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Also bitte, Artie, mir fällt gleich der Arm ab.« Callie strich dem Hund über den Kopf. Er hechelte vor Anstrengung und stieß beim Atmen dicke Wolken weißen Dampfes aus. »Außerdem ist es inzwischen so dunkel, dass du den Stock gar nicht mehr finden kannst.«
Sie hörte einen Wagen, hob den Kopf und sah, dass Mrs Walker in einem der beiden Jaguare die Einfahrt hinunterfuhr. Sie hatte die Frau in den letzten beiden Tagen kaum gesehen und gehofft, das wäre der Anfang eines Trends.
Als sie zurück zum Haus ging, öffnete jemand die Tür. Jack stand im Flur, und das Licht der Deckenlampe fiel auf sein Gesicht. Er sah sie lächelnd an und trat, einen Drink in seiner Hand, höflich einen Schritt zur Seite, als sie ihm entgegenkam.
»Ich habe mit Gray gesprochen. Er meint, er könnte sich heute Abend frei machen, und ist in circa einer halben Stunde hier«, erklärte er und machte die Tür hinter ihr zu.
Aus irgendeinem Grund störte es sie, dass Jack es offenkundig nicht erwarten konnte, sie mit einem anderen Mann zusammen zu sehen.
Außerdem war sie total erschöpft von dem stundenlangen Blick durchs Mikroskop und hatte einfach keine Lust, einen seiner Freunde kennenzulernen. Und dann auch noch möglichst charmant zu sein. Es würde sie wahrscheinlich völlig überfordern, sich mit einem Mann zu unterhalten, während der Mann, der sie wirklich interessierte, direkt gegenübersaß.
Sie sagte sich, das hätte nichts damit zu tun, dass sie davon ausgegangen war, wie an den Abenden zuvor mit Jack allein zu sein. Er blieb immer ziemlich lange im Büro, und wenn er nach Hause kam, ging er zu ihr ins Atelier, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen war, und dann aßen sie gemeinsam in der Küche und tauschten sich über die Erlebnisse des Tages aus.
Erst gestern Abend hatte sie erklärt, er mache im Umgang mit der Mikrowelle langsam Fortschritte, und sein unverhohlener Stolz hatte sie amüsiert. Offenbar rührte sein Mangel an Kompetenz von fehlender Übung her. Er hatte ihr erzählt, er bliebe für gewöhnlich bis spätabends im Büro und äße dort etwas, jetzt aber hätte er endlich einen Grund, früher heimzugehen. Was für sie der Beweis dafür gewesen war, dass ihm ihr Zusammensein genauso gut gefiel wie ihr.
In den ruhigen Momenten, während sie zusammen gegessen hatten, hatte Callie das Gefühl gehabt, den Mann kennenzulernen, der er wirklich war, und die Seiten, die sie an ihm entdeckt hatte, hatten sie wirklich überrascht. Natürlich war er ein knallharter Geschäftsmann, dem allerdings das Wohl von anderen durchaus am Herzen lag. Bei der sechsjährigen Tochter eines Vorstandmitglieds seines Unternehmens hatten die Ärzte ein Neuroblastom diagnostiziert. Jack war außer sich vor Mitgefühl mit der Familie, und sie würde nie vergessen, wie sein Blick von Trauer erfüllt war, als er ihr beschrieben hatte, dass er völlig machtlos war. Kein Geld und keine Macht der Welt könnten das kleine Mädchen retten. Er hatte mit seinen Beziehungen dafür gesorgt, dass sie im Dana-Farber-Krebszentrum behandelt wurde und dort nur die allerbesten Onkologen und Kinderärzte nach ihr sahen. Aber trotzdem würde sie sterben.
Callie hätte schwören können, dass seine Augen feucht geworden waren, während er von dem Kind gesprochen hatte, und am liebsten hätte sie tröstend die Hand auf seinen Arm gelegt.
