III.

Mit einem unterdrückten Gähnen ziehe ich meinen Trolley-Koffer über die Bussteige am ZOB. Die Nacht war viel zu kurz, und vor Aufregung habe ich die meiste Zeit wach gelegen. Naja, gleich, wenn wir abgefahren sind, werde ich Kaffee kochen – und den vielleicht ein bisschen stärker als gewöhnlich.

Ich halte nach dem Reisebus Ausschau. Mal sehen, wer die Tour übernommen hat. Von einem tüchtigen Fahrer, der die Strecke kennt, flexibel ist und sich weder durch Staus noch die vielen kleinen Sonderwünsche der Touristen aus der Ruhe bringen lässt,  hängt in großem Maße das Reiseklima ab. Ich kenne einige von ihnen, komme mit allen aus, habe aber ein, zwei Fahrer, mit denen ich besonders gern auf Tour bin.

„Hallo, Kleene! Hierher!“

Von weitem winkt mir Fritze Seelig zu.

„Bin schon da!“

Ich beschleunige meine Schritte und eile mit einem Lachen auf ihn zu. Nun kann nichts mehr schief gehen. Mit Fritze an Bord wird die Fahrt ein Kinderspiel.

Fritze, Jerome und ich! Kann es so viel Glück überhaupt geben?

Kaum habe ich den Trolley abgesetzt, da umarmt mich der gemütliche Fritze und drückt mich an seinen umfangreichen Bierbauch.

„Schön, Kleene, det wir wieder zusammen starten. Bist doch Vatas Beste!“

Das sehe ich genauso. Mit einem Kichern mache ich mich los. Gleich müssten die ersten Passagiere eintreffen. Ein Blick in die Teilnehmerliste sagt mir, dass der Bus nicht voll sein wird. Zweiunddreißig Personen, das ist überschaubar. Da kann der eine oder andere für eine Weile separat sitzen, um die Beine auszustrecken. Ich nehme mir vor, gleich zwei Reihen dafür zu reservieren. Zehn Stunden im Bus können trotz der Pausen sehr anstrengend werden. Besonders ältere Leute haben Probleme mit dem langen Sitzen.

Fritze öffnet die Türen. Ich steige ein.

Auf dem Beifahrersitz liegt ein Notebook, über der Lehne hängt ein Jackett. Also ist Jerome schon da und hat sich augenscheinlich fein gemacht.

Fritze ist mein Strahlen nicht entgangen.

„Wat freuste dir denn so?“, fragt er. Trotz aller Neugier kann man sich auf seine Verschwiegenheit verlassen. Also verrate ich ihm, dass ich für meinen Begleiter schwärme und ihn auf der Fahrt etwas beschnuppern will.

Seine Reaktion überrascht mich.

„Ne, Kleene, det kann nich sein. Bisher haste noch nie Anzeichen von Jeschmacksverirrung jezeicht.“

Er schüttelt ungläubig den Kopf. „So’n Etepetete-Knilch in Schlips und Kragen... ne, so eener passt nich zu dir.“

Ich stutze. Auf Fritzes Menschenkenntnis kann man sich eigentlich verlassen. Aber hier liegt er völlig schief.

Jerome etepetete? Ich finde es gut, dass er Jeans und Pullover in den Koffer gepackt und sich in Schale geschmissen hat. – Natürlich für mich!

Während Fritze weiter vor sich hin brubbelt, steuern die ersten Fahrgäste auf den Bus zu. Die Arbeit beginnt. Ich hake die Namen von der Liste ab und nenne die Platznummern. Fritze verstaut derweil das Gepäck im Bauch des Reisebusses.

„Lassen Sie mich bitte durch!“ höre ich plötzlich eine autoritär klingende Stimme am Ende der Schlange. Gleich darauf steht ein Mann neben mir und starrt mich ungläubig an. Er scheint selbst zu bemerken, wie peinlich das ist, denn ohne ein Wort zu sagen nickt er mir flüchtig zu, steigt in den Bus, nimmt das Notebook an sich und setzt sich auf den Beifahrersitz.

Verblüfft schaue ich hinter ihm her.

Es ist nicht Jerome. Auch keiner von den anderen Reisebegleitern, mit denen ich schon unterwegs gewesen bin. Obwohl es häufig Neueinsteiger gibt, weil die meist nicht allzu lange bleiben, an dieses Gesicht kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

Ein leichter Schreck durchzuckt mich. Sollte sich etwa einer der Reisenden berufen fühlen, den Beifahrer zu spielen. Ich habe von Kolleginnen gehört, dass so etwas vorkommt. Bislang bin ich jedoch davon verschont geblieben, einen Mister Wichtig in die Schranken weisen zu müssen.

