VII.

 

Im Bus herrscht Stille. Einige der älteren Passagiere dösen vor sich hin, ein  paar haben sich in die Zeitung oder ein Buch vertieft, die wenigsten schauen aus dem Fenster. Rechts und links der Autobahn gibt es auch wenig zu sehen. Bäume, Sträucher, Weiden mit Kühen und ab und zu ein Gehöft. Mittlerweile ist Holland durchquert. Wir befinden uns auf belgischem Boden.

„In ‘na juten Stunde sind wa da“, tönt Fritze vom Lenkrad. „Wir sind pünktlich, könnten also noch ‘ne Pause zwischenschieben. Für die Raucha. Woll‘n wa?“

Obwohl Hendrik Würtz neben ihm sitzt, ist die Frage an mich gerichtet.

Nach einem Gang durch den Bus, der mir gezeigt hat, dass alle Reisenden satt, zufrieden – ja beinahe wunschlos glücklich sind, habe ich mich auf meinen Platz begeben und blättere im Reiseprogramm. Gedankenlos. Einfach nur so.

Bisher ist die Fahrt an sich harmonisch verlaufen. Würtz lässt mich machen, er hat bei der Nachmittagsrast sogar den von mir gebrühten Kaffee ausgeschenkt, während ich mit dem Verteilen des Kuchens beschäftigt gewesen bin. Zur Verständigung haben wenige Sätze genügt. Vielleicht hat es von meiner Seite unpersönlich höflich geklungen, aber so schnell bin ich nicht zu versöhnen. Außerdem sehe ich keine Notwendigkeit, über das Dienstliche hinaus mit Würtz zu sprechen.

Ihm scheint es genauso zu ergehen. Von Fritze ignoriert, thront er auf dem bevorzugten Sitz neben dem Fahrer, den er trotz allem nicht geräumt hat, und beobachtet dessen Fahrkünste. Etwas, das Fritze überhaupt nicht leiden kann.

„Nein“, beantwortet Würtz die Frage, „lieber checken wir etwas früher im Hotel ein. Dann haben die Reisenden mehr Zeit, sich frisch zu machen und die Beine auszustrecken, bevor wir uns zum Abendessen im Restaurant treffen.“

Eine vernünftige Entscheidung. Trotzdem beiße ich mir auf die Lippen, damit ihnen kein unbedachtes Wort entschlüpft. Er hätte mich wenigstens der Form halber nach meiner Meinung fragen können. 

Fritze nickt stoisch mit dem Kopf.

„Ooch jut.“

Ich schaue desinteressiert aus dem Fenster. Für die letzte Stunde der Anreise werde ich meinen Unmut noch zügeln können.

Mein auf lautlos geschaltetes Handy vibriert. Ein Blick aufs Display verrät mir: Es ist Sabine. Ausgerechnet jetzt.

Was tun? Hier kann ich nicht sprechen, ohne dass Würtz jedes Wort mit anhört. Verstohlen ziehe ich mich auf die winzige Bordtoilette zurück. Keine sehr ersprießliche Variante, aber ich muss unbedingt wissen, was hier gespielt wird.

„Was gibt es, Sabine?“, flüstere ich. „Sag es schnell, ich kann nur ganz kurz sprechen.“

Entgeistert höre ich, was die Disponentin zu berichten hat. Jerome sei trotz fester Zusage nicht erreichbar gewesen. In letzter Minute habe jemand aus der Führungsetage die Tour übernommen. „Der müsste dir eigentlich auch gefallen. Du stehst doch auf groß, schlank, dunkelhaarig und braunäugig. Pieter Schucht ist der Schwarm aller Damen im Büro, ein richtiger Sonnyboy ...“

„Pieter wer? Sagtest du Schucht?“

Verblüfft wiederhole ich den mir unbekannten Namen. Das ist ja interessant. Sofort bittet ich Sabine um eine nähere Beschreibung, obwohl ich mir bereits sicher bin: Der angebliche Reiseleiter mag sein, wer er will, keinesfalls jedoch dieser Pieter Schucht. Er ist semmelblond und hat stahlblaue Augen!