Und auch in seinen Hund war Jack vollkommen vernarrt. Gestern Abend hatte Artie leicht gehinkt, und Jack hatte sich in seinem guten Anzug auf den Flurboden gekniet und sich die Verletzung angesehen. Er hatte die Pfote des riesengroßen Tiers mit einer solchen Vorsicht untersucht, dass Artie sogar, als Jack einen Dorn herausgezogen hatte, völlig ruhig sitzen geblieben war. So groß war das Vertrauen, das er bei seinem Hund genoss. Und als alles vorbei gewesen war, hatte Jack Desinfektionsmittel auf die Pfote geträufelt, die Wunde mit einer Mullbinde umwickelt, Artie zum Trost etwas von seinem eigenen Filet Mignon spendiert, und vor lauter Dankbarkeit hatte das Tier die Nacht bei ihm verbracht.
»Hallo?«, fragte Jack sie jetzt.
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. He, was ist das für ein fantastischer Geruch?«
»Ich glaube, Thomas hat seine berühmten Nudeln mit Meeresfrüchtesauce gemacht.«
»Thomas?«
»Unser Koch.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie ihn etwa noch nicht kennengelernt?«
»Ich komme fast nie aus meinem Atelier.«
»Bleiben Sie etwa den ganzen Tag dort oben, bis ich nach Hause komme? Essen Sie tagsüber nichts?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich bei der Arbeit bin, vergesse ich einfach die Zeit.«
»Sehen Sie denn nie auf Ihre Uhr?«
»Dazu müsste ich erst mal eine haben.«
Knurrend nahm er ihren Ellbogen und schob sie durch den Flur. Die Berührung rief ein Gefühl der Hitze in ihr wach, und sie schloss kurz die Augen, während er sie weiter in die Küche zog.
»Ich glaube, Sie werden Thomas mögen.«
Sie hätte sich am liebsten an ihn angelehnt und kam zu dem Ergebnis, dass es vielleicht besser war, wenn noch jemand anderes zum Abendessen kam. Vielleicht würde sie den Mann ja wirklich mögen und dadurch von ihrer unseligen Schwärmerei für Jack erfolgreich abgelenkt.
Als sie in die Küche kam, stand dort ein einarmiger Mann und goss das kochende Nudelwasser ab. Sie selbst hätte den schweren Topf wahrscheinlich kaum mit beiden Händen halten können, der Mann aber wirkte noch nicht mal angestrengt, während er das Wasser und die Nudeln in das Sieb über der Spüle fließen ließ.
»Thomas, ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Der Koch sah über seine Schulter. Er musste um die sechzig sein, hatte, passend zu seinem gedrungenen Körper, das Gesicht von einer Bulldogge, trug einen goldenen Ring im Ohr, und unter dem Ärmel seines kurzärmligen Hemds lugte eine Tätowierung hervor. Callie hätte nie gedacht, dass ein derart unbehauener Bursche Herr über die Küche dieses Hauses war. Sie hätte angenommen, dass ein gertenschlanker arroganter europäischer Drei-Sterne-Koch eher Mrs Walkers Vorstellung entsprach.
Thomas jedoch sah sie mit einem derart breiten Grinsen an, dass er ihr sofort sympathisch war.
»Sie sind also die Person, die mir heimlich Sachen aus dem Kühlschrank klaut«, stellte er fröhlich fest. Er hatte einen ausgeprägten, von flachen Vokalen und harten, langgezogenen Konsonanten geprägten neuenglischen Akzent. »Jeden Morgen, wenn ich runterkomme, fehlen ein paar Stücke Obst aus meiner Schale, ein paar Scheiben Brot und mindestens ein Ei. Als hätte sich jemand heimlich Frühstück gemacht.«
Er stellte den inzwischen leeren Topf zur Seite und trat auf sie zu. Seine weißen Kleider waren makellos, nur das Geschirrtuch, das an seinem Gürtel hing, wies ein paar rote Flecken auf.
Als sie sich die Hand gaben, sah Callie einen tätowierten Anker auf der Innenseite seines Unterarms. Ein Seemann, dachte sie.
»Also, was gibt’s heute zu essen, Chef?« Jack nahm ein paar Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den niedrigen Eichentisch, der in der Fensternische stand.
