XV.

 

Bisher ist alles gut gegangen. Monsieur de Marville hat mich durch die Gänge des Gebäudes gelotst, diesmal ohne mich am Handgelenk herum zu zerren. Obwohl er schon wieder in Eile zu sein scheint. Wohl ein Dauerzustand bei ihm.

Vom Konferenzsaal bin ich schwer beeindruckt, er ist wie ein Hörsaal aufgebaut und fasst etwa dreihundert Personen. Dabei zählt er zu den vielen kleinen, so viel habe ich herausgehört. Zu jedem Platz gehört ein Kopfhörer, jeweils zwei Teilnehmer teilen sich ein Mikrofon. Ein Traum, wenn ich diese Ausstattung mit der an unserer Uni vergleiche. Hinter dem Auditorium befinden sich, halbkreisförmig angeordnet, die Kabinen für die Dolmetscher, die bei Bedarf jeden Vortrag neben englisch, französisch, deutsch und spanisch in ein Dutzend weiterer Sprachen simultan übersetzen.

Ich versuche, möglichst gleichgültig zu erscheinen. Meine Namensschwester geht hier sicher öfter ein und aus und ist mit dem Knowhow vertraut.

Die Chef-Koordinatorin stellt Fragen, wie ich – äh, Elena Boyer – das Rednerpult eingerichtet haben möchte, wie lange der Vortrag dauern und ob dazu ein Beamer benötigt wird.

„Ich denke, mit der vorhandenen Technik werde ich auskommen. Ein Beamer wäre nützlich. Auf was für einen Personenkreis habe ich mich einzustellen?“

Monsieur de Marville sagt es mir mit seinem bezaubernden Akzent.

Ob ich Material zum Übersetzen dabeihätte, das für die Diskussion auf den einzelnen Plätzen ausgelegt werden solle, lautet die nächste Frage. Jetzt wird mir doch etwas mulmig. Monsieur de Marville und die Koordinatorin sehen mich an, erwarten eine Antwort.

Ich überlege blitzschnell. So eine Anhörung läuft sicher nicht anders ab, als eine Vorlesung mit anschließendem Seminar. Aber wie lange darf man hier sprechen? Ich weiß ja nicht einmal, ob auf das Referat von mir – jetzt tue ich tatsächlich schon so, als ob ich eines halten würde – weitere folgen.

„Mein Vortrag wird etwa dreißig Minuten in Anspruch nehmen, vielleicht auch etwas länger“, taste ich mich vorsichtig vor. „Aber Material für die Fachleute ist nicht vorgesehen. – Die Fakten sind noch nicht offiziell und deshalb sollen sie keinesfalls vorfristig an die Öffentlichkeit“, ergänze ich schnell, als mich die Dame verwundert ansieht. „Den auf die Fakten reduzierten Vortrag bekommen sie erst hinterher in die Hand.“

„Das habe ich mir fast gedacht“, unterstützt mich unerwartet verständnisvoll der Vize-Präsident. „Sie halten sich offen die Möglichkeit, die Zahlen bis morgen nochmals zu korrigieren. Das heißt, das Bundesfinanzministerium arbeitet noch an der Sache?“

„So in etwa. Mehr darf ich dazu augenblicklich leider nicht sagen“, antworte ich unbestimmt, während ich mich immer unwohler fühle. Bundesfinanzministerium? So hoch ist die Tagung angebunden – und ich habe keinen Schimmer, worum es eigentlich geht. Das müssen die beiden anderen irgendwann bemerken.

„Ich danke Ihnen“, verabschiedet de Marville die Chef-Koordinatorin. „Jetzt habe ich leider nur noch zehn Minuten für Sie, dann erwartet mich Madame Labelle. Sie wird beehren die Anhörung morgen zeitweise mit ihrer Anwesenheit“, wendet er sich zu mir und schiebt mich sanft in Richtung Rolltreppe. „Also erläutern Sie mir in aller Kürze die Schwerpunkte, damit ich besser koordinieren kann die eingehenden Anfragen.“

Wir erreichen die Etage, in der sich sein Büro befindet.

