XXVI.

 

Das unerträglich laute Motorengeräusch verstummt ganz plötzlich. Ich höre die Tür des Busses einrasten, dann sich langsam entfernende Schritte, ein Auto, das mit quietschenden Reifen anfährt. Dann nichts mehr.  Stille ringsum, die nur hin und wieder durch ein Knacken durchbrochen wird, das die abkühlenden Metallteilen des Reisebusses verursachen.

Ich wälze mich vorsichtig von einer Seite auf die andere.

Verdammt ungemütlich ist es hier im Bauch des Fahrzeugs, der eigentlich für die Koffer und Reisetaschen der Passagiere vorgesehen ist.

Es ist so dunkel, dass ich die Hand nicht vor Augen sehen kann.

Das hätte ich sowieso nicht gekonnt, denn ich bin verschnürt wie ein Weihnachtspaket.

Stimmt nicht ganz. Verklebt, wäre richtiger.

Mit einer ganzen Rolle braunem Klebeband hat mir der Schatten aus dem Bus die Hände auf dem Rücken zusammengepappt und das allerletzte Stück über meinen Mund geklebt. Das ist nicht lustig gewesen, doch aus Leibeskräften gewehrt habe ich mich erst beim Anblick der geöffneten Kofferklappe.

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte ich fast darüber lachen: Der zweite Mann hat tüchtig mit zupacken müssen, bevor es ihnen gelang, mich in den Hohlraum zu schieben.

Wie lange ich nun schon hier drinnen liege, kann ich nicht sagen. Dreißig Minuten oder zwei Stunden? Es kommt mir endlos vor.

Vom beschichteten Boden dringt Kälte herein, die mich zittern lässt. Oder sind es die Nachwehen des eben Erlebten?

Denk bloß nicht darüber nach, wie lange du in diesem Gefängnis ausharren muss, befehle ich mir.

Das ist jedoch leichter gesagt, als getan. Zum Glück leide ich nicht an Klaustrophobie und auch meine Nase ist frei. Wäre doch blöd, wenn meine späteren Retter eine durchgedrehte, schlimmstenfalls eine erstickte Lena Bauer vorfinden würden.

Die Kälte zieht unangenehm von Po und Rücken den ganzen Körper hinauf.

Ach ja, Tod durch Unterkühlung habe ich noch vergessen. Wenn das keine Auswahl ist!? Besonders gut gefällt mir allerdings keine der Varianten.

Wenigstens gegen die letztere kann ich etwas tun, indem ich mich bewege.

Ich winkle die Knie an und schiebe mich rücklings mit dem Kopf nach vorne durch den Kofferraum. Stück für Stück. An einem Ende angekommen, drehe ich mich um 180 Grad und strebe in die andere Richtung.

Es ist anstrengend, aber es hilft gegen die Kälte.

Ich spüre einen Widerstand. Er fühlt sich weich an, kann also nicht die andersseitige Begrenzung des Hohlraums sein. Aber was ist es dann?

Ich halte inne, drehe mich auf den Bauch und hebe den Kopf. Mit dem Gesicht taste ich vorsichtig über das Hindernis, nehme Kleiderstoff wahr und meine Nase den dezenten Duft eines würzigen Eau de Toilette.

Erschrocken zucke ich zurück als meine Wange etwas Glattes, Weiches berührt. Ich halte einen Moment inne, aber als sich nichts regt, taste ich mit meinem Gesicht weiter.

Zu dumm, dass es so dunkel ist und ich rein gar nichts erkennen kann.

Ich schiebe mich noch ein Stückchen weiter nach vorn. Meine Wange fühlt warme Haut. Also ist es keine Kleiderpuppe.

Ich bin nicht allein in dem Gefängnis aus Kunststoff und Metall. Neben mir liegt ein Mensch. Aber warum reagiert er nicht auf meine Berührungen? Ist er etwa tot?

Ich möchte schreien, doch mit dem verklebten Mund bringe ich nur einen dumpfen Laut hervor. Ich trampele mit den Füßen, bis ich nicht mehr kann und mir der Schweiß auf der Stirn steht.

Angstschweiß?

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt habe.

Unwillkürlich schießt mir eine Überlegung durch den Kopf: Die Haut des anderen ist warm gewesen.

Zögernd robbe ich bäuchlings an das leblose Bündel heran. Ich will Gewissheit haben.

Es kostet mehrere Versuche, bis ich meine Wange in die richtige Stellung gebracht habe. Als ich einen winzigen Luftzug verspüre, atme ich erleichtert aus. Wer auch immer mit mir hier eingesperrt ist, er lebt!

Zur Sicherheit rutsche ich zurück und taste etwas tiefer. Mein auf den Oberkörper gepresstes Ohr vernimmt Herzschlag. Gott sei Dank!

Es ist erstaunlich, wie die anderen Sinne reagieren, wenn einer von ihnen ausfällt. Obwohl ich nichts sehen kann, entsteht nach und nach ein Bild von dem Körper neben mir vor meinen Augen.

Es ist ein Mann, mit einem Anzug und Halbschuhen bekleidet. Er muss bedeutend größer sein als ich und schlank, denn die Stelle wo Fritze seinen Bierbauch hat, ist flach und fest.

Aber was ist mit ihm, warum wacht er nicht auf, spricht mit mir und befreit mich?

Er könnte es tun. Weder sind seine Hände gefesselt, noch ist sein Mund verklebt. Aber er liegt einfach nur so da und rührt sich nicht. 

Ich stelle meine Erkundungen ein, denn mit einem Mal überfällt mich bleierne Müdigkeit und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Ob das an der schlechten Luft in diesem Hohlraum liegt?

Vom Boden durchdringt mich erneut Kälte.

Mehr instinktiv als wohlüberlegt, rutsche ich an meinen unbekannten Leidensgefährten heran. Sein Anzugstoff ist so schön weich, sein Körper warm. Ich schiebe seinen Arm beiseite und kuschele mich eng an ihn. Er soll mir ein bisschen davon abgeben.

Liebe in Zartbitter
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