XXXIV.

 

Die belgischen Pommes Frites schmecken tatsächlich phantastisch. Nach einer Riesenportion mit vorzüglich gewürzten Soßen, geht es mir bedeutend besser, als noch eine halbe Stunde zuvor.

Verstohlen habe ich den Knopf des Rocks geöffnet und den Reißverschluss etwas aufgezogen, sonst hätte ich keinen einzigen Bissen heruntergebracht.

Ich werfe einem Blick in die Runde. Am Imbiss-Stand herrscht Gedränge, die Verkäufer haben alle Hände voll zu tun, alle Wünsche der nicht abreißenden Warteschlange zu erfüllen. Auf den Bänken neben uns sitzen Leute aller Altersgruppen. Touristen, die  die belgische Spezialität mit Genuss vertilgen. 

Gedankenverloren nehme ich einen Zug aus dem Pappbecher.

Kirschbier kann man sicher stilvoller servieren, doch ich habe gewaltigen Durst, da kümmert mich das nicht weiter. Selbst mein Begleiter stört sich nicht daran und schüttet ein Bier in sich hinein.

Obwohl wir uns anschweigen, fühle ich mich weder unbehaglich noch einsam.

„Rücken Sie ein bisschen zusammen, dann finden wir auch noch ein Plätzchen“, dringt plötzlich die muntere Stimme von Hendrik Würtz  an mein Ohr. Er ist in Begleitung der Referentin. Unwillkürlich zucke ich zusammen. Was will er hier, und warum hat er diese Elena Boyer mitgebracht? Ich vergegenwärtige mich ihrer wütenden Blicke im Konferenzsaal. Muss ich mich jetzt etwa erneut rechtfertigen? 

Sie nickt mir unerwartet freundlich zu.

„Sie sind also Fräulein Bauer. Hendrik hat mir alles über Sie erzählt.“

Alles? Das wüsste ich aber.

„Soll ich dir eine Portion Pommes mitbringen, Schatz?“, fragt er und ich stutze.

„Auf keinen Fall diese fettigen Dinger!“, murmelt seine Begleiterin entsetzt. „Ich hätte gern einen frischen Salat mit Schafskäse oder Thunfisch, wenn die sowas anbieten. Sonst nur ein Wasser!“

War ja klar, denke ich. Anders kann man seine XS-Figur kaum erhalten. Für mich wäre der totale Verzicht auf alles, was irgendwie ansetzen kann, eine Strafe.

André de Marville schaut abwechselnd mich und Elena Boyer an, als könne er unsere Ähnlichkeit noch immer nicht fassen.

„Wenn Sie mich nicht hätten darüber aufgeklärt, und ich nicht selbst hätte miterlebt einen Teil, ich würde es nicht glauben“, bemerkt er in Richtung Würtz, der, mit einer doppelten Portion Fritten und einem winzigen Salatteller in den Händen, am Tisch Platz nimmt.

„Werden Sie die Polizei verständigen? Ich meine, was da passiert ist, war doch eine kriminelle Handlung, womöglich mit politischem Hintergrund?“, fragt er kauend den Vize-Präsidenten.

Der winkt zu meiner Erleichterung ab.

„Warum die Angelegenheit nachträglich hängen an die große Glocke? Darüber freut sich nur die Sensationspresse. Die Anhörung ist gegangen erfolgreich über die Bühne. Nur das war wichtig. Den kleinen Zwischenfall mit den beiden Referentinnen werde ich klären intern. Doch was sollte ich erzählen der Polizei ohne mich zu machen lächerlich? Ich habe keinen der Entführer erkannt. Sie etwa?“

Die Frage gilt mir.

Ich schüttele den Kopf.

„Es waren zwei. Doch einer hatte das Gesicht verhüllt und den anderen habe ich nur sprechen hören. Auf Französisch“, seufze ich.

André de Marville lächelt.

„Die Polizei wird – nach einem anonymen Hinweis – finden den Bus, den Schaden zahlt die Versicherung, und das war’s. Ein simpler Fall von erfolglosem Car-Napping, weil sich die Gangster nicht haben gemeldet. Diese Version ist für alle Beteiligten das Beste, nehme ich an.“

Ich sehe das zertretene Schloss der Kofferraumklappe und die zerstörte Fensterscheibe in Fritzes Bus vor mir und fühle, wie mir das Blut ins Gesicht steigt.

Elena Boyer scheint die ganze Sache nicht sonderlich zu interessieren. Sie hat ihren Salat gemampft und betrachtet mich seit einer Weile eingehend, doch um unsere Ähnlichkeit geht es ihr dabei wohl weniger.

„Hübsches Outfit, das Sie tragen, ich besitze ein ganz ähnliches“, wendet sie sich schließlich an mich, und ich bin sicher, mit ihren Adleraugen hat sie bemerkt, wie eng alles sitzt. Zu eng.

Mir ist jetzt schon alles egal. Mehr zu versauen, als ich es heute getan habe, gibt es ohnehin nicht.

Zum Vergnügen der beiden Männer kläre ich sie darüber auf, dass es tatsächlich ihre Klamotten sind, und wie ich dazu gekommen bin.

„Wenn Ihnen die Sachen passen, würde ich sie ihnen schenken“, nimmt sie mein Geständnis anscheinend mit Humor. Die kleine Spitze entgeht den Herren natürlich.

„Vielen Dank“, antworte ich deshalb zahm.

„Wo wir gerade bei Geständnissen sind...“, meldet sich Hendrik Würtz zu Wort, da habe ich auch einiges beizusteuern.“

Bevor er beichtet, besorgen die Männer frische Getränke. Bier für sie, Kirschbier für mich und für Elena Wasser – was sonst?