Verdammt, jetzt wird es wirklich brenzlig. Ich werde ihm gestehen müssen, dass ich Lena Bauer bin, Studentin aus Potsdam und Aushilfsreiseleiterin für die „Reisen bildet GmbH“, aber nicht die erwartete Referentin aus dem Bundesfinanzministerium.

So oder so bedeutet das das Ende meiner kaum einstündigen Bekanntschaft mit Monsieur de Marville.

Schade, dabei ist er ein durchaus ansehnlicher und vor allem interessanter Begleiter. Hierin vertraue ich meinen sensiblen Geschmacksnerven trotz der Pleite mit Bernhard bedingungslos. Deshalb hätte ich nichts dagegen, ihn mal ganz privat zu erleben. Aber das soll wohl nicht sein.

Fakt ist: Er hält mich für diese Elena Boyer und sein Interesse an mir ist ein rein dienstliches. Also sollte ich zusehen, wenigstens ohne großes Aufsehen aus der Sache wieder herauszukommen.

Während ich krampfhaft überlege, was ich tun soll, schiebt er mich ungerührt vor sich her.

Aus den Augenwinkeln erkenne ich an einer Tür ein internationales Signet. Ist das die Rettung? Zumindest kann ich die Katastrophe hinausschieben.

„Sie entschuldigen mich für einen Moment.“

Ich mache mich los und deute mit dem Kopf diskret auf das Piktogramm, drehe mich auf dem Absatz um und bin, ohne eine Antwort abzuwarten, im nächsten Augenblick in der Damentoilette verschwunden.

In einer der Kabinen hocke ich mich auf das Becken und denke nach.

Am besten ist es wohl, einen Schlussstrich unter die Begegnung mit André de Marville zu ziehen und auf Nimmerwiedersehen aus dem Parlament zu verschwinden. Überraschenderweise tut die Aussicht, den gut aussehenden, nur leider ein wenig gestressten Politiker so sang- und klanglos aus meinem Leben zu streichen, ein bisschen weh. Wer hätte gedacht, dass ich einmal jemandem nachtrauern würde, der mich permanent hinter sich her zerrt oder vor sich her schiebt?

Als ich den Kopf zur Tür hinausstrecke ist die Luft rein. Statt zum Büro des Vize-Präsidenten zu gehen, werfe ich nur einen Abschied nehmenden Blick in diese Richtung und schlage den Weg zurück zum Fahrstuhl ein. Bevor sich die Tür schließt, zwängt sich ein junger Mann hindurch. Obwohl er es dezent tut, bemerke ich, wie er mich in der verspiegelten Rückwand mustert.

Bitte jetzt nicht noch jemanden, der nach der echten Referentin Ausschau hält!

In Blitzgeschwindigkeit hält der Aufzug im Foyer des Gebäudes. Als ich an der Rezeption vorbei in Richtung Ausgang steuere, hält mich ein Wachmann zurück.

Ach ja, die Kennkarte. Ich nehme sie ab und reiche sie ihm.

„Au revoir, Mademoiselle!“

Lieber nicht, denke ich und verlasse eilig das Gebäude.

Draußen herrscht noch immer Gedränge. Eine Gruppe Japaner, bewaffnet mit Nikons und Canons, schießt alles ab, was ihr vor die Linse kommt. Ein Reisebus, der laut Aufschrift aus Schweden stammt,  spuckt eine Menge Personen aus. Eine Reiseleiterin winkt ihnen, zusammenzubleiben, nicht auseinanderzulaufen. Ich muss unwillkürlich an die Answalts denken.

Die Uhr des nächstgelegenen Turms verrät mir, dass es inzwischen früher Nachmittag ist. Die Tour zur Schokoladenfabrik kann ich jedenfalls vergessen.

Nachdem ich mich auf einem Stadtplan, der hier an jeder Ecke aushängt, gründlich informiert habe, mache ich mich gedankenverloren auf den Weg ins Hotel, in der Hoffnung, vor der Reisegruppe dort zu sein.

Liebe in Zartbitter
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