XXXI.

 

Der Wachmann am Eingang des Jaques-Delors-Flügels kann sich ein Hochziehen der Augenbrauen nicht verkneifen, als de Marvilles Assistent seinen Redeschwall einstellt. Schon wieder ist es die Mademoiselle aus Deutschland, die Schwierigkeiten bereitet.

Obwohl täglich Hunderte von Personen – Besucher, Angestellte  und Politiker – die Sicherheitsschleuse passieren, hat er sich das Gesicht der zierlichen jungen Frau mit dem kupferfarbenen Wuschelkopf eingeprägt. Es geschieht ja nicht alle Tage, dass jemand, ohne sich ausweisen zu können, in das Gebäude gelangt – ja von einem Politiker regelrecht hineingezerrt wird.

Heute hat sie zwar ihre Legitimation um den Hals, doch der Herr, der darauf besteht, sie zu begleiten, ist weder angemeldet, noch kann er sich auf einen Auftrag der deutschen Vertretung berufen. Und sie weigert sich, dem Assistenten des Vize-Präsidenten ohne den Begleiter zu folgen.

Was soll er machen? Der Mann hat seinen Pass vorgewiesen und trägt weder ein verdächtiges Köfferchen bei sich, noch sieht er wie ein Terrorist aus – aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift.

„Auf keinen Fall trenne ich mich von diesem Herrn“, versichert Elena Boyer hartnäckig.

Seit ihr Pascha von der Doppelgängerin und deren Verschwinden erzählt hat, vertraut sie ängstlich seinem Schutz. Nur seinem.

Der Assistent gestikuliert mit rotem Kopf, doch sie lässt sich nicht umstimmen.

„Non!“, beharrt sie und schüttelt das hübsche Köpfchen.

Als er einsieht, dass all seine Argumente erfolglos an ihr abprallen, gibt er nach.

„Wenn Sie ihn nicht durchlassen, gefährden Sie das Gelingen der Anhörung vor der ECON-Expertengruppe“, versucht er jetzt bei dem Wachmann sein Glück. „Ich verbürge mich für den Mann. Sobald er die Schleuse passiert hat, lassen wir ihn keinen Moment aus den Augen“, versichert er. „Wenn Sie deswegen irgendeinen Ärger bekommen sollten, wird Monsieur de Marville das klären. Ehrenwort!“

In Anbetracht der Schlange, die hinter dem Paar wartet und langsam ungeduldig wird, lässt sich Pierre, der Wachmann, erweichen, klebt dem Herren eine Plakette mit seinem Namen auf den Anzug, dann winkt er die beiden durch. Erleichtert heftet sich der Assistent an ihre Fersen, schiebt sie zum nächstgelegenen Fahrstuhl.

 

Christian Tulip glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, als er aus sicherer Entfernung die junge Dame erblickt, die sich mit leichtem Hinken am Arm eines Begleiters in Richtung der Tagungsräume entfernt. Es ist tatsächlich Mademoiselle Boyer, daran hegt er keinen Zweifel. Wie sie sich jedoch so schnell hat befreien können, bleibt ihm ein Rätsel.

Hier im Haus kann er keinen Versuch unternehmen, die Referentin aus Deutschland erneut verschwinden zu lassen. Wahrscheinlich ist bereits die politische Polizei eingeschaltet, um deren Entführung zu untersuchen. 

Er und Jean-Paul müssen sich jetzt still und unauffällig verhalten, damit niemand Verdacht gegen sie schöpft.

Er hofft, dass die Referentin seinen Partner wenigstens nicht erkennt, sollte sie ihm zufällig auf den Gängen begegnen.

Sie haben den Auftrag nicht ausführen können, und es wird Ärger deswegen geben, damit muss er sich wohl abfinden.

Wenn wir nicht auffliegen und glimpflich aus der Sache herauskommen, werde ich künftig die Finger von jeder Art Extra-Tour lassen, und nur noch brav meine Arbeit erledigen, schwört er sich insgeheim.

Vor dem Großraumbüro, in dem er seinen Schreibtisch hat, fängt ihn Jean-Paul ab und lotst ihn in die kleine Cafeteria in der obersten Etage hinauf. Dort herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, sodass sie nicht weiter auffallen.

Als sie bei einem Café au lait ihre niederschmetternden Neuigkeiten ausgetauscht haben, verharren beide in betroffenem Schweigen. Keiner will so recht glauben, was der andere berichtet hat.

„Ich habe keine Nachricht von meinem Verbindungsmann aus dem Kanzleramt erhalten, dass die Sache abgeblasen ist“, erklärt Christian verbittert. „Der kann mich doch nicht so einfach ins Messer laufen lassen.“

„Und ich glaube nicht daran, dass die Referentin so mir nichts dir nichts hier hereinspaziert sein soll“, knurrt Jean-Paul. „Selbst wenn sie sich aus dem Bus befreien konnte, was möglich wäre, haben wir den in einer verlassenen Gegend abgestellt, wo ihn so schnell keiner findet, und von wo sie nicht so ohne weiteres wegkommt.“

„Bis zum Mittag ist de Marville jedenfalls nicht im Parlament aufgetaucht, sein Assistent hat’s mir erzählt“, bestätigt Tulip.

„Ich schaue heute Abend nach, ob der Bus noch am Autofriedhof steht und rufe dich dann sofort an“, verspricht Jean-Paul.

Als sich Christian zurück an seinen Arbeitsplatz begibt, haben sie sich darauf geeinigt, sich in den kommenden Tagen nirgends gemeinsam sehen zu lassen. Und Jean-Paul wird sich in Acht nehmen, ins Gesichtsfeld des Vize-Präsidenten zu geraten, der ihn möglicherweise als den Mann mit den Akten identifizieren könnte.

Sicher ist sicher.

Liebe in Zartbitter
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