»Nudeln mit meiner Meeresfrüchtesauce. Die ist an kalten Abenden wie diesem genau das Richtige, bevor es in die Falle geht.«
Jack schlug ihm auf die Schulter. »Gott segne dich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.«
»Wäre schön, wenn ich deine Mutter auch mal dazu kriegen könnte, dass sie mehr als einen Löffel isst.« Als Artie angetrottet kam und mit großen Augen zu ihm aufsah, stellte Thomas lachend fest: »Dafür frisst du für zwei, nicht wahr?«
Der Hund leckte sich die Lefzen und wedelte fröhlich mit dem Schwanz.
»Also, was hast du heute Abend vor?«, fragte Jack den Koch, während er ein paar Leinenservietten aus einer Schublade nahm.
»Ich habe ein Date mit der süßen Angelina.«
»Ist sie etwa noch immer aktuell?«
»Eine solche Frau weist man bestimmt nicht ab, mein Sohn. Sie ist …« Thomas machte eine Pause und sah Callie an. »… ähm, eine tolle Gesprächspartnerin.«
Als Callie grinste, nahm er seine Schürze ab und warf sie in den Wäschekorb, der in der Ecke stand. »Ich stelle mich noch schnell unter die Dusche, und dann haue ich ab. Wartet nicht auf mich.«
»Das würde uns nicht im Traum einfallen«, gab Jack zurück.
»Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Callie.«
Sie winkte ihm zum Abschied zu. »Die Freude war ganz meinerseits.«
Dann wurde mit einem Mal das Licht gedämpft, und sie hob überrascht den Kopf. Jack zündete ein paar Kerzen an, doch als er ihr Wein anbot, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie mit dem Alkohol am besten wartete, bis sein geheimnisvoller Freund erschien. Denn plötzlich drohte die intime Atmosphäre sie zu überwältigen, aber sie brauchte auch weiter einen klaren Kopf.
Hier ging es nicht um sie und Jack, rief sie sich in Erinnerung. Er hatte eine Verlobte, und sie wartete auf das Erscheinen seines Freundes. Es ging also ganz eindeutig nicht um sie und ihn.
»Sie werden Gray ganz sicher mögen«, meinte Jack, bevor er eine lange Liste positiver Eigenschaften seines Freundes sowie ein paar Anekdoten aus der Zeit am College folgen ließ, an denen nur die Hinweise auf ihn für Callie von Interesse waren.
»Und ich habe ihm auch über Sie bereits alles Mögliche erzählt.«
»Was haben Sie denn gesagt?«
»Sie wären unglaublich klug und …« Er räusperte sich. »… wunderschön.«
Vorsichtig hob sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Er starrte in sein Glas und schwenkte den Rotwein so darin herum, dass er das Licht der Kerzen fing.
»Also, wie kommen Sie und Nathaniel miteinander zurecht?«, wollte er plötzlich von ihr wissen.
»Hervorragend.« Bestimmt war es am besten, wenn sie über ihre Arbeit sprach. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich mit der Begutachtung fertig war, aber es ist einfach wichtig, während der Dokumentationsphase möglichst genau zu sein. Ich habe heute Fotos von ihm gemacht und fange morgen mit der Arbeit an der Leinwand an.«
Es folgte ein Augenblick der Stille, bevor sie ihn fragte: »Und wie war Ihr Tag?«
Lächelnd machte Jack seine Manschettenknöpfe auf, und sie hörte, wie einer von ihnen leise klirrend auf die Tischplatte fiel.
