I.

 

„Lena, du musst uns helfen! Carla ist krank geworden und nun fehlt uns eine Begleiterin für die Reisegruppe nach Belgien.“

Bevor ich dazu komme, abzuwinken, spielt Sabine ihren Joker aus. „Jerome Navarre hat sich bereit erklärt, ebenfalls mitzufahren“, fügt sie betont harmlos hinzu.

Das ist unfair. Sabine weiß ganz genau, dass ich ein Auge auf den schwarzhaarigen, dunkeläugigen Studenten geworfen habe, und nutzt das nun schamlos aus.

„Komm schon, Lenchen“ – ich hasse es, wenn man Lenchen zu mir sagt,  habe deshalb meinen Taufnamen Helene schon vor Jahren in Lena modernisiert – „gibt es eine bessere Möglichkeit als eine gemeinsame Tour, um sich zu beschnuppern?“

Da hat sie wohl recht. Und wenn ich es mir so überlege, habe ich eigentlich gar nichts gegen die Fahrt. Es wäre meine erste Auslandstour und damit viel interessanter als die, die ich am Wochenende übernehmen wollte.

Blitzschnell überlege ich, wie es funktionieren könnte.

„Ich habe eine wichtige Vorlesung. Außerdem kennst du mein Handicap“, werfe ich halbherzig ein. „Mein Englisch ist ganz okay, aber für Belgien nützt mir selbst mein Spanisch nichts, da werden doch ganz sicher Französisch-Kenntnisse vorausgesetzt. Bei mir hören die nach ‚Bonjour‘, ‚Ca va bien?‘, ‚Merci‘ ‚Excusez moi‘ und ‚Santé‘ auch schon auf.“

Darauf winkt die Disponentin nur ab.

„Es ist eine Notsituation. Außerdem fährt ja dein frischer Franzose mit“, grinst sie nun ganz offen. „Also: Die Reise startet morgen früh, sechs Uhr, vom ZOB unterm Funkturm. So schnell kriege ich keinen Ersatz heran. Die Wochenend-Tour nach Trier, für die du eingeplant warst, kann dagegen jeder Anfänger übernehmen. – Also, was ist?“, lockt sie mich erneut. „Manneken Pis, das Atomium, Brüsseler Spitze, die besten Pommes Frites der Welt und Trüffelschokolade...“

„Hör auf, das ist unfair!“

Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Exquisiter dunkler Schokolade kann ich nämlich genauso wenig widerstehen wie interessanten Männern.

„Also gut, überredet“, seufze ich, innerlich schon bereit, den einen Tag Uni zu schwänzen.

„Ich hab’s ja gewusst“, kichert Sabine. „Die nächste Fahrt darfst du dir dafür aussuchen.“

Sie schiebt mir den Plan mit den Reisen der kommenden Monate zu.

„Entscheidet sich, wenn ich aus Brüssel zurück bin“, antworte ich und zwinkere ihr zu. „Paris bei Nacht wäre sicher reizvoll.“

Sie zwinkert zurück. „Einverstanden, Lenchen!“

„Ich heiße Lena! Merk dir das endlich!“

 

In meiner Studentenbude sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Auf der ausziehbaren Couch, dem wichtigsten Möbel der winzigen Einraumwohnung, stapelt sich ein Berg Klamotten, weil ich mich wieder einmal nicht entscheiden kann, was ich mitnehmen will. Wie viel passt in meinen kleinen Trolley? Als Reiseleiterin kann ich schließlich nicht mit einem Schrankkoffer ankommen. Urlaub machen die anderen.

Das anthrazitfarbene Kostüm muss auf jeden Fall mit, dazu eine cremefarbene Bluse, ein Sommerkleid, eine helle Hose, eine Jeans, meine Allzweckweste und ein paar T-Shirts. Von meinen Schuhen stelle ich ein paar schwarze Pumps, hellbraune Sandaletten und die Tennisboots dazu. Socken, Unterwäsche und zwei Shortys für die Nacht – das müsste ausreichen.

Erleichtert, die Kleiderfrage gelöst zu haben, gehe ich in die Küche und brühe mir einen Tee. Damit er schneller abkühlt puste ich, nippe, puste erneut  und hänge dabei meinen Gedanken nach.

Also Lena, jetzt hast du die Chance Jerome ganz unauffällig näherzukommen. Nutze sie!

Irgendwie schmecke ich plötzlich das Aroma von zart schmelzender Schokolade auf der Zunge. Ich lecke mir die Lippen, schlucke dann jedoch skeptisch.

Mit meinem Kommilitonen Bernhard, dem aufregendsten Mann meines Studienganges, hat es auch so begonnen, sich jedoch bald als geschmacklicher Fehlgriff herausgestellt. Der Typ hat mich bloß ausnutzt. ‚Lena, kannst du mir bei der Klausurvorbereitung helfen? Lena, ich brauche eine Ausarbeitung für mein Referat!‘ Und ich dumme Nuss habe für ihn bis in die Nacht gebüffelt und mich dafür mit ein paar Küssen und einer Einladung ins Eiscafé begnügt. – Aus und vorbei! Sein Bild steht schon seit einigen Wochen nicht mehr auf meinem Nachttisch. Genaugenommen, seit ich Jerome bei Sabine getroffen habe, als der sich die Unterlagen für eine Paris-Tour abgeholt hat.

Kaum zu glauben, dass wir seit Jahren zusammen in Potsdam studieren – ich Germanistik, er Philosophie – und ich ihn nicht bemerkt habe. Jerome, der Lustige, der Charmante. Für den könnte ich vielleicht die Frau fürs Leben werden.

Im Schrankfenster betrachte ich meine kupferblonde Kurzhaarfrisur mit den blonden Strähnchen, die vorwitzigen Sommersprossen um die Nase herum, und finde mich gar nicht so übel. Andere übrigens auch nicht, aber ich habe meine Prinzipien. Wer mir imponieren will, muss zumindest etwas Besonderes an sich haben. Wie Jerome.

Ich trinke den Tee aus und stelle die Tasse in die Spüle. Es bleibt fast eine ganze Woche Zeit, zu erforschen, ob er meinen Ansprüchen genügt. Wenn nicht, dann nicht – es gibt schließlich genügend interessante Männer auf der Welt. Aber einen Versuch ist er mir allemal wert.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen unternehme ich den nächsten Schritt, rufe die Sektionsassistentin an, bitte sie, mich für die morgige Vorlesung zu entschuldigen.

„Ich habe mir eine Angina eingefangen“, flüstere ich, bemüht meine Stimme rau und kratzig klingen zu lassen. „Ich fahre nach Hause zu meinen Eltern, um mich auszukurieren, aber bis zum Seminar in ein paar Tagen bin ich hoffentlich wieder fit.“

Es hat wohl leidend genug geklungen. Sie wünscht mir gute Besserung. Ich lege auf.

Es ist vollbracht, alle Hindernisse sind beseitigt – Brüssel ich komme!

Liebe in Zartbitter
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