Kaum ist die Schar abgefertigt, will ich die Sache klären. Allerdings nicht vor den anderen Passagieren. Das könnte peinlich für ihn werden.

„Würden Sie bitte mal kurz aussteigen!“, fordere ich den Mann so freundlich wie möglich auf. Er mustert mich und scheint einen Augenblick zu überlegen, ob er meine Aufforderung ernst nehmen soll oder nicht. Dann steigt er langsam die Stufen hinab. Wir treten einen Schritt vom Bus weg.

„Ich bin Lena Bauer, die Reiseleiterin, Herr ...“, beginne ich diplomatisch und schaue fragend auf meine Liste.

„Hendrik Würtz. Aber eines muss ich sofort klarstellen. Der Reiseleiter bin ich. Sie sind, wie mir gesagt wurde, ohne Auslandserfahrungen und deshalb die zweite Begleitperson.“

Obwohl er es kühl und sachlich sagt, habe ich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. Was bildet sich dieser Kerl ein? Wer ist er überhaupt? Und wo bleibt Jerome?

„Soll das ein Witz sein? Ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren für die ‚Reisen bildet GmbH‘,  aber Sie kenne ich nicht, tut mir leid. Und für die Brüssel-Tour ist Jerome Navarre eingeteilt.“

In meinem Ärger klinge ich etwas schnippisch.

Wieder mustert mich der Unbekannte aufmerksam von oben bis unten, als könne er nicht glauben, wen er vor sich hat.

„Ja, Fräulein Bauer, da sind Ihre Informationen wohl nicht ganz auf dem neuesten Stand. Wie gesagt: der Reiseleiter bin ich. Aber das soll Sie nicht hindern, weiterzumachen. Wie viele Personen fehlen noch?“

Ich weiß nicht warum, aber ich schaue auf die Liste und sage es ihm.

„Okay. Wir starten in fünfzehn Minuten.“

Es klingt sachlich, doch mit einem überheblichen Unterton. Ich muss mir auf die Lippe beißen, um eine freche Antwort zurückzuhalten.

So lasse ich nicht mit mir umspringen, schließlich bin ich keine Hilfskraft, sondern habe schon Dutzende Reisen erfolgreich hinter mich gebracht.

Fritze hat die letzten Gepäckstücke verladen. Er schließt die Klappe, steigt in den Bus und schaut abwartend zu uns herüber.

Bevor der vorgebliche Reiseleiter ihm folgen kann, halte ich ihn zurück.

„Einen Moment, Herr Würtz. Vielleicht zeigen Sie mir erst einmal Ihren Ausweis und dann die Unterlagen, die Sie als Reiseleiter legitimieren. Die werden Sie ja wohl dabei haben. Behaupten kann schließlich jeder alles!“

Würtz blickt auf mich herab, als glaube er, ich hätte den Verstand verloren.

 „Was fällt Ihnen ein? Wenn ich Ihnen sage, dass das meine Tour ist, dann dürfen Sie das getrost glauben“, fährt er mich an. „Vielleicht erkundigen Sie sich erst einmal bei der Disponentin nach den Tatsachen, bevor Sie mir mit solchen Zumutungen kommen!“ 

Er lässt mich einfach stehen und begibt sich auf seinen Platz neben dem Fahrer. Seinen Platz?

Ich bebe vor Zorn. Diese Sache will ich geklärt haben. Sofort.

Während ich mich einen weiteren Schritt vom Bus entferne, zerre ich den Reißverschluss meiner Handtasche auf, greife nach dem Handy und wähle die Nummer von Sabine. Der Ruf geht raus, aber niemand hebt ab.

Ich hätte es wissen müssen: Um sechs Uhr in der Frühe ist sie noch nicht im Büro.

Verdammt, wie soll ich mich verhalten?

Am liebsten würde ich auf dem Absatz umkehren, meinen Koffer nehmen und verschwinden. Doch das kann nicht machen, das hieße ja, diesem Würtz das Feld kampflos zu überlassen. Auf keinen Fall! Also muss ich wohl oder übel mit. – Als zweite Reisebegleiterin!? Mit diesem arroganten Kerl als Vorgesetzten? Das wird sich noch herausstellen, mein Lieber!

Eine ungeheure Wut macht sich in meinem Bauch breit. Kein Jerome, dafür dieser aufgeblasene Wichtigtuer! Sabine wird mir einiges erklären müssen. Spätestens in zwei Stunden, wenn wir die erste Rast einlegen. Sollte sie mich verschaukelt haben, gnade ihr Gott!