»Nicht ganz so gut.« Er löste auch den anderen Manschettenknopf, krempelte die Ärmel seines Hemdes auf, und Callie musste eilig in eine andere Richtung sehen, als sie die feinen dunklen Härchen auf seinen Unterarmen sah. »Die Blutsbrüder treiben mich auch weiter in den Wahnsinn, ich glaube, die Zinsen steigen, und meine Assistentin hat gekündigt, weil sie im Januar mit einem Studium beginnen will. Andererseits wurde einer meiner Hauptkonkurrenten wegen Betrugs verurteilt. Wie finden Sie das? Das Beste, was mir heute passiert ist, war, dass ich ein Bild von einem Kerl, den ich nicht mag, in Handschellen gesehen habe. Oh, eine positive Nachricht gab es noch. Mein Bruder kommt bald zu Besuch.«
Sie spielte mit ihrem silbernen Besteck. »Wirklich? Erzählen Sie mir etwas von ihm.«
»Wir sind Zwillinge.« Als sie aufsah, lachte er. »Das habe ich nicht gemeint. Ich meine, wir sehen uns nicht im Geringsten ähnlich, auch wenn das sicher seltsam ist. Wie ich bereits erzählt habe, ist er ein super Koch. Thomas hat ihm die Grundlagen beigebracht, und nach seinem Abschluss in Harvard war er noch am CIA.«
»Beim CIA? Dann war er also auch Spion?«
»Am CIA, dem Culinary Institute of America.«
»Ah.« Sie lächelte. »Sie beide stehen sich bestimmt sehr nahe. Zumindest habe ich gehört, dass das bei Zwillingen so ist.«
»Das tun wir tatsächlich, obwohl wir vollkommen verschieden sind.« Seine Stimme bekam einen harten Klang. »Wobei unser Vater keinen von uns beiden mochte, was immerhin eine Gemeinsamkeit zwischen uns ist.«
Callie runzelte die Stirn und versuchte, sich vorzustellen, wie ein Vater nicht stolz sein konnte auf alles, was Jack erreicht hatte. Zehn Milliarden Dollar waren schließlich jede Menge Geld. »Aber warum mochte er Sie nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich war zu aggressiv, und Nate war zu entspannt. Rückblickend betrachtet glaube ich, dass mein Vater sein Leben lang besser mit Frauen ausgekommen ist. Wahrscheinlich hätten es Töchter leichter mit ihm gehabt.«
In diesem Augenblick klingelte das an der Wand hängende Telefon. Jack griff nach dem Apparat und legte einen Moment später grimmig wieder auf.
»Gray kann doch nicht kommen. Er meint, ich sollte Ihnen ausrichten, es täte ihm leid, aber er würde hoffen, dass es an einem der nächsten Tage klappt.«
»Oh.«
Er sah noch immer ein wenig böse aus, stand dann aber auf und trat vor den Herd, wo er Nudeln und Sauce in zwei tiefe Teller gab. Dann kam er mit den Tellern wieder an den Tisch, nahm erneut Platz, und sie dachte, es wäre alles zu schön, um wahr zu sein. Die Teller mit dem dampfenden Essen. Das weiche Kerzenlicht.
Der Mann, der ihr gegenübersaß.
»Wein?«, bot er ihr höflich an.
Jetzt könnte sie auf alle Fälle einen Schluck vertragen. »Ja, bitte«, antwortete sie. »Aber lieber weißen, wenn Sie nichts dagegen haben. Mein Kopf mag Rotwein leider nicht.«
Er trat vor einen Weinkühlschrank, zog eine Flasche daraus hervor und entkorkte sie am Tisch. Ihr Blick ruhte dabei auf seinen Händen, zog die dicken Venen, die von seinen Armen bis zu seinen Fingern liefen, nach, und sie dachte daran, wie er ausgesehen hatte, als er von seiner morgendlichen Laufrunde gekommen war. Nassgeschwitzt und herrlich muskulös.
»Finden Sie es hier drinnen auch so warm?«, fragte sie ihn.
»Soll ich ein Fenster aufmachen?«
Sie schüttelte den Kopf, und er schenkte ihr ein, setzte sich wieder hin und prostete ihr zu.
»Auf Nathaniel.«
»Auf Nathaniel.« Sie stießen miteinander an, sahen einander in die Augen, und sie hatte das Gefühl, dass sich diese Szene völlig von ihrer gewöhnlichen Routine unterschied.
Eilig hob sie ihr Glas an ihren Mund. »Gütiger Himmel. Was ist das für ein Wein?«
Er sagte etwas auf Französisch und fügte das Jahr hinzu, in dem sie volljährig geworden war.
»Er ist, ah – wirklich gut.« Einen derart hervorragenden Wein hatte ihr nie zuvor jemand serviert.
Und auch als sie die Nudeln kostete, stieß sie ein wonnevolles Stöhnen aus.
Jack sah auf. »So geht’s mir auch. Der Mann ist einfach ein Genie.«
»Wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Er ist schon seit den Siebzigern bei uns im Haus. Er könnte problemlos auch in einem Sterne-Restaurant sein Geld verdienen, aber er arbeitet lieber allein. Aber wie steht es mit Ihnen? Haben Sie Geschwister?«, lenkte er die Sprache abrupt auf sie.
