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Auf die Minute pünktlich betrat Callie das Hotel, zog ihren Mantel aus und faltete ihn so, dass statt des Pelzes das Satinfutter zu sehen war. Dann suchte sie die Fahrstühle, fuhr in die angegebene Etage, gelangte in einen breiten eleganten Flur und ging einer Reihe blank polierter Messingschilder nach.
Eine blonde Frau in einem schicken roten Kostüm und passendem Mantel kam ihr entgegen und hüllte sie in eine teure Duftwolke. Das kurz geschnittene Haar betonte ihre fein gemeißelten Wangenknochen und die schräg geschnittenen Augen, und ihr Schmuck sah auf dezente Weise teuer aus.
Lächelnd nickte sie ihr zu, und Callie ahmte das erhabene Aufwärts-Nicken nach und sagte sich, sie müsste sich die Geste merken, falls sie irgendwann einmal mit Mitgliedern der High Society zusammentraf.
Sie ging weiter bis zu einer breiten Flügeltür mit der Aufschrift »Greenough Suite« und wollte gerade klopfen, als in ihrem Rücken jemand fragte: »Wollen Sie zu Mr Walker?«
Überrascht drehte sich Callie nach dem Zimmermädchen um, das mit einem Stapel Handtücher den Flur herunterkam.
»Ja.«
»Er ist vor circa einer Stunde weggegangen. Wahrscheinlich ist er bald zurück, aber ich darf Sie trotzdem nicht einfach reinlassen.«
»Kein Problem. Ich warte einfach hier.«
Als das Zimmermädchen wieder ging, lehnte sich Callie an die Wand und drückte ihren Mantel an die Brust. Sie überlegte, was sie sagen sollte, wenn er käme, und dachte an die Frau, der sie im Flur begegnet war. Wie wurde Jack Walker wohl von jemandem wie ihr begrüßt?
Egal, was für Worte sie verwenden würde, sie wären auf jeden Fall perfekt. Genau wie ihre Kleidung und ihre Frisur.
»Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.«
Callie riss den Kopf herum und stieß ein leises Quietschen aus, das ihr entsetzlich peinlich war.
»Ich wollte mich nicht anschleichen.«
Sie öffnete den Mund, konnte aber keinen zusammenhängenden Gedanken fassen, als sie ihn in kurzer Jogginghose und verschwitztem T-Shirt vor sich stehen sah.
Am auffälligsten war allerdings seine fantastische Figur.
Mein Gott, ging es ihr durch den Kopf. Der Kerl ist wirklich durchtrainiert.
Seine Schultern waren breit, und seine Arme wiesen dicke Venen sowie noch dickere Muskeln auf. Unweigerlich ließ sie den Blick ein wenig tiefer wandern und bemerkte, dass sein Bauch so flach war wie die Wand, an der sie lehnte, und dass seine Schenkel wirkten wie aus Stahl. Er sah wie eine gut geölte Maschine aus, deren Belastungsprobe in den Straßen von New York hervorragend verlaufen war.
Um ihn nicht noch länger anzustarren, wandte sie sich eilig ab. »Soll ich vielleicht in einer halben Stunde wiederkommen?«
»Warum?« Er öffnete die Tür.
»Damit Sie sich, ähm, fertig machen können.«
»Keine Angst, ich seife mich kurz ein, und dann bin ich sofort wieder da.«
Die Vorstellung, dass er unter der Dusche stand, hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Also, kommen Sie mit rein, oder sollen wir unser Gespräch im Flur führen?«, wollte er von ihr wissen, als sie stehen blieb.
Entschlossen reckte sie das Kinn und ging an ihm vorbei.
Blieb jedoch sofort wieder stehen.
Angesichts der unzähligen creme- und goldfarben gehaltenen Räume mit den dunklen Mahagonimöbeln und den dicken Vorhängen aus kostbarem Brokat fühlte sie sich wie in einem Palast. Sie sah ein Esszimmer, ein Wohnzimmer und eine Bar, und in einer Ecke waren noch zwei Türen, durch die man offenbar die Schlafzimmer betrat.
