XIII.

 

„Wo bleiben die Answalts? Wir müssen los!“

Ungeduldig starrt Hendrik Würtz die Straße hinunter. Dort tummeln sich Dutzende Personen, flanierend, plaudernd, fotografierend. Doch von dem Ehepaar aus Rostock ist weit und breit nichts zu sehen. Nach ein paar weiteren vertrödelten Minuten reißt ihm die Geduld.

„Steigen Sie ein, wir fahren ab!“, ordnet er in Richtung Reisegruppe an, die vollzählig – bis auf das eine Ehepaar – vor dem Bus versammelt ist und langsam zu murren beginnt.

„Sie auch, Lena!“

Als alle ihre Plätze eingenommen haben, schiebt er mich hastig die Busstufen hinauf. Ich zögere.

„Wir können sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen“, wende ich ein. „Vielleicht haben sie sich verirrt und suchen nun verzweifelt den Treffpunkt. Wäre bei diesem Trubel hier kein Wunder.“

„Wir können nicht länger warten, sonst kommen wir zu spät zum Essen und gefährden den Anschlusstermin in der Schokoladenfabrik. Wollen Sie das?“

Natürlich nicht, denn auf diesen Ausflug habe ich mich besonders gefreut. Trotzdem behagt es mir nicht, zwei Passagiere so ohne weiteres sich selbst zu überlassen. Ohne Sprachkenntnisse im fremden Land. Das sage ich ihm auch.

„Sie haben Ihre Handy-Nummer, Lena, und die Adresse vom Hotel“, wirft Hendrik auf mein Argument ein.

Mich überzeugt das nicht. In Deutschland wäre es sicher kein Problem, zum Durchsetzen der Disziplin ohne ein unpünktliches Paar abzufahren. Aber hier?

„Jemand sollte trotzdem am vereinbarten Treffpunkt auf sie warten“, beharre ich auf meiner Meinung.

Die wachsende Unruhe im Bus bestätigt, dass ich damit allein dastehe. Trotz erwacht in mir. Soll er seinen Willen haben, aber anders als er denkt!

„Okay, fahren Sie mit den Leuten zum Essen und dann zur Schokoladenfabrik. Ich warte hier auf die Answalts und komme mit ihnen per Taxi nach.“

Bevor Hendrik Würtz den Chef herauskehren und meine Entscheidung negieren kann, bin ich an der Tür und hinaus.

Der Waffenstillstand zwischen uns bleibt gewahrt.

„So isse nun mal, die Kleene, aba recht hat‘se“, höre ich Fritze meinen Abgang kommentieren, bevor er den Motor anlässt.

 

Unwillig trete ich von einem Fuß auf den anderen. War vielleicht doch etwas zu voreilig, freiwillig den Senioren-Sitter spielen zu wollen. Seit einer geschlagenen Viertelstunde stehe ich mir hier auf dem Vorplatz des Parlamentsgebäudes die Beine in den Bauch, doch von den Answalts fehlt jede Spur. Selbst wenn sie noch kommen - wovon ich nicht mehr überzeugt bin -, wie sollen sie mich zwischen den Massen der hier vorbeiströmenden Menschen, ausmachen?

Ich überlege, ob ich ins Hotel fahren und nachsehen soll, ob die beiden dort angekommen sind, oder lieber der Reisegruppe ins Restaurant folge.

Während ich meine Impulsivität verwünsche, die mich schon öfter unnötigerweise in unbequeme Situationen gebracht hat, durchzuckt mich ein Mordsschreck. Wo ist meine Handtasche?

Fassungslos sehe ich an mir herunter. Über dem Arm trage ich meine Kostümjacke, aber über der Schulter hängt nichts!

Mir ist zum Heulen zumute. Ich starre auf meine leeren Hände.

Da habe ich in meiner Rage die Tasche im Bus liegenlassen.

Super, Lena! In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was soll ich jetzt bloß tun? Zu Fuß zum Hotel laufen und auf die Ankunft der Gruppe warten? Eine bessere Variante fällt mir nicht ein. Peinlich nur, wenn Hendrik Würtz meine Tasche findet.