Von draußen klopft jemand an die Toilettentür. 

Ich muss Schluss machen. Doch eines will ich unbedingt noch wissen: „Sabine, was sagt dir der Name Hendrik Würtz? Ist das vielleicht ein neuer Kollege?“

Am anderen Ende der Leitung bleibt es still, ich erhalte keine Antwort, nur von draußen klopft es erneut.

„Mach schon, Sabine!“

„Nicht so stürmisch mit den jungen Pferden. Ich hab den Personal-Computer gefragt. Einen Hendrik Würtz gibt es in der Firma nicht, auch nicht bei den Springern. Mir ist dieser Name völlig unbekannt.“

Das kann nicht wahr sein. Ich bedanke mich, lege auf und verlasse die enge Bordtoilette.

Ich muss etwas unternehmen, aber was?

In tiefes Grübeln versunken, kehre ich auf meinen Platz zurück. Um mich besser konzentrieren zu können, schließe ich die Augen.

Soll ich den Hochstapler sofort auffliegen lassen, wenn wir am Ziel sind? Verdient hätte er es, als Betrüger abgeführt zu werden.

Doch dann stehst du ganz allein mit der Reisegruppe da, gebietet der Verstand meinen Rachegelüsten Einhalt. Keine anstrebenswerte Alternative.  Jedenfalls im Moment noch nicht. Eine bessere Lösung muss her, und wenig später habe ich sie gefunden. Solange Würtz nicht ahnt, dass ich über ihn Bescheid weiß, soll alles beim Alten bleiben. Nur werde ich ihm gehörig auf die Finger sehen. Und mit dem Herumkommandieren ist auch Schluss, mein Lieber!

Bei der Ankunft vor dem Hotel ist mein Plan fix und fertig.

Gekonnt rangiert Fritze den Bus in eine enge Seitenstraße hinein. Während die Reisenden aussteigen und ungeduldig auf ihr Gepäck warten, das Fritze aus dem Bauch des Busses holt, beobachte ich den vorgeblichen Reiseleiter unauffällig. Er macht keinerlei Anstalten, mit zuzufassen, sondern nimmt das  Äußere des Hotels in Augenschein. Die Hände in den Taschen.

Jetzt reicht es mir. Wenn er erwartet, dass ich die ganze Arbeit allein erledige, hat er sich diesmal verrechnet.

„Wollen Sie sich nicht langsam zur Rezeption begeben und die Zimmerschlüssel in Empfang nehmen, Herr W ü r t z?“

Ich dehne seinen Namen wie ein Gummiband. Er dreht mir den Kopf zu. Sein sattsam bekannter, mich über die Schulter musternder Blick macht mich endgültig wütend.

„Oder sollte ich lieber Pieter Schucht sagen? Aber der sind Sie ja leider nicht, Sonnyboy!“, platze ich ganz gegen meinen sorgsam zurechtgelegten Plan heraus.

Wie von der Tarantel gestochen fährt Würtz herum. Das Blut schießt ihm ins Gesicht. Ist es Verlegenheit, Überraschung oder Wut, was ich in seinen blitzenden Augen lese?

Ich weiche vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. Dann besinne ich mich. Er ist der Betrüger und ich augenblicklich in der überlegenen Position. Das sollte ich ausnutzen.

„Also, wie ist das nun mit den Schlüsseln? Die Kunden der ‚Reisen bildet GmbH‘ sind exklusiven Service gewöhnt, und wir wollen sie doch nicht enttäuschen“, wiederhole ich sehr von oben herab seinen Ausspruch von heute Morgen.

Ohne ein Widerwort kommt er meiner Anweisung nach.

Na also, geht doch!

Liebe in Zartbitter
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