»Ich habe Frühstück für uns bestellt«, erklärte er und schlenderte über den Orientteppich, der ausgezeichnet zu den hellen Wänden und den dunklen Möbeln passte, Richtung Bad. »Machen Sie also bitte auf, wenn der Zimmerservice kommt?«
Sie nickte, legte ihren Mantel über einen Stuhl, und nachdem er im Bad verschwunden war, fing sie an, sich gründlich umzusehen. Schließlich war die Chance gering, dass sie jemals wieder die Gelegenheit zum Studium einer solchen Suite bekam.
Ihr Blick fiel auf einen bunten Gegenstand. Auf der schimmernden Oberfläche eines Beistelltischchens lagen ein Frauenschal und ein Paar schwerer goldener Ohrringe. Callie machte einen Schritt auf das Kleinmöbel zu, um sich die Dinge aus der Nähe anzusehen. Sie waren wunderschön, eindeutig furchtbar teuer, und es fiel ihr leicht, sich vorzustellen, was für eine Art von Frau derartiges Geschmeide trug.
Wer auch immer solchen Schmuck besaß, hatte in der Tasche seines Mantels ganz bestimmt kein Loch wie sie.
Gehörten diese Ohrringe wohl seiner Freundin?
Oder hatte er möglicherweise eine Ehefrau? Nein, bisher hatten die Zeitungen nie eine Ehefrau erwähnt.
Wieder dachte sie daran zurück, wie er ihr am Vorabend das Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte. Und bei der Erinnerung an das, was sie dabei empfunden hatte, hielt sie die Geschichten von den unzähligen Frauen, mit denen er bereits im Bett gewesen war, durchaus für glaubwürdig.
In dem Moment, in dem er sich nach vorne gebeugt hatte, während sein Blick auf ihren Mund gelenkt gewesen und von seinem Körper trotz der dicken Kleider eine regelrechte Hitzewoge ausgegangen war, hatte sie kein Interesse mehr daran gehabt, ihm den Rücken zuzukehren. Viel lieber hätte sie die Arme ausgestreckt und ihn umarmt.
Was nur bewies, dass seine Attraktivität gefährlich war und sie verrückt sein musste, weil sie überhaupt hierhergekommen war.
Als es leise klingelte, ging sie zur Tür, ließ den Kellner mit dem Frühstück ein, trat einen Schritt zur Seite und sah ihm beim Decken des Esstischs zu. Silber, Kristall, Porzellanteller und schweres Leinen wurden sorgsam arrangiert, und nach weniger als zehn Minuten wandte sich der Mann – zum Glück, ohne ein Trinkgeld zu erwarten – wieder zum Gehen.
Dankbar für die Ablenkung setzte sich Callie an den Tisch, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und hob sie in dem Augenblick an ihren Mund, in dem Walker aus dem Badezimmer kam.
»Gut. Ich habe nämlich einen Bärenhunger«, meinte er, als er das Frühstück sah.
Sie zuckte leicht zusammen, verschüttete etwas Kaffee auf ihrem Teller und fragte sich leise fluchend, ob es besser wäre, die hässliche braune Pfütze mit ihrer Serviette aufzuwischen oder einfach alles so zu lassen, wie es war.
Er nahm ihr gegenüber Platz und fragte sie mit seiner dunklen Stimme: »Mache ich Sie so nervös?«
Sie hob den Kopf, wich seinem Blick aber entschlossen aus. Sein Haar war feucht, im offenen Ausschnitt seines frisch gestärkten weißen Hemds sah sie ein Stück von seinem Hals, und wie bereits am Vorabend roch er dezent nach einem teuren Aftershave.
Ja, natürlich, dachte sie, schüttelte aber leicht den Kopf.
»Nein«, log sie. »Enttäuscht Sie das?«
»Weshalb sollte ich mich freuen, wenn Sie sich in meiner Nähe unbehaglich fühlen würden?«
Lächelnd schenkte er sich Kaffee ein, hielt ihr den Brotkorb hin und fragte, als sie zögerte: »Keinen Appetit?«
Also schnappte sie sich ein Rosinenbrötchen, ehe sie erkannte, worauf ihre Wahl gefallen war. Sie hatte Rosinen immer schon gehasst, würde das Ding aber ganz sicher nicht zurücklegen. Oh nein, auf keinen Fall.
Er selber nahm sich einen Muffin und griff nach der Silberschale mit dem frischen Obstsalat. »Ich bin froh, dass Sie für mich arbeiten werden.«
»Ich freue mich darauf«, stimmte sie ihm hinter ihrer Kaffeetasse zu.
