XI.

 

Im Bad putze ich mir ausgiebig die Zähne und verkneife mir tapfer ein Gähnen. Für mich beginnt der zweite Reisetag mittelprächtig. Trotz der kalten Dusche fühle ich mich wie gerädert.

Wer behauptet eigentlich, ältere Leute brauchen ihre Ruhe? Von wegen. Die kamen, vom hochprozentigen belgischen Bier in Stimmung versetzt, nach dem Abendessen noch mal ganz schön in Fahrt. Erst weit nach Mitternacht hat sich das letzte Paar zurückgezogen. Ich musste natürlich bis zum Schluss ausharren.

Während ich meine Haare föhne, nehme ich mir vor, die Alten heute ordentlich auf Trab zu halten, vielleicht komme ich dann mal zeitig ins Bett. Nötig wäre es. Vergangene Nacht habe ich unruhig geschlafen und wirres Zeug von Hendrik Würtz geträumt. An alles kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur, dass er mit einer Rose vor mir stand, doch als ich sie entgegennehmen wollte, bemerkte ich ein hinter seinem Rücken verborgenes Messer. Als er es zückte, bin ich vor Schreck aufgewacht.

Na ja, meine Fantasie ist schon öfter mit mir durchgegangen. Erstaunlich nur, dass ich mich überhaupt so viel mit diesem Kerl beschäftige. Ich schwärme doch für Jerome.

Obwohl mir Sabines Information über seine Unzuverlässigkeit zu denken gegeben hat, beschließe ich, die nächste Fahrt unbedingt mit ihm zu machen. Ich will mir selbst ein Urteil bilden. Sabine hat versprochen, es zu ermöglichen, und so wie die Dinge liegen, ist sie es mir auch schuldig.

Jetzt noch die Garderobe. Obwohl kein Anlass vorliegt, reizt es mich, das anthrazitfarbige Kostüm anzuziehen. Warum eigentlich nicht? Gut gekleidet zu sein, erhöht das Selbstbewusstsein. Hier in Brüssel sollen auf den Straßen mehr Männer in Schlips und Kragen herumlaufen als in Berlin in Bauarbeiterkluft.

Mein Handy piepst. Höchste Zeit, zum Frühstück hinunterzugehen. Nicht, dass ich nachher die Letzte bin und die Senioren denken: Ja, ja, die Jugendlichen, die brauchen eben ihren Schlaf.

 

Erwartungsgemäß ist fast die ganze Reisegruppe im Frühstücksraum versammelt. Dabei haben wir noch reichlich Zeit, die Stadtbesichtigung startet erst in einer halben Stunde.

Am Büfett treffe ich auf Hendrik Würtz.

„Wie möchten Sie Ihren Kaffee, Helene?“, fragt er liebenswürdig und ich zucke zusammen.

Was fällt ihm ein, mich beim Vornamen zu nennen? Sein bewundernder Blick dagegen geht mir runter wie Öl. Wider Willen fühle ich mich geschmeichelt.

Jetzt erinnere ich mich wieder an den Verlauf des gestrigen Abends. Er hat sich zu mir gesetzt und ich habe – statt ihn aus der Reserve zu locken – viel zu viel geredet. Über mich. Verdammtes Kirschbier!

„Wenn schon, dann bitte Lena“, korrigiere ich ihn. „Café au lait, eine Müslischale voll.“

Ich nehme mir ein Croissant, eine Scheibe Baguette und ein Rosinenbrötchen. Dazu Honig, Himbeermarmelade und Schoko-Aufstrich. Wenn ich im Alltag zum Frühstücken komme, muss es süß sein. Unbedingt. Mit dem beladenen Teller in der Hand schaue ich suchend durch den Raum. Von einem Zweiertisch winkt mir Hendrik Würtz zu. Gemessenen Schritts gehe ich auf ihn zu, nehme den Platz ihm gegenüber ein und bedanke mich höflich für den Kaffee.

Er soll sich nur nicht einbilden, dass er mein gestriges, alkoholbedingtes Entgegenkommen ausnutzen kann. So weit sind wir noch lange nicht.

Er verspeist gerade seelenruhig eine Portion Rührei mit Speck und kleine Bratwürstchen. Igitt. Ich bekomme eine Gänsehaut, kann gar nicht hinsehen. Schnell widme ich mich meinem Teller.

Die Mahlzeit verläuft schweigend. Das ist mir sehr recht.

„Noch einen Kaffee?“

Ich winke ab, gehe zur Tagesordnung über.

„Die Sightseeing-Tour beginnt am alten Königsschloss, dann fahren wir zum Atomium. Die Sehenswürdigkeiten um den Rathausmarkt  herum mit Abstecher zu Manneken Pis werden zu Fuß besichtigt und, wenn noch Zeit ist, das Gebäude des Europa-Parlaments. Hinein dürfen wir leider nicht. Fürs Mittagessen sind Plätze im Restaurant „Königshof“ bestellt, dann besuchen wir eine Schokoladenfabrik. Die  zweite Hälfte des Nachmittags hat die Gruppe zur freien Verfügung. Sie können shoppen gehen: Brüsseler Spitze, Gobelins, Schokolade oder die Klamotten der üblichen Weltstadt-Boutiquen“, rekapituliere ich etwas ironisch das kompakte Tagesprogramm.

Mein Gegenüber nickt.

„Das wird sie hoffentlich so in Anspruch nehmen, dass sie heute Abend zeitig das Feld räumen. Ich müsste mal wieder ausschlafen.“

Ungläubig starre ich ihn an. Ist das Gedankenübertragung oder will er sich nur bei mir einschleimen?

 „Wir müssen“, seufze ich und stehe auf.

Er trinkt seinen Espresso aus und folgt mir nach draußen.

Vor dem Hotel hält ein Notarztwagen. Zwei Personen springen heraus und werden von einem aufgeregten Portier in Empfang genommen. „Gustav-Klimt-Suite, Mademoiselle...“

Den Namen verstehe ich nicht, weil Fritze mit dem Reisebus vorfährt. Die Stadtführerin sitzt bereits neben ihm. Es kann losgehen.

Liebe in Zartbitter
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