Callie würgte an dem Mundvoll Nudeln, der mit einem Mal jeden Geschmack verloren hatte, und trank, um ein wenig Zeit zu schinden, einen zweiten Schluck von ihrem Wein.
»Eine Halbschwester«, erwiderte sie ruhig.
»Stehen Sie einander nahe?«
»Hm, das ist ein bisschen kompliziert. Aber ich habe sie sehr gern.«
Er nickte und ließ das Thema fallen, sprach dann allerdings etwas an, was ihr vollends den Appetit verdarb. »Und wie steht es mit Ihren Eltern? Wie sind die?« Er wickelte lässig ein paar Nudeln mit der Gabel auf, doch sie wusste ganz genau, er wartete gespannt darauf, dass sie ihm eine Antwort gab.
»Sie sind beide nicht mehr am Leben.«
Er ließ seine Gabel wieder sinken. »Das tut mir leid.«
Sie zuckte mit den Schultern. Im gedämpften Kerzenlicht verspürte sie den lächerlichen Wunsch, sich ihm anzuvertrauen. Ihm wenigstens von ihrer Mutter zu erzählen. Dann aber blickte sie auf den leeren Platz, der für seinen Freund gedacht gewesen war, und erinnerte sich daran, dass sie nur aus reinem Zufall abermals mit ihm allein zusammensaß. Und dass dies eindeutig kein magischer Beginn einer Beziehung zwischen ihnen war.
»Danke, aber ich komme auch alleine klar.«
»Und an wen wenden Sie sich, wenn Sie mal Hilfe brauchen?«, fragte er. »Wer ist dann für Sie da?«
Wieder trank sie einen Schluck von ihrem Wein. »Ich, ähm – ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll.«
»Versuchen Sie es doch einfach mit irgendeinem Namen«, schlug er ihr ein wenig spöttisch vor.
Lächelnd dachte sie, dass er, wenn er scherzte, beinahe unwiderstehlich war.
»Ich bemühe mich immer, möglichst autonom zu sein.«
Obwohl er die Stirn in Falten legte, legte er zugleich den Kopf ein wenig schräg und wollte von ihr wissen: »Und auf welchen Männertyp fahren Sie ab?«
Sie war ehrlich überrascht. »Auf welchen – meine Güte, keine Ahnung.«
»Also bitte, es muss doch irgendwelche Eigenschaften geben, die Ihnen besonders wichtig sind. Gutes Aussehen, Humor, eine dicke Brieftasche …«
»Eine dicke Brieftasche ganz sicher nicht.«
Lächelnd griff er nach seinem Glas. »Womit ich aus dem Rennen wäre.«
»Sie sind bereits deshalb aus dem Rennen, weil Sie eine Verlobte haben.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, hätte sie am liebsten laut geflucht. »Was ich damit sagen will …«
Jack trank eilig einen Schluck von seinem Wein. »Ich weiß, ich weiß.«
Es folgte ein Augenblick der Stille.
»Also zurück zu Ihnen und den Männern. Welcher Typ sagt Ihnen zu?«
Callie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich habe keinen bestimmten Typ.«
»Den hat doch jeder.«
»Und wie ist dann Ihrer?«, gab sie schnell zurück.
»Eins zu null für Sie. Wie wäre es allerdings damit, wenn Sie den Anfang machen?«
Sie lächelte einfach und schwieg, woraufhin er lachend feststellte: »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zwar austeilen, aber nicht einstecken können«, gab sich jedoch geschlagen, als sie einfach weiterschwieg.
