacht. Doch ich glaube, er ist ein bisschen verstimmt deswegen. – Das wollte ich Ihnen nur sagen“, druckst sie verlegen herum.

„Das kläre ich schon mit ihm. Aber, danke.“, erwidere ich schnell und schließe die Tür.

Ich lasse mich aufs Bett fallen, lege die Beine hoch und träume vor mich hin. Was für ein seltsamer Tag. Wenn ich ehrlich bin, bedauere ich es nicht, statt der Schokoladenfabrik André de Marville kennengelernt zu haben. Eher, dass es die kürzeste Bekanntschaft meines bisherigen Lebens gewesen ist. Wegen Hendrik Würtz mache ich mir keine Gedanken. Die Answalts sind unversehrt wieder da – alles ist gut abgelaufen.

Mir fällt ein, dass ich nicht vergessen darf, beim Abendessen unbedingt Fritze anzusprechen. Wegen meiner Handtasche, die hoffentlich noch immer unbemerkt im Bus liegt.

Liebe in Zartbitter
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