„Ich empfehle bei Kirschbier zu bleiben. Zwei, drei Flaschen dürften genügen, ich habe da meine Erfahrung“, flüstert der Reiseleiter dem Vize-Präsidenten zu, als sie zurück an den Tisch treten. Der nickt ganz ernsthaft, mir jedoch bleibt der Sinn der Worte verborgen.

„Also, meine Damen“, beginnt Hendrik Würtz seine Beichte, „eigentlich sollte ich jetzt nicht hier, sondern mit der ‚Reisen bildet GmbH‘ in Madrid sein. Mein Freund Pieter Schucht aus der Geschäftsführung hatte mich darum gebeten, und ich habe zugesagt. Darum konnte ich dir nicht versprechen, dich in Brüssel zu besuchen, Schatz,  das wäre zeitlich nicht möglich gewesen“, wendet er sich zärtlich an Elena.

„Ach Pascha, jetzt bist du ja da!“, flüstert sie und schenkt ihm ein strahlendes Lächeln, während sie näher an ihn heranrückt.

„Vorgestern früh um halb vier hat Pieter erfahren, dass ein Reiseleiter abgesprungen und damit eine seiner Touren gefährdet ist. Das hat all unsere Pläne umgeworfen und ich habe mich zähneknirschend bereiterklärt, auf die Spanienfahrt mit ihm zu verzichten und stattdessen die Belgien-Route zu begleiten.“

Diese Erklärung ist für mich bestimmt.

„Aber im Reiseunternehmen gibt es keinen Mitarbeiter namens Hendrik Würtz, ich habe mich erkundigt“, werfe ich zögernd ein.

Der lacht auf.

„Ja, da haben Sie prompter reagiert, als mir lieb war“, gibt er zu. „Überhaupt haben Sie während der Hinfahrt alles gut und richtig gemacht, obwohl ich so eklig zu ihnen war, Fräulein Lena. Aber einerseits gehörte das zu meinem Plan, andererseits hat mich Ihre Ähnlichkeit mit Elena total verwirrt.“

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr und sage ihm das auch.

„Ich heiße tatsächlich Hendrik Würtz.“

Mit ein paar Sätzen klärt er mich über seine Identität und seine Mission auf: Als Juniorchef eines großen Reiseveranstalters hat er die Leistungen der angeschlagenen „Reisen bildet GmbH“ unerkannt testen sollen, um einen Teil der Unternehmen möglicherweise später zu übernehmen. Ausgemacht war dafür die längere Spanien-Tour. Doch auf Schuchts Bitte hat er auf die Brüssel-Tour gewechselt, nicht nur als Beobachter, sondern als zweite Begleitperson an Bord.

„Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen das allerbeste Zeugnis aus, Fräulein Lena. Sie sind eine perfekte Reiseleiterin“, beendet er seine Erklärung. „Als Sie nach dem Ausbleiben der Answalts plötzlich in diese undurchsichtige Sache, die eigentlich Elena betraf, hineingezogen wurden, habe ich mir Sorgen gemacht. Und Fritze erst! Der ist richtiggehend verzweifelt gewesen.“

Als Würtz dessen Auftritt am frühen Morgen schildert, bekomme ich Gewissensbisse. Mit einem Zug kippe ich aufgeregt das ganze Kirschbier hinunter.

„Wenn ich nicht so sturköpfig gewesen wäre und darauf beharrt hätte, unbedingt meine Tasche aus dem Reisebus zu holen, wäre vielleicht gar nichts passiert“, werfe ich kleinlaut ein.

„Non, non, das dürfen Sie nicht sagen“, protestiert André de Marville, der bisher amüsiert den Dialog zwischen mir und Würtz verfolgt hat. „Sie haben unbeabsichtigt abgelenkt die Ganoven von Mademoiselle Boyer, und wer weiß, wo mich die Kerle entsorgt hätten, wenn ihnen nicht der Reisebus gefallen wäre in die Hände.“

Jetzt sieht ihn das Paar Boyer-Würtz fragend an. Diesen Teil unserer Geschichte kennen sie noch nicht.

Der Vize-Präsident lässt sich nicht lange bitten, sie aufzuklären. Es ist mir fast peinlich, wie er meine Aktivitäten bei der Befreiung aus dem Bus und danach herausstreicht.

„Ich konnte ihr kaum helfen, denn ich leide an latenter Klaustrophobie, deshalb benutze ich auch nie den Fahrstuhl im Parlamentsgebäude. Ich weiß nicht, was wäre geschehen, wenn ich den engen Raum gesehen hätte, in den wir waren eingesperrt“, bekennt er. „Doch zum Glück es war dunkel.“

„Oh, meine Liebe, da sind Sie aber mutig gewesen. Ich wäre sicher vor Angst gestorben!“

Erst jetzt scheint Elena Boyer richtig zu begreifen, dass eigentlich sie es war, die im Fokus der Gangster gestanden hat. Sie drückt mir die Hand und schmiegt sich dann ängstlich an Hendrik Würtz.

„Lass uns so schnell wie möglich abreisen, Pascha“, fordert sie.

„Das geht nicht, Schatz, ich muss mich um die Reisegruppe kümmern, bis Ersatz aus Deutschland eingetroffen ist, aber ich lasse dich keine Minute mehr aus den Augen“, verspricht er zärtlich.

Ich starre schuldbewusst in den leeren Pappbecher. Die Reisegruppe! Bei der ganzen Aufregung habe ich die alten Leutchen ganz vergessen. Und Fritze. Das ist einfach unverzeihlich.

André de Marville füllt erneut meinen Becher. Ich bedanke mich mit einem Lächeln und trinke ihn durstig aus. Unaufgefordert schenkt er nochmals nach. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, jedenfalls ist es nicht mehr diese kalte, unverbindliche Diplomatenmiene.

Liebe in Zartbitter
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