»In Ordnung. Warum erzählen Sie mir nicht, was für ein Typ Frau mir Ihrer Meinung nach gefällt? Aber denken Sie dran, Nächstenliebe beginnt zuhause, und Sie leben momentan unter meinem Dach.«
Sie zögerte. »Sprechen wir von dem neuen, geläuterten, sozial verantwortlichen Jack Walker oder von dem Playboy, dessen Hosen dafür berüchtigt sind, dass sie ohne ihn in den Lobbys irgendwelcher Hotels herumlaufen?«
Er lachte. »Nehmen wir uns beiden zuliebe den neuen Jack, okay?«
»Okay.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und merkte überrascht, dass kein Tropfen mehr übrig blieb. »Ich bin sicher, Sie würden jemanden wollen, der denselben gesellschaftlichen Hintergrund und dieselben Wertvorstellungen hat wie Sie, eine Frau, die wunderschön und gesellschaftlich akzeptabel ist. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Ihnen ein Dummerchen gefallen würde, also müsste sie auch noch intelligent und möglichst gebildet sein. Und bestimmt wäre es einfacher für Sie, wenn auch Ihre Mutter mit der Wahl einverstanden wäre, aber eine zwingende Voraussetzung für Ihre Entscheidung wäre es wahrscheinlich nicht.«
Sie hatte das Gefühl, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, denn er zog überrascht die Augenbrauen hoch.
»Könnte ich noch etwas Wein haben?«, fragte sie schnell.
Jetzt huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Natürlich. Wenn Sie meine Frage beantworten.«
»Das habe ich doch gerade getan.«
Er lächelte erneut. »Ich würde noch immer gerne wissen, was für ein Typ Mann Ihnen gefällt.«
Tja, das würde eine kurze Unterhaltung, dachte sie.
Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und merkte, dass er bereit war, einfach schweigend abzuwarten, bis sie endlich sprach.
»Erst der Wein.« Sie schob ihr Glas über den Tisch, und er schenkte ihr nach und sah sie fragend an.
»Also?«
»Da gibt’s nichts zu erzählen«, räumte sie achselzuckend ein.
»Oder nichts, was Sie erzählen wollen.«
»Das Ergebnis ist dasselbe, oder nicht?«
»Sie sind immer so furchtbar ausweichend«, murmelte er. »Ihnen Informationen zu entlocken ist genauso mühsam, als ob man mit einem Schnürsenkel eine Eiche aus der Erde reißen will.«
Unweigerlich musste sie lächeln. »Ein interessanter Vergleich.«
»Die Gespräche mit Ihnen können unglaublich frustrierend sein.«
»Dann geben Sie doch einfach auf.«
Er schüttelte den Kopf, und der Blick aus seinen braunen Augen brannte sich unter seinen dichten Wimpern hervor in sie ein. »Tut mir leid, Callie. Aber ich gebe niemals auf.«
Abrupt schob sie ihr Weinglas fort und stand auf. »Wahrscheinlich wäre es für uns beide besser, wenn Sie es täten.«
Als sie an ihm vorbei den Raum verlassen wollte, packte er entschlossen ihre Hand. »Gehen Sie nicht.«
Ihr war klar, wenn sie ihm in die Augen sähe, wäre sie verloren, also starrte sie die flackernde Flamme einer der Kerzen an. Plötzlich kam ihr die Luft entsetzlich stickig vor, und sie atmete mühsam ein.
»Ich wünschte mir wirklich, Sie hätten mich nicht geküsst«, murmelte sie und hätte sich für diesen Satz am liebsten selber eine Ohrfeige verpasst.
»Sagen Sie«, bat er sie sanft, »hoffen Sie auf eine weitere Entschuldigung von mir? Oder kriegen Sie die Erinnerung an das Gefühl, das der Kuss in Ihnen hervorgerufen hat, nicht mehr aus dem Kopf?«
Seine Stimme schwebte durch das Kerzenlicht und hüllte sie wärmend in sich ein.
Sie versuchte, Luft zu holen, und ihr Herz konnte sich nicht entscheiden – sollte es lieber in dreifachem Tempo schlagen oder stellte es die Arbeit besser ein?
Er blickte reglos auf ihren Mund, und als sich seine Augen dabei verdunkelten, kam es ihr plötzlich vor, als wäre er im selben Zwiespalt wie sie selbst.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Hand zurückzuziehen. Als er sie nicht losließ, gab sie auf und wollte von ihm wissen: »Was machen wir hier eigentlich?«
»Verdammt, ich wünsche mir, ich wüsste es.«
Dann stand er plötzlich auf, zog sie an seine Brust, umfasste ihr Gesicht, neigte den Kopf, und sie machte die Augen zu und bot ihm, noch während sie sich sagte, dass sie eindeutig das Falsche tat, ihren Mund zu einem Kuss.