»Wirklich?«, fragte er gedehnt und schob sich den ersten Löffel Früchte in den Mund. »Sie scheinen noch nicht ganz überzeugt zu sein.«
»Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Weil Sie mir nicht in die Augen schauen.«
Callie runzelte die Stirn, zwang sich, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, und nahm zum ersten Mal die grünen und gelben Sprenkel in den braunen Tiefen seiner Augen wahr.
»Na also. So schlimm ist es gar nicht, oder?«
»Mr Walker …«
»Jack.«
»Jack«, wiederholte sie. »Warum reden wir nicht einfach über meinen Job?«
»Wir sollen uns also nicht erst ein bisschen besser kennenlernen?«, fragte er zurück.
»Das ist nicht der Grund meines Besuchs.«
Er zuckte mit den Schultern und spießte genüsslich eine Erdbeere auf seiner Gabel auf. »Werden Sie ein bisschen lockerer, und genießen Sie den Moment. Vielleicht würden Sie mich ja sogar etwas mögen, wenn Sie wüssten, wie ich bin.«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Sie schüttelte erneut den Kopf und fragte sich, ob sie wohl jemals lernen würde nachzudenken, ehe sie mit diesem Typen sprach. »Hören Sie, ich …«
»Das trifft mich tief, Ms Burke. Oder darf ich Sie Callie nennen?«, fragte er.
Sie rollte mit den Augen. Er wirkte nicht im Mindesten getroffen, sondern durch und durch zufrieden, als er sich die Gabel mit der Erdbeere zwischen die Zähne schob.
Wenn dieser Kerl sensibel ist, bin ich die Zahnfee, dachte sie erbost.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten«, versuchte sie es noch einmal. »Mich interessiert tatsächlich nur das Bild.«
»Tja, aber vielleicht möchte ich Sie ja etwas besser kennenlernen«, gab er ungerührt zurück.
»Über meine beruflichen Qualifikationen wissen Sie bereits Bescheid. Was könnte sonst noch von Interesse für Sie sein?«
Er sah sie reglos an. »Sprechen Sie nicht gerne über sich?«
»Zumindest nicht mit Ihnen, nein.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Weil ich das Gefühl habe, dass alles, was ich sage, gegen mich verwendet werden könnte.«
Er brach in lautes Lachen aus. »Ich bin nicht von der Polizei, und Sie sind keine Kriminelle. Zumindest nicht, soweit ich weiß.«
Abermals verzog er das Gesicht zu einem breiten Lächeln, woraufhin sie ihr Rosinenbrötchen umständlich mit Frischkäse bestrich. »Also zu dem Bild …«
»Sie sind wirklich fest entschlossen, keinen Spaß an dem Frühstück mit mir zu haben, stimmt’s?«, fragte er lakonisch.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas gibt, woran ich mit Ihnen zusammen Spaß…« Als sie seinen kühlen Blick bemerkte, brach sie ab, fuchtelte mit der Hand, als ob sie die Worte dadurch auslöschen könnte, und murmelte verlegen: »Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.«
Er sah sie nachdenklich an. »Sie sind sehr ehrlich. Und Sie lassen sich auch nicht einfach rumkommandieren, nicht wahr?«
Um ein Haar wäre Callie die Kinnlade heruntergeklappt. Zum einen, weil ihm ihre Offenheit anscheinend gefiel, und zum anderen, weil er total danebenlag.
Er hatte ja keine Ahnung, dachte sie, und legte ihr Messer wieder weg. Sie hatte über Jahre die emotionalen Dramen ihrer Mutter über sich ergehen und sich zu einer verschämten Randnotiz im Leben ihres Vaters degradieren lassen, ohne ihm je zu verstehen zu geben, wie verletzend sein Verhalten für sie war, und auch Stanley Tag für Tag ertragen, ohne ihm jemals zu sagen, was sie von seinen Launen hielt.
Doch das brauchte Jack Walker nicht zu wissen, überlegte sie. Denn dass er sie für wehrhaft hielt, war durchaus nett.
»Warum ist es Ihnen so wichtig, dass ich für Sie arbeite?«, wollte sie plötzlich von ihm wissen und sah seine goldenen Manschettenknöpfe blitzen, als er nach seiner Kaffeetasse griff.
