XXX.

 

„Ich trinke auf den bezaubernden Abend, Mademoiselle.“

André de Marvill hebt sein Weinglas, sein Gast, tut es ihm nach. Bevor sie trinken, lauschen beide dem angenehmen Klang  des aneinanderstoßenden Kristalls.

So wohl hat sich der Politiker lange nicht in der Gesellschaft einer Frau gefühlt.  Gleich nachdem sie alles Fachliche besprochen hatten, ist er mit Mademoiselle Boyer im Restaurant eingekehrt. Sie haben angeregt über Gott und die Welt geplaudert. Nun möchte er das Ende noch ein wenig hinausschieben und gießt nach.  Dabei verspürt er noch immer einen wahnsinnigen Durst, den der Wein nicht zu löschen vermag. Seine Begleiterin, klein und schlank, hält ihm lächelnd mit einem Scherzwort die Wasserflasche hin. Als er zugreifen will, weicht sie ihm aus und enteilt. Er folgt ihr und stellt sie in einer dunklen Ecke. Er sieht ihren kupferfarben schimmernden Haarschopf, ein Paar bebende Lippen. Doch als er sie küssen will, schlägt sie ihm die Wasserflasche über den Kopf. Er stolpert und stürzt in ein tiefes Loch. Sie fällt mit ihm. Um sie herum ist Lärm, Dunkelheit und Enge. Als er sich an ihr festhalten will, hebt sie die Hand und schlägt ihm ins Gesicht. Wieder und wieder.

Vor Schmerz stöhnt André de Marville laut auf. 

 

Ich bin am Verzweifeln. Auf mein Klopfen und Schreien hat niemand reagiert. Meine Stimme versagt und meine Fingerknöchel sind wund. Genützt hat es nichts. Wir sind allein, hilflos im Bauch des Busses gefangen. Wie lange schon? Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Fürchterlicher Durst quält mich und die Angst zu ersticken, denn die Luft hier drin ist kaum noch zu atmen.

Der Mann neben mir hat bis auf ein paar Töne, die wie Schnarchen geklungen haben, die ganze Zeit über keinen Laut von sich gegeben.

Ich rüttele ihn. Keine Reaktion. Obwohl es mich Überwindung kostet, klatsche ich ihm meine flache Hand ins Gesicht. Wieder und wieder.

„Aufwachen, Monsieur, wir müssen hier raus! Das schaffe ich nicht allein!“

Da greift eine Hand nach meiner, hindert sie daran, erneut zuzuschlagen.

„Qu'est-ce que c'est que ça? Vous êtes fou? Arrêtez immédiatement!“ (Was soll das? Sind Sie verrückt? Hören Sie sofort auf damit!)

„Tut mir leid, aber reden Sie bitte deutsch mit mir“, erinnere ich ihn, erleichtert, dass er wieder bei sich ist.

„L'eau, s'il vous plaît“, murmelt er, „Wasser!“

„Haben wir leider nicht! Auch nichts zu essen. Und kaum noch Luft.“

Ich spüre wie meine Nerven versagen, panische Angst sich in mir breit macht.

„Ich will nicht hier drinnen ersticken! Ich will raus! Raus!“, schluchze ich und kann die Flut salziger Tränen nicht zurückhalten, die ungehindert wie ein Wasserfall über meine Wangen schießt.

Da spüre ich, wie er sich mühsam aufrichtet und mich in seine Arme zieht.

„N'ayez pas peur. Keine Angst, Madame“, tröstet er, „ich nehme nicht an, dass dieser Raum ist so dicht, dass wir keine Luft mehr bekommen.“

Ich glaube ihm nicht.

„Wir müssen hier heraus, sofort!“, krächze ich und schlucke würgend meine Tränen hinunter.

Die Arme packen mich fester. Eine Hand streicht mir über den Kopf, wischt mir die Feuchte aus dem Gesicht.

„Beruhigen Sie sich doch! Wir nichts können tun. Man wird uns finden und hier herausholen. Schon bald, Sie werden sehen.“

Er klingt so ruhig und gefasst, dass ich schreien könnte. Wie lange sollen wir denn warten, bis Hilfe von Draußen kommt?

Erneut fangen meine Tränen zu rinnen an.

 „Bitte“, flehe ich, „ich halte es nicht mehr aus. Lassen Sie es uns wenigstens versuchen!“

Ohne seine Antwort abzuwarten mache ich mich los und taste mit den Füßen nach der Buswand. Etwa in der Mitte muss die Klappe sein. Mit voller Kraft trete ich dagegen. Nichts geschieht. Ich trete erneut. Wieder nichts. Krampfhaft überlege ich, wie die Kofferraumklappe funktioniert. Wenn Fritze das Gepäck eingeladen hat, ist ein Teil der Wand nach oben geklappt gewesen. Das Schloss muss sich also weiter unten befinden.