Er hatte bereits eine Frau. Eine Verlobte. Was sie tat, war grundverkehrt.
Trotzdem wogte, als der Kuss nicht kam, bittere Enttäuschung in ihr auf.
Vorsichtig schlug sie die Augen wieder auf. Sein Mund hing direkt über ihren Lippen, seine Augen brannten. Aber er blieb weiter, wo er war.
Jetzt ließ sie auch den letzten Rest an Vorsicht fahren, packte seine Schultern und zog ihn auf sich herab. Daraufhin verlor auch er den letzten Rest von Selbstbeherrschung, zog sie noch dichter an eine Brust, presste seine Lippen hart auf ihren Mund, schob die Zunge zwischen ihre Zähne und vergrub die Hände tief in ihrem Haar.
Seufzend schmiegte sie sich an ihn an und sog das Gefühl seines soliden, starken Körpers in sich auf.
»Gott steh mir bei.« Stöhnend zog er ihr Hemd aus ihrer Hose und glitt mit den Händen über ihre nackte Haut. »Du fühlst dich einfach fantastisch an.«
Er drückte sie rücklings gegen etwas Hartes, wahrscheinlich die Wand, strich mit seinen Händen über ihren Bauch und küsste ihren Hals. Ihre Körper zogen sich wie zwei Magnete an, und als sie seine Erregung spürte, wollte sie ihm nur noch näher sein. Alle Hüllen fallen lassen und spüren, was für ein Gefühl es war, wenn er mit ihr verschmolz. Sie hielt sich mit aller Kraft an seinen Schultern fest, als er seine Hände weiterwandern ließ. Dann spreizte er die Finger über ihren vollen Brüsten, berührte sie aber nicht.
Da ihr das noch immer nicht genügte, spannte sie sich vor Verlangen an.
Stöhnend unterbrach er ihren Kuss und legte keuchend seinen Kopf an ihrer Schulter ab. Das Geräusch hallte so laut in ihren Ohren wie das Rauschen ihres Bluts, und als er weiter um Beherrschung rang, hätte sie nicht sagen können, ob sie deshalb dankbar oder eher wütend auf ihn war.
»Es ist einfach nicht richtig«, stellte er mir rauer Stimme fest. »Wir sollten das nicht tun.«
Dann glitt sein Daumen über ihren Nippel. Es war eine hauchzarte Berührung, doch vor lauter Freude hätte sie am liebsten laut geschrien. Sie bog den Rücken durch, um ihm mehr Raum zu geben, und stieß dabei gegen seine Erektion.
Dann riss er sich jedoch plötzlich von ihr los und machte ein paar Schritte zurück. Sie starrte ihn entgeistert an, aber noch während sie sich fragte, was der Grund für das abrupte Ende der Liebkosung war, drang ein Gefühl der Scham durch den Nebel der Erregung, in dem sie gefangen war.
Als plötzlich seine Mutter in die Küche kam.
Callie rang um Fassung und versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, wie schmerzlich frustriert sie war. Sie kehrte zurück zu ihrem Stuhl und zog, dankbar, dass die andere Frau sie abermals nach Kräften ignorierte, verstohlen ihr Hemd über ihre Jeans.
Glücklicherweise hatte Jack die Schritte im Flur gehört. Während sie selbst vollkommen taub gewesen war.
»Na, wenn ihr’s hier nicht gemütlich habt«, stellte Mercedes trocken fest.
Callie war dankbar für das schummerige Licht, als sie nach ihrer Gabel griff und das inzwischen kalte Essen über den Teller schob. Ohne Zweifel war ihr überdeutlich anzusehen, was ihr Körper noch immer empfand, und das brauchte keine Mutter der Welt zu sehen.
Vor allem nicht die von Jack.
»Du bist aber ganz schön früh wieder zu Hause, Mutter«, begrüßte Jack sie mit ruhiger Stimme. Callie wagte einen Blick in seine Richtung, und seine Miene wirkte so gefasst, als ob nichts geschehen wäre. Was angesichts des rauen Krächzens seiner Stimme noch vor einem Augenblick das reinste Wunder war.
»Ich habe mich nicht gut gefühlt.«
Callie sah sie an. Sie sah vollkommen in Ordnung aus.