»Wir alle brauchen einen Start im Leben«, meinte er. »Sie haben hart gearbeitet und eine Chance verdient, sich einen Namen zu machen. Sie haben einigen der besten Leute Ihrer Branche assistiert, aber jetzt brauchen Sie was, das Sie bekannt macht. Etwas Eigenes.«
Das war ein kluger Ratschlag, und vor allem war es wirklich großzügig von ihm, dass er ihr diese Chance bot. Trotzdem waren sie Fremde, und er schuldete ihr nichts, weshalb diese Erklärung vollkommener Schwachsinn war. Vielleicht hatte ja Grace etwas zu ihm gesagt? Vielleicht erwies er ihr ja einfach einen Freundschaftsdienst?
»Was hat Grace Ihnen über mich erzählt?«
Er sah sie reglos an. »Dass Sie eine Freundin sind. Dass Sie Talent haben und dass es ihr wichtig ist, dass Sie bei diesem Projekt eine Chance bekommen. Warum fragen Sie?«
»Nur so.« Sie überlegte, was sie davon hielt, dass Grace die Hand im Spiel gehabt hatte bei diesem Angebot. Sie war ihr dankbar für die Unterstützung, hätte es aber natürlich noch lieber gesehen, hätte er ihr diesen Auftrag einzig ihrer Fähigkeiten wegen erteilt. Aber vielleicht hatte er das ja auch. Denn Jack Walker kam ihr nicht wie jemand vor, der einzig aus Sentimentalität heraus Aufträge vergab.
Doch jetzt war ihr zumindest klar, weshalb der Mann nicht lockerließ.
»Ist das ein Problem für Sie?«, wollte er von ihr wissen, als sie weiterschwieg.
»Ich will nur nicht, dass mich jemand aus Mitleid engagiert«, platzte es aus ihr heraus.
Er runzelte die Stirn, stellte dann aber lachend klar: »Dann wird es Sie freuen zu hören, dass ich für meinen Mangel an Menschenfreundlichkeit geradezu berüchtigt bin. Sie haben hervorragende Referenzen und werden sich jeden Cent erarbeiten. Mein Geld ist mir nämlich viel zu wichtig, um es einfach zu verschleudern.« Er wies auf ihren Hosenanzug und fügte hinzu: »Außerdem, wenn Sie es sich leisten können, in Chanel herumzulaufen, nagen Sie offenkundig nicht gerade am Hungertuch. Obwohl ich sagen muss, es überrascht mich, dass Ihr Atelier in einem derart heruntergekommenen Gebäude liegt.«
»Mein Atelier?«
Er runzelte erneut die Stirn. »In Chelsea.«
Beinahe hätte Callie laut gelacht. Er bildete sich ein, dort, wo sie lebte, befände sich ihr Arbeitsplatz? Nun, das war durchaus vorstellbar. Weil es schließlich in der Gegend jede Menge Künstlerstudios gab.
Sie wollte ihn gerade über seinen Irrtum aufklären, hielt dann aber den Mund. Schließlich gab es keinen Grund, diesem Mann ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und wenn er dachte, sie hätte Geld, käme er zumindest nicht auf die Idee, dass sie abhängig von seiner großzügigen Unterstützung war.
Als sie noch immer nichts sagte, seufzte er frustriert. »Also gut, beenden wir die Plauderei. Wann können Sie anfangen?«
»Wann Sie wollen.«
»Können Sie übermorgen in Boston sein?«
»In Boston?« Callie wurde starr vor Schreck.
»Das Gemälde wird Donnerstag bei mir zuhause angeliefert.«
»Oh, ich hatte gedacht, es bliebe in New York.«
»Ich lebe aber in Boston.«
»Trotzdem könnten Sie das Bild doch hierlassen«, erklärte sie in hoffnungsvollem Ton.
»Das habe ich nicht vor.«
Ihm war deutlich anzusehen, dass die Sache längst entschieden war.
»Das ändert natürlich alles.«
»Warum?«
»All meine Kontakte, mein, ähm, Arbeitsplatz und meine Werkzeuge sind hier.«
»Das dürfte kein Problem werden«, erwiderte er ruhig.
Für ihn wahrscheinlich nicht, dachte sie erbost.