Ich möchte im Boden versinken. Was wird er von mir denken? Ich fühle schon jetzt seinen überheblichen, musternden Blick. Statt etwas besonders gut zu machen, bin ich dabei, mich bis auf die Knochen zu blamieren. Eine Reiseleiterin, wohlgemerkt keine Anfängerin, die ohne Ausweis, Portemonnaie und Handy in einer fremden Stadt herumirrt. Von der Sprachbarriere gar nicht zu reden. Ach, Sabine, was hast du mir da nur eingebrockt?!

 

Gerade als ich mich verdrießlich durch die Menschenmenge in Richtung Altstadt entfernen will, legt sich eine Hand auf meine Schulter. Erschrocken fahre ich herum. Der Mann im dunkelgrauen Anzug, der sich vor mir aufgebaut hat, ist mir völlig unbekannt. Ich ihm augenscheinlich nicht, denn er überschüttet mich mit einem Schwall aufgeregt klingender Worte. Ich verstehe kein einziges.

Woher kennt er überhaupt meinen Namen? Jetzt spricht er ihn zum zweiten Mal aus - wie der Page im Hotel auf Französisch -, und sieht mich teils ungeduldig, teils fragend an.

„Oui!“, bejahe ich mit einer meiner Handvoll französischer Vokabeln und nicke dazu.

Anscheinend ist das ein Fehler gewesen, denn bevor ich ihm begreiflich machen kann, dass ich eigentlich nur Bahnhof verstehe, hat er grimmig auf die Uhr geschaut, mich am Handgelenk gepackt und mit einem ‚Allons, Mademoiselle! Dépêchez-vous!‘ hinter sich her durch die Menschenmenge gezerrt, die in das Parlamentsgebäude hinein- oder herausströmt. Meinen leisen Protest in deutscher Sprache ignoriert er völlig.

Ganz damit beschäftigt, niemanden anzurempeln, komme ich einfach nicht dazu, es auf Englisch zu versuchen.

Bevor ich ganz begreife, was mit mir geschieht und ungeachtet meines Protestes, hat er mich an einer wartenden Menschenmenge vorbei durch die strenge Kontrolle des Sicherheitsdienstes gelotst. Eine Legitimation in Form einer grünen Kennkarte hängt um meinen Hals und ich fahre mit dem gut aussehenden Politiker das Parlamentsgebäude hinauf. Höher und höher.

Endlich scheint bei ihm der Groschen gefallen, warum seine Ansprache so ungerührt an mir abprallt. Mit einem Fluch schaltet er auf Deutsch um, das er, nebenbei bemerkt, mit einem bezaubernden Akzent spricht. Genau wie Jerome, wenn der nach einem Begriff sucht, der ihm nicht gleich einfällt.

Trotz der etwas seltsamen Situation muss ich zugeben, dass Monsieur de Marville zu der Sorte von Männern gehört, auf die ich fliege: groß, dunkelblond mit braunen Augen, gut gekleidet und mit ausgezeichneten Manieren. Letzteres nehme ich zu seinen Gunsten an, denn davon hat er noch nicht viel gezeigt. Es sei denn, ich werte seine Aktion als Draufgängertum. Doch die ist leider beruflich motiviert gewesen und hat nicht mal mir gegolten.

Ich betrachte erneut die grüne Karte, die mich als Elena Boyer ausweist.

„E l e n a  B o y e r“, flüstere ich vor mich hin. Klingt wirklich fast wie Helene Bauer.

Wer mag sie sein? So viel jedenfalls ist sicher: Ich bin es nicht, auf die der attraktive Monsieur de Marville gewartet hat.

Schade, sehr schade. Unvermittelt habe ich den Geschmack von zarter, bitterer Schokolade auf der Zunge. Ein untrügliches Zeichen!

Lena, sieh zu, dass du hier ganz schnell wieder verschwindest, befehle ich mir, sonst verlierst du den Kopf und es gibt eine Katastrophe. Vielleicht sogar eine internationale Verwickelung.

Liebe in Zartbitter
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