Für jemanden, der stinkwütend war, seinen Zorn aber geschickt verbarg.
Mercedes’ Augen sandten Botschaften in Richtung ihres Sohnes aus, und es war nicht zu übersehen, worum es bei diesen Signalen ging. Die intime Atmosphäre in der Küche sagte ihr genauso wenig zu wie, dass ihr Sohn mit einer anderen als seiner Verlobten gemütlich zu Abend aß. Wahrscheinlich wäre sie tot umgefallen, wenn sie fünf Minuten eher hereingekommen wäre.
Doch das wäre Callie sicher ebenfalls.
Verlegene Stille senkte sich über den Raum, als Mercedes ihren Sohn, der sich seelenruhig gegen die Arbeitsplatte lehnte, mit Blicken zu durchbohren schien.
So kämpfte also die Oberklasse, ging es Callie durch den Kopf. Statt zu schreien und zu fluchen, tauschten sie einfach eisige Blicke aus.
»Wolltest du etwas?«, fragte Jack Mercedes nonchalant.
Mit ruckartigen Bewegungen streifte sie die Handschuhe von ihren Fingern und stopfte sie in die Tasche ihres Nerzmantels. »Nein.«
»Dann gute Nacht.«
»Allerdings, gute Nacht«, schnauzte sie zurück, machte auf dem Absatz kehrt und ging.
Callie atmete tief ein und starrte Jacks halb vollen Teller, die tropfenden Kerzen, die achtlos auf den Tisch geworfenen Servietten an.
Es war so ein wunderbares Mahl gewesen. Oder hatte zumindest als ein wunderbares Mahl begonnen, dachte sie.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jack.
Sie nickte, obwohl nichts in Ordnung war. Nun, da sie wieder klarer denken konnte, musste sie sich fragen, was geschehen wäre, wäre seine Mutter nicht hereingeplatzt. Wären sie dann in irgendeinem Schlafzimmer gelandet? War sie wirklich derart verantwortungslos? Ihre Jungfräulichkeit an einen Typen zu verlieren, mit dem sie keine Beziehung hatte, der sie ganz bestimmt nicht liebte und mit dem sie keine Zukunft hatte, weil er der Verlobte einer anderen war?
Unglücklicherweise hätte sie es tatsächlich getan, musste sie sich eingestehen, als sie sich daran erinnerte, wie gerne sie in seinem Armen lag. Deshalb sollte sie seiner Mutter vielleicht dankbar dafür sein, dass sie eine derart aufdringliche Nervensäge war.
Jack räusperte sich leicht. »Mach dich auf eine weitere Entschuldigung gefasst.«
Callie blickte zu ihm auf. »Dieses Mal braucht dir nichts leidzutun. Weil schließlich ich die …«
Wahrscheinlich war Aggressorin das zutreffende Wort. Gott, sie wünschte sich, der Boden unter ihren Füßen täte sich auf.
Jack schüttelte den Kopf, kam zu ihr an den Tisch, und während eines Augenblickes dachte sie, er zöge sie erneut an seine Brust, aber er räumte nur seinen Teller fort.
Auf dem Weg zur Spüle machte er die Deckenlampe an, und Callie musste blinzeln, weil sie von der Helligkeit geblendet war. Vor der Spüle blieb er stehen und stellte seinen Teller derart krachend ab, dass sie erschreckt zusammenfuhr, als der Rest von seinen Nudeln durch die Küche flog.
»Verdammt, ich will dich … nicht auf diese Weise wollen. Weil das, was zwischen uns passiert, einfach … nicht richtig ist.«
»Das sehen ich genauso«, stimmte sie ihm leise zu. »Wir sollten, ah, lass es uns einfach vergessen, ja?«
Sein Gesichtsausdruck war grimmig, während er über seine Schulter sah. »Glaubst du wirklich, dass das möglich ist?«
»Haben wir denn eine andere Wahl?«
In der grauenhaften Stille, die der Frage folgte, räumte sie auch ihren noch beinahe vollen Teller ab, legte die Serviette auf die Arbeitsplatte und wandte sich zum Gehen.
»Gute Nacht.«
Er hielt sie nicht zurück. »Gute Nacht, Callie.«