»Ich werde mich um alles kümmern«, fuhr er fort. »Ich hätte es gern, dass Sie in Buona Fortuna wohnen und arbeiten.«
»Wo?«
»In meinem Haus. Buona Fortuna ist Italienisch und bedeutet Glück. Meine Ururgroßmutter hatte eine Vorliebe für die Renaissance.« Er nahm sich ein Croissant. »Ich werde Ihnen ein Atelier einrichten, Ihnen alles besorgen, was Sie für die Arbeit brauchen, und dann können Sie alles genau so einrichten, wie Sie es haben wollen«, bot er ihr großzügig an.
Sie stellte sich vor, dass sie unter demselben Dach schliefe wie er, und dabei wurde ihr so heiß, dass sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre, statt bei diesem Menschen einzuziehen.
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Es könnte mindestens sechs Wochen dauern. Das ist eine ziemlich lange Zeit, um einen Menschen bei sich zu beherbergen.«
»Stimmt. Aber es ist ein großes Haus.«
Nun, das verdammte Ding könnte so groß sein wie ein Football-Feld und wäre noch immer zu klein.
»Ich weiß nicht.«
»Ich werde Ihnen meine Gastfreundschaft nicht in Rechnung stellen«, klärte er sie mit missbilligender Stimme auf. »Die Bezahlung bleibt dieselbe, falls es Ihnen darum geht.«
Und dann nannte er einen Betrag, bei dem sie fast von ihrem Stuhl gefallen wäre.
Denn mit dieser Summe wäre sie im Handumdrehen einen Großteil ihrer Sorgen los. Sie bräuchte sich nicht mehr zu überlegen, wie sie ihre Miete zahlen sollte, und könnte eventuell sogar etwas zur Seite legen, um nach Ende des Projekts die neuerliche Jobsuche in aller Ruhe anzugehen.
Sie bemühte sich um einen möglichst ruhigen Ton. »Das ist sehr großzügig.«
»Das ist der gängige Satz in Ihrem Metier. Und dazu werde ich noch alles besorgen, was für die Arbeit an dem Gemälde erforderlich ist.«
Trotzdem zögerte sie noch immer, denn es fiel ihr einfach schwer, sich vorzustellen, diese Arbeit in einem Privathaus durchzuführen. Es wäre nicht unmöglich, aber dadurch würden die Dinge auf jeden Fall verkompliziert.
»Warum ist es Ihnen so wichtig, dass ich bei Ihnen zuhause arbeite?«
»Kein Museum soll den falschen Eindruck bekommen, dass dieses Porträt je wieder woanders hängen wird als bei mir daheim. Ich habe mir schon ein paarmal die Finger verbrannt in dem Bemühen, Stücke nach der Konservierung zurückzubekommen, obwohl die Konservierung auf meine Kosten ging. Es gibt Restauratoren und Museen, die einen persönlichen Bezug zu den Werken entwickeln, auch deshalb habe ich Sie ausgewählt.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Sie sind an keine Institution gebunden, so dass es diesbezüglich keinerlei Probleme geben wird.«
»Aber ich werde Arbeitsmaterialien brauchen, die entweder entsetzlich teuer oder schwer erhältlich sind.«
»Das kriege ich problemlos hin.« Er schenkte sich frischen Kaffee ein, trank einen Schluck und sah sie dabei über den Rand der Tasse hinweg an.
Sie lenkte ihren Blick auf den Ring an seinem kleinen Finger, sah das darin eingravierte Wappen und dachte, dass für einen Mann mit derart prall gefüllten Taschen und so ausgezeichneten Beziehungen wahrscheinlich nichts unmöglich war.
Zumindest nichts, was sich mit Geld regeln ließ.
»Falls es irgendetwas gibt, was Sie wirklich nicht in meinem Haus tun können, bringen wir das Bild einfach ins MFA. Ich habe bereits mit dem Chefrestaurator dort gesprochen, und er hat mir seine Hilfe angeboten, obwohl ich ihm deutlich zu verstehen gegeben habe, dass der Auftrag an eine unabhängige Restauratorin geht.« Er wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie sehen, es ist bereits alles arrangiert. Sie brauchen also nur noch aufzutauchen, damit es losgehen kann.«
Callie schwankte noch immer, denn dieser Auftrag führte sie in eine Richtung, die ihr nicht wirklich geheuer war.
