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Als das Telefon am frühen Morgen läutet, greift Christian Tulip ein wenig unwillig nach dem Hörer. Er hat die Information des anderen bereits am gestrigen Abend erwartet. Doch dann ist er ganz Ohr.

„Sie wohnt im ‚Hotel Le Dom‘, Zimmer 313!“

Jean-Paul Dumont ist zwar etwas verwundert gewesen, dass eine Mitarbeiterin aus dem Bundesministerium mit einem simplen Einzelzimmer vorliebgenommen haben soll, doch liegt kein Grund vor, die Bestätigung des Pagen, der ein ordentliches Trinkgeld dafür bekommen hat, anzuzweifeln.

Der mürrische Ton seines Gesprächspartners mildert sich sofort, als er eine Beschreibung der Dame liefert. Ja, so hätten auch die Informationen aus Deutschland gelautet, bestätigt der.

„Übernimmst du die Person, dann kümmere ich mich, wenn es nötig wird, um das Zimmer?“

Es ist als Frage gestellt, aber eindeutig als Anordnung gemeint. Obwohl der andere es nicht sehen kann, nickt Jean-Paul.  Es wäre zu auffällig, wenn er erneut im Hotel aufkreuzen würde.

„Bien, ich beobachte den Eingang und mein Handlanger heftet sich auf mein Zeichen an ihre Fersen, wenn sie das Hotel verlässt. Sollte sie die Papiere nicht bei sich haben, informiert er mich, dann trittst du in Aktion.“

Nach wenigen Minuten sind sie sich einig.

Knurrend hievt sich Christian aus dem Bett. Zwar ist noch Zeit, aber er will vorbereitet sein, wenn der Kollege sich meldet. Er ist ganz froh, dass der sich um die Dame kümmern wird. Für so ein Vorhaben fühlt er sich nicht abgebrüht genug. Ein Zimmer zu durchwühlen ist zwar auch nicht gerade gentlemenlike, aber ein bisschen spionieren gehört von jeher zum Diplomatenleben dazu, sagt er sich selbstgefällig.  

 

Als die Referentin das Hotel verlässt, fühlt sie sich rund herum wohl. Nach einem ausgiebigen Bad und einem frugalen Frühstück, das sie sich in ihre Suite hat kommen lassen, ist es der Blick in den Spiegel gewesen, der die junge Frau noch immer strahlen lässt. Mit der neuen Kurzhaarfrisur in den Trendfarben Kupfergold und Vanille fühlt sie sich jünger aussehend, und das dunkelgraue Designer-Kostüm schmeichelt ihrer schlanken Gestalt. Statt der geschätzten Stilettos trägt sie ein Paar Pumps mit kleinem Absatz, denn sie hat beschlossen, kein Taxi zu nehmen, sondern durch das historische Stadtzentrum bis zum Parlamentsgebäude zu laufen.

Mit einem Blick zum Himmel vergewissert sie sich, dass ein Schirm unnötig ist. Die Sonne blinzelt bereits durch eine Schar sich auflösender Wolken. Es wird ein schöner Tag werden.

Im Gedränge der morgendlichen Rushhour in der belgischen Hauptstadt kommt die junge Deutsche nur langsam voran. Das Pflaster der Straßen und Gassen ist unsagbar schlecht, und nachdem sie über eine beschädigte Bodenplatte gestolpert ist, achtet sie sorgsam darauf, wohin sie ihren Fuß setzt. An die verlockend gestalteten Schaufenster der Boutiquen, an denen sie vorübergeht, verschwendet sie keinen Blick. Die sind im Übrigen noch geschlossen, ebenso wie die zahlreichen Straßencafés in den Seitenstraßen, die alle zum Grand Place führen.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – diesen Wahlspruch ihres Verlobten hat sie sich längst zu Eigen gemacht.

Der Angriff erfolgt unerwartet. Sie bekommt einen Stoß in den Rücken und spürt eine Hand auf ihrem Oberarm, die versucht, ihr die Träger der Tasche von der Schulter zu zerren. Instinktiv presst sie den Ellenbogen an den Körper. Bei dem Gerangel um die Tasche wird sie erneut gestoßen. Sie knickt mit dem linken Knöchel um, doch während sie stürzt, krallt sich ihre Hand fest in ihr Eigentum.

In Sekundenschnelle ist der Spuk vorbei, der Angreifer in der Menge untergetaucht. Einige Passanten, die gar nicht mitbekommen haben, dass sie Zeugen eines versuchten Raubes  geworden sind, helfen der Gestürzten auf die Beine, jemand schiebt ihr einen der hochgestellten Bistrostühle zu, auf den sie sich fallen lässt.

Zu ihren Füßen liegt ein Messerchen mit scharfer Klinge. Eine ältere Frau bückt sich danach. Es sei eine Schande, erregt sie sich, dass so ein Überfall am helllichten Tag mitten in der City erfolgen könne. Und von der Polizei sei weit und breit nichts zu sehen.

Unaufhörlich redet sie auf die Deutsche ein.

Als die erfährt, dass es bei den Kriminellen Gang und Gäbe sei, mit so einem Werkzeug unbemerkt Träger abzuschneiden oder die Taschen selbst aufzuschlitzen, um an die Portemonnaies der Opfer zu gelangen, wird sie blass.

Nicht auszudenken, wenn der Räuber in seinem Frust über ihre Gegenwehr damit zugestoßen hätte. Einen Moment denkt sie daran, die Polizei zu informieren. Die Einheimischen raten ab. Das wäre reine Zeitverschwendung. Der Täter sei ohne Beute unerkannt geflüchtet, niemand habe etwas gesehen. Alles was sie erwarte, sei ein stundenlanger Aufenthalt auf dem Revier.

Die Referentin bedankt sich bei den Umstehenden für die Hilfe. Sie klopft sich den Straßenstaub vom Kostüm und steht auf, um ihren Weg fortzusetzen. Doch schon beim ersten Schritt verzieht sie vor Schmerz das Gesicht und sinkt kraftlos auf den Holzstuhl zurück.

Die Ursache ist schnell gefunden: Der lädierte Knöchel, inzwischen blau verfärbt, beginnt anzuschwellen. Damit kann sie keinen einzigen Schritt mehr tun. Das hat ihr gerade noch gefehlt.

Während sie hilflos in die Runde schaut, hat ein junger Mann kurz entschlossen ein Taxi gestoppt. Sie ignoriert seinen verliebten Blick, als er ihr beim Einsteigen behilflich ist, und nennt dem Taxifahrer die Adresse ihres Hotels.

Um alles, was für die ärztliche Behandlung notwendig ist, soll sich Carlo kümmern. Sie will jetzt nur eines: ohne weiteres Aufsehen zurück in ihre Suite, um den Schrecken über das unangenehme Erlebnis zu überwinden.

Liebe in Zartbitter
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