XVI.

 

„Elena Boyer. Ich möchte zu Vize-Präsident André de Marville. Wir haben telefonisch einen Termin vereinbart.“

Obwohl der Wunsch in perfektem Französisch vorgetragen wird, schaut der Wachmann irritiert.

Elena zögert nicht, greift in ihre Handtasche und zieht ihren Pass hervor.

„Es muss eine Legitimation für mich bereitliegen“, sagt sie energisch.

Ein zweiter Uniformierter tritt hinzu.

„Das geht in Ordnung“, bestätigt er und händigt der eleganten jungen Dame die Kennkarte aus, die noch vor einer halben Stunde um Lenas Hals gehangen hat.

„Sie kennen sich aus. Neunte Etage, Zimmer 945“, gibt er routiniert Auskunft.

Elena passiert die elektronische Sperre und strebt eilig in Richtung Fahrstuhl. Sobald sie in Gedränge gerät, presst sie ihre Tasche unwillkürlich fester an sich.

„Die hat nur ihre Unterlagen geholt“, klärt Wachmann Pierre seinen Kollegen auf und erzählt ihm dann genüsslich, wie die Mademoiselle ohne Handtasche und Papiere vor ein paar Stunden von dem Vize-Präsidenten gegen alle Vorschrift regelrecht durch die Sperre gezerrt worden ist.

„Nicht besonders charmant, der Herr Franzose“, äußert er in breitem Belgisch.

Grinsend schauen beide der jungen Frau hinterher.

 

In der neunten Etage findet Elena zu ihrem Unmut das Büro des Vize-Präsidenten verschlossen vor. De Marville sei schon wieder in einer Besprechung, teilt ihr eine freundliche Sekretärin aus dem Nebenzimmer mit. Wo dessen Assistent steckt, weiß sie nicht zu sagen. Sie bietet der jungen Dame an, bei ihr auf den vielbeschäftigten Politiker zu warten.

Elena überlegt. Einerseits müsste sie de Marville dringend sprechen, um den Ablauf der Anhörung zu erfahren, andererseits das mitgebrachte Manuskript noch einmal durcharbeiten.

Ein wenig Zeit bleibt mir noch, entscheidet sie und folgt der freundlichen Einladung. Auch die angebotene Tasse Kaffee schlägt  sie nicht aus. Um sich die Zeit zu vertreiben, vertieft sie sich in ihre Unterlagen. Auf den korrekt gekleideten jungen Mann, der zwischenzeitlich mit einem Auftrag an die Sekretärin herantritt und – während die ihn umgehend erfüllt – den Gast aufmerksam mustert, achtet Elena nicht. Bald ist sie mit ihrer Geduld am Ende, wartet jetzt bereits eine geschlagene Stunde. Zu allem Übel beginnt der verstauchte Knöchel zu schmerzen.

Elena schiebt die  leere Tasse beiseite und greift zum Handy, doch statt des Vize-Präsidenten meldet sich unter der gewählten Nummer nur die Mailbox. Genervt stopft sie das Handy zurück in die Tasche und die Vortragsnotizen gleich hinterher.

„Kann ich bei Ihnen eine Nachricht für Herrn de Marville hinterlassen – und bekommt er sie heute noch?“, fragt sie die Sekretärin. „Er soll mich dringend wegen der morgigen Anhörung anrufen. Noch besser wäre es, wenn er mich in meinem Hotel aufsuchen würde“, teilt sie der Angestellten mit. „Ich schreibe ihm die Adresse auf. Es ist wirklich außerordentlich wichtig.“

Die Sekretärin verspricht, ihm die Nachricht zuzustellen.

„Wenn ich ihn nicht mehr sehen sollte, hinterlege ich sie beim Sicherheitsdienst. Der übergibt den Brief, wenn der Herr Vize-Präsident das Gebäude verlässt. Das machen wir häufig so“, verspricht sie.

Daraufhin wirft Elena ein paar Sätze in ihrem eleganten Französisch aufs Papier.

„Ich verlasse mich auf Sie!“, betont sie, als sie sich von der hilfsbereiten Angestellten verabschiedet.

An der Rezeption, wo sie ihre Kennkarte abgibt, lässt sie sich ein Taxi bestellen. Dann verlässt sie das Gebäude mit leicht humpelndem Gang. Sie ahnt, wenn sie morgen fit sein will, braucht der Knöchel dringend Schonung.

Liebe in Zartbitter
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