Dann warf Walker die Serviette auf den Tisch und stand entschlossen auf. »Ich habe in zehn Minuten den nächsten Termin. Mein Angebot ist äußerst großzügig, deshalb bin ich auch nicht bereit zu handeln. Also, kommen Sie nach Boston oder nicht?«
Sie sah seiner Miene an, dass er sie bei einem Nein völlig problemlos einfach hätte sitzen lassen, was aus ihrer Sicht ein durchaus gutes Zeichen war.
Sie atmete tief ein. »Wo soll ich Sie in Boston treffen?«
Er zeigte keine besondere Reaktion, sondern trat vor einen Schreibtisch, griff nach einem Blatt Papier und schrieb etwas mit einem goldenen Kugelschreiber auf. »Mein Haus ist in Wellesley. Wir leben in der Cliff Road. Hier sind die Adresse und die Telefonnummer. Ich werde versuchen, Dienstag um fünf da zu sein.«
Er drückte ihr den Zettel in die Hand, und sie kniff die Augen zu, weil seine geschwungene Schrift kaum lesbar war.
»Ist das da eine Neun?«, fragte sie ihn, überrascht, wie undeutlich er schrieb.
Er nickte lächelnd mit dem Kopf. »Ich hatte schon immer eine fürchterliche Klaue. Eins der vielen Dinge, die mein Vater an mir verabscheut hat. Ein Therapeut würde Ihnen wahrscheinlich sagen, dass meine Nachlässigkeit in diesen Dingen ein passiv-aggressiver Ausdruck meines Wunsches nach Unabhängigkeit von einem inzwischen toten Menschen ist. Aber ich weise diese Theorie zurück.«
Unweigerlich musste sie grinsen.
»Sie lächeln nicht sehr oft, nicht wahr?«, fragte er sie sanft.
Sie faltete ihre Serviette, erhob sich von ihrem Platz und räusperte sich. »Danke, dass Sie mir die Gelegenheit dazu gegeben haben.«
Er reichte ihr die Hand und wirkte grimmig amüsiert, als sie sie nicht ergriff. Dann tat sie es doch, aber als ihre Finger sich berührten, durchzuckte ein Gefühl der Hitze ihren Arm, und sie zog ihre Hand wieder zurück und streckte sie nach ihrem Mantel aus.
Stirnrunzelnd sah er auf das abgetragene Kleidungsstück.
»Kann ich Ihnen in den Mantel helfen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, hängte sich das Ding über den Arm und wandte sich zum Gehen.
»Callie?«
Sie sah über ihre Schulter, und als sie bemerkte, dass er seinen Blick von ihrem Haar an ihr herunterwandern ließ, hielt sie ihren Mantel so, dass er ihre Figur verbarg. Es kam ihr vor, als würde sie gründlich von ihm vermessen, und unweigerlich ging ihr die Frage durch den Kopf, ob sie seinen Ansprüchen genügte oder nicht.
Er sagte nichts, was sie nervös machte. »Auf Wiedersehen, Mr Walker.«
»Jack. Nennen Sie mich bitte Jack.«
Wortlos verließ sie seine Suite, doch als sie, am ganzen Körper zitternd und benommen, mit dem Fahrstuhl zurück in die Eingangshalle fuhr, ermahnte sie sich streng, dass sie schon ganz andere Dinge überlebt hatte als dieses tolle Angebot. Dass ihr neuer Boss mit seinen braunen Augen die Farbe an der Wand zum Schmelzen bringen könnte, hieß schließlich noch lange nicht, sie müsste ihm verfallen.
Sie musste einfach stark sein.
Und das hatte sie zum Glück ihr Leben lang trainiert.
Jack starrte auf die Tür.
Die Frau war wirklich attraktiv. Er hatte noch nie etwas von dem Klischee der rassigen Rothaarigen gehalten, doch Callie hatte wirklich Feuer. Es war einfach toll, wie sie sich gegen ihn behauptete und dass sie umso vehementer kämpfte, je unbehaglicher ihr war.
Ob sie gebunden war? Sie trug keinen Ehering, aber vielleicht hatte sie ja einen Freund.
Er runzelte die Stirn und sagte sich, dass es egal sein sollte, ob es einen Mann in ihrem Leben gab.