Ich hole tief Luft. Fritze hat mir ein Zeichen gegeben. Es kann losgehen.

Na gut, finde ich mich fürs erste damit ab, dass dieser Hendrik Würtz wie selbstverständlich den Chef spielt. Wenn er jedoch versuchen sollte, mich herumzukommandieren, wird er sein blaues Wunder erleben. Und sollte ich mit ihm nicht fertig werden, habe ich zur Not ja immer noch Fritze auf meiner Seite.

„Alle Passagiere an Bord, wir starten“, verkünde ich beim Betreten des Fahrzeugs mit einen grimmigen Lächeln und nehme mit dem Mikrofon in der ersten Reihe hinter dem Beifahrer Platz.

Fritze lässt den Motor an. Langsam rollt der Reisebus vom Gelände des ZOB.

 

Während der ersten Viertelstunde verlasse ich meinen Platz nicht, schaue aus dem Fenster und hülle ich mich in undurchdringliches Schweigen. Soll doch der vorgebliche Chef sich um die Passagiere und deren Bedürfnisse kümmern. Ich bin ja wohl nur Hilfskraft.

Er tut es nicht, sondern versucht, ein Gespräch mit dem Fahrer anzuknüpfen. Doch Fritze gibt sich wortkarg.

Richtig so, lass ihn abblitzen, mein Guter!

Mittlerweile beginnt es auf den hinteren Sitzen unruhig zu werden und ich fange irritierte Blicke der Reisenden aus den vorderen Reihen auf. Da siegt mein Pflichtgefühl über den Ärger, und ich bringe es nicht fertig, länger untätig zubleiben.

„Es ist üblich, die Passagiere zu begrüßen und ein paar Sätze zu unserer Route zu sagen“, überwinde ich mich und spreche diesen Würtz an.

Ich registriere den Blick, den er mir zuwirft und ahne nichts Gutes.

„Da Sie sich sicher darauf vorbereitet haben, möchte ich Sie nicht enttäuschen und überlasse Ihnen gern den Part.“

Freundliche Worte eigentlich, aber der süffisante Ton, in dem sie vorgebracht werden, lässt meinen Blutdruck steigen.

Als ich ohne etwas zu erwidern nach dem Mikrofon greifen will, schiebt er noch eine Nettigkeit hinterher.

„Denken Sie nicht, dass es langsam an der Zeit ist, Kaffee anzubieten und die Verpflegung auszuteilen? Unsere Touren zeichnen sich im Allgemeinen durch hohe Qualität und perfekten Service aus, Fräulein Bauer. Das sollten Sie in den zwei Jahren, die sie – nach Ihrer Aussage - für die Firma arbeiten, verinnerlicht haben.“

Für einen Moment bin ich sprachlos. Was erlaubt sich der Kerl?

Ruhig bleiben, Lena, sage ich mir. Aber das ist leichter gesagt als getan. Am liebsten würde ich losschreien, was er sich einbildet. Ich bin als Reiseleiterin für die Fahrt engagiert worden, nicht als Adjutant dieses selbstherrlichen Ekels, das sich jetzt gemütlich in seinen Sitz zurücklehnt.

Fritze muss alles gehört haben. Ich werfe ihm einen hilfesuchenden Blick zu, doch er  ist mit einem Überholmanöver beschäftigt und reagiert nicht.

Lautlos zähle ich bis drei und stecke noch dieses eine Mal zurück. Nur keinen Streit vor den Passagieren. Den Rest klären wir später.

„Es ist selbstverständlich alles vorbereitet. Wenn ich den Kaffee-Automaten jetzt einschalte, können wir nach meiner kleinen Ansprache sofort loslegen. Wollen Sie lieber die Frühstücksbeutel verteilen oder den Kaffee ausschenken?“

Diese kleine Spitze, wenn auch mit honigsüßer Stimme vorgetragen, kann ich mir nicht verkneifen. Mal sehen, wie Hendrik  Würtz darauf reagiert.

Er richtet sich kerzengerade auf. Ich sehe, wie sich sein Gesicht rötet.

Ärger oder Beschämung?

„Ich übernehme den Proviant“, antwortet er knapp und macht tatsächlich Anstalten, sich zu erheben.

Es gelingt mir, mein Erstaunen zu verbergen. Diese Taktik sollte ich mir merken.

„Okay“, bestätige ich seine Entscheidung ebenso knapp. Dann schalte ich das Mikrofon ein.

Liebe in Zartbitter
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