Ich trete ein weiteres Mal mit beiden Füßen zu. Die Wand ächzt. Ich halte nach Atem ringend ein.

Allein schaffe ich es nicht!

Als ich ihn bitten will, mir zu helfen, höre ich ein gewaltiges Krachen. Er hat es mir offenbar nachgetan und mit seiner ganzen Kraft gegen die Klappe getreten.

Wegen seiner Verletzung scheint es ihm große Mühe bereitet zu haben. Sein Atem geht schnell und flach.

Wir könnten erfolgreich sein, wenn wir gemeinsam handeln. Ich erkläre ihm, wie ich es mir vorstelle: Die Knie anwinkeln und dann mit gebündelter Kraft mit beiden Füßen  nach unten gegen das Blech treten. Als er sich mühsam neben mich gewälzt hat, zähle ich: Drei... zwei... eins ... jetzt!“

Gemeinsam krachen unsere vier Füße gegen die Wand, die bedrohlich ächzt.

„Noch einmal... wir schaffen es!“

Obwohl der zweite Versuch schwächer ausfällt, ertönt daraufhin ein quietschendes Krachen, das Blech gibt tatsächlich nach. Mit einem letzten Tritt, den ich allein ausführe, stoße ich die Klappe auf.

Endlich Luft!

Schweißgebadet lasse ich mich zurücksinken. Mir ist schwindelig, Sterne tanzen wild vor meinen Augen. Bloß raus hier!

Vorsichtig stecke ich den Kopf ins Freie, schiebe den Körper hinterher und lasse mich zu Boden fallen. Die Befreiungsaktion hat mich meine letzten Kräfte gekostet.

Minutenlang bleibe ich regungslos im Gras liegen, konzentriere mich darauf, tief ein- und auszuatmen.

Der Mann ist mir nicht gefolgt. Aus dem Businneren höre ihn röcheln und erinnere mich wieder an seine Kopfverletzung.

Vielleicht habe ich ihm zu viel zugemutet. Ich werde ihn da herausziehen.

Das ist leicht gesagt, denn er erweist sich als viel schwerer als erwartet. Deshalb komme ich erst dazu, ihn genauer zu betrachten, als ich ihn endlich neben mir ins Gras bugsiert habe.

Wie gut, dass ich schon sitze, sonst hätte mich der Anblick bestimmt umgehauen: Vor mir liegt mit bleichem Gesicht Monsieur André de Marville.

Ich schaue mich um. Es ist Tag. Früher Vormittag, schätze ich, aber weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Der Bus steht einsam und verlassen am Rande eines Wäldchens. Auf der anderen Seite befindet sich ein Schrottplatz. Nein, eher ein Autofriedhof.

 Ich mache einen Berg rostiger Autoteile und eine Mauer aus Fahrzeugreifen aus. Gearbeitet wird hier jedenfalls nicht, ringsum herrscht Stille.

Was soll ich jetzt nur tun? Wir sind zwar dem Bauch des Busses entkommen, dafür in einer Einöde ausgesetzt.

 Ich spüre, wie meine Zunge am Gaumen klebt. Wir brauchen etwas zu trinken.

Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, rüttle ich am Einstieg des Busses. Fritze hat dort einen schönen Vorrat an Mineralwasser, Apfelschorle und Säften gebunkert. Doch wie soll ich ohne Schlüssel an ihn herankommen? Diese Tür bekomme ich nicht auf.

Ich werfe einen Blick in den Kofferraum. Bis auf eine Werkzeugkiste ist er leer. Ich öffne sie, finde Zangen, Schraubenschlüssel, Öltücher und andere für mich nutzlose Utensilien.

Sinnlos, damit zu versuchen, die Tür aufzubrechen. Ich wende mich wieder dem Vize-Präsidenten zu. Als ich seinen Schlips lockere und die obersten Knöpfe seines Hemdes öffne, damit er leichter atmen kann, fällt mir sein Handy in die Hände.

Zu früh gefreut, es gibt keinen Ton von sich: Der Akku ist leer.

Nahe daran, zu verzagen, lasse ich mich auf den grasbedeckten Boden zurücksinken. Ich bin mit meinem Latein am Ende.

Wie zum Hohn bricht jetzt die Sonne durch die Wolken. Ihre Strahlen kitzeln meine Nase, spiegeln sich in den Scheiben des Reisebusses.

Das bringt mich auf eine letzte, verzweifelte Idee.

Lena, du wirst doch nicht etwa?

Doch, ich werde!

Nach einem besorgtem Blick auf meinen reglos im Gras liegenden Leidensgefährten, von dem ich im Augenblick keine Hilfe zu erwarten habe, entferne ich mich in Richtung Autofriedhof: Reifen holen!

Liebe in Zartbitter
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