Dann klingelte sein Telefon, und er ging an den Apparat. Es war Grayson Bennett, sein Zimmergenosse vom College, der ihm gut gelaunt erklärte: »Ich habe sämtliche Termine in den nächsten beiden Monaten gestrichen, habe also Zeit, um zu sehen, wie groß die Chancen deiner Kandidatur in Boston sind.«
»Hervorragend. Was müssen wir als Erstes tun?«
»Als Erstes müssen wir dein Sondierungskomitee zusammenstellen. Zehn bis zwölf Personen aus verschiedenen Bereichen, die in aller Stille ergründen, wie die Lage ist. Wir müssen wissen, wer dich unterstützen und wer dir Schwierigkeiten machen wird, wie viel Geld wir zusammenkriegen können, wie du wahrgenommen wirst. Das sollte vier bis fünf Wochen dauern.«
»Wann kannst du rüberkommen?«
»Morgen Abend. Ich quartiere mich im Four Seasons ein.«
»Kommst du in weiblicher Begleitung?« Auf Graysons nachdrückliches Nein hin wollte er lachend wissen: »Dann gibt es also keine – wie hieß sie noch mal – Sarah mehr?«
»Sophia. Nein, die habe ich abserviert. Sie fing an, von Ringen zu sprechen, obwohl ich, wie du weißt, allergisch gegen Diamanten bin. Sie ist eine tolle Frau – nur eben nicht für mich.«
Nach Ende des Gesprächs ging Jack ins Schlafzimmer und zog sich fertig an. Über Jahre hatten Gray und er dieselbe Einstellung gehabt, nämlich dass die Ehe nur etwas für andere Leute war. Aber, verdammt, wenn er selber seine Meinung ändern konnte, könnte Gray das sicher ebenfalls.
Nur offenbar Sophia gegenüber nicht.
Die Standuhr in der Ecke schlug, und er beeilte sich.
In ein paar Minuten würde er zwei Brüder treffen, einen Arzt und einen Ingenieur. Bryan und Kevin McKay hatten einen neuen, schnelleren und saubereren Weg zur Verarbeitung von Blutprodukten wie Plasma und Blutplättchen entwickelt, hatten die entsprechenden Patente, so dass das geistige Eigentum an der Entwicklung sicher war, und waren dank einiger Verträge mit verschiedenen Krankenhäusern bereits recht gut im Geschäft. Bisher hatten sie eine kleine Firma an der Westküste, wollten aber expandieren und brauchten dafür Geld. Mit der richtigen Mischung aus Krediten und Eigenkapital und ein paar vernünftigen Wachstumsprognosen hätte dieses Unternehmen sicher echtes Potenzial.
Er freute sich auf den Termin, denn seiner Meinung nach war eine geschäftliche Besprechung der denkbar beste Zeitvertreib für einen Sonntagnachmittag. Eins der Dinge, die ihm am Risikokapitalgeschäft so gut gefielen, war, dass es dabei keine freien Tage gab. Es gab niemals echte Freizeit, keine ungenutzten Augenblicke, immer irgendwas zu tun. Auch an Sonn- und Feiertagen, Hochzeiten, Geburtstagen ging er begeistert seiner Arbeit nach.
Verdammt, sogar als sein Vater beerdigt worden war, hatte er den halben Tag mit den Finanzierungsplänen einer Hightech-Firma in Atlanta zugebracht. Wobei es ihm nicht einzig ums Geschäft gegangen war. Es war ihm einfach schwergefallen, einen Menschen zu beweinen, der immer missbilligt hatte, was er tat, weshalb er, statt den trauernden Sohn zu spielen, lieber seiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen war.
Und auch abgesehen von der negativen Dynamik in seiner Familie gab es mit jedem Sonnenaufgang Orte, an denen er sein, Dinge, die er erledigen, Leute, die er sprechen musste, damit sein Vermögen weiterwuchs. Es war wie die nie endende, frenetische Fahrt auf einer Achterbahn, doch nur inmitten dieses Chaos fühlte er sich wohl. Er wusste, die Tätigkeit als Gouverneur von Massachusetts wäre genauso kompliziert und anspruchsvoll. Und falls er es je ins Oval Office schaffen wollte, wäre der Einsatz astronomisch hoch.
Jack band sich eine Seidenkrawatte um und blickte in den Spiegel. Er konnte es kaum erwarten, dass die Zukunft endlich begann.