13

Übellaunig ging Jack weiter in sein Arbeitszimmer, schenkte sich dort einen Bourbon ein und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

Na, das war ja wirklich hervorragend gelaufen. Callie war stinksauer, und er trank wieder mal allein.

Wenn er die Dinge weiter so vermasselte, wäre er sicher nicht mal mehr für den Job des Doughnut-Bäckers geeignet, ganz zu schweigen vom Amt des Gouverneurs.

Er drehte sich mit seinem Stuhl in Richtung Fenster, streckte seine Beine aus und blickte in den mondbeschienenen Garten. Die sanft im Wind wogenden Äste der uralten Bäume warfen bewegliche Schatten auf den Rasen, aber die friedliche Szenerie hellte seine Stimmung nicht im Geringsten auf.

Sie hatte recht. Er war eifersüchtig, ohne dazu befugt zu sein.

Noch schlimmer aber war, dass er ungeachtet seiner Beziehung zu Blair und trotz seines hanebüchenen Versuchs, willkürlich eine Barriere zwischen ihnen zu errichten, noch immer hinter Callie herjagte. Und dass er wahrscheinlich erst damit aufhören würde, wenn er sie bekam.

»Verflixt und zugenäht«, murmelte er, stellte sein Glas auf seinem Oberschenkel ab, ließ den Kopf nach hinten fallen und starrte die bemalte Decke an, bis die Ansammlung an Cherubinen und Wolken vor seinen Augen verschwamm.

Er hatte vorgehabt, nach New York zu fliegen, reinen Tisch mit Blair zu machen und sein ihr gegebenes Versprechen zu erneuern.

Aber nach dem heutigen Abend wusste er, dass das unmöglich war. Nicht nach der Art, wie das Essen mit Callie und Gray verlaufen war. Mit ansehen zu müssen, wie sie seinen Freund angelächelt hatte, war für ihn die reinste Höllenqual gewesen, und Jack hatte sich wiederholt zusammenreißen müssen, um nicht um ihre Gunst zu buhlen. Am liebsten hätte er den Freund bei jeder charmanten Bemerkung und jeder zuvorkommenden Geste einen Kopf kürzer gemacht.

Sie hatte völlig recht mit der Behauptung gehabt, dass er furchtbar besitzergreifend war.

Und er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Callie war nicht einfach irgendeine Frau, die er erobern wollte. Nein, es hatte ihn zum ersten Mal richtig erwischt. Er dachte die ganze Zeit an sie, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit Sex. Er erinnerte sich an irgendeinen Satz von ihr, der ihm als intelligent oder amüsant erschienen war, grübelte darüber nach und stellte sich vor, wie sie ausgesehen hatte, als der Satz gefallen war. Oder er hörte oder las etwas und hatte das Bedürfnis, es ihr zu erzählen, nur, um herauszufinden, was sie davon hielt. Oder er lächelte einfach aus dem Grund, dass er, obwohl er es eilig hatte, endlich heimzukommen und mit ihr zu Abend zu essen, in einem Stau gefangen war.

Aber am verräterischsten waren die Signale südlich seines Kopfs und nördlich seines Unterleibs. Immer, wenn er an sie dachte, verspürte er ein seltsames Ziehen in seiner Brust, und das hatte er nie zuvor erlebt. Deshalb hatte er den heimlichen Verdacht, aus irgendeinem Grund, auch emotional in diese Sache involviert zu sein.

Wobei das Wort ›verwickelt‹ sicher zutreffender war.

Er machte sich was vor, falls er allen Ernstes dachte, er könnte seine Empfindungen einfach mit reiner Willenskraft verdrängen und dann weitermachen wie zuvor. Vielleicht hätte er den Plan, Blair zu heiraten, noch immer realisieren können, hätte ihn irgendeine andere Frau kurzfristig abgelenkt. Nur war Callie keine bloße Ablenkung für ihn.

Weit davon entfernt.

Verdammt, für einen Mann mit seiner Vergangenheit war das, was momentan geschah, die reinste Offenbarung. Weil es ihm eindeutig bewies, dass sich selbst der hartgesottenste, zynischste Hurensohn …

Jack schüttelte den Kopf, unfähig zu glauben, dass ihm wirklich das Wort verlieben durch den Sinn gegangen war.

Er hob sein Glas an seinen Mund, rief in Blairs Suite im Cosgrove an, hinterließ auf ihrer Mailbox die Nachricht, dass er morgen in New York wäre und sie sofort sehen müsste, legte wieder auf und wählte die Nummer seines Freundes Gray.

Beim zweiten Klingeln kam sein alter Kumpel an den Apparat. »Habe ich doch gewusst, dass du anrufen würdest, Jack.«

»Woher?«

»Ich habe mir einfach gedacht, dass du Einzelheiten wissen wollen würdest. Ja, sie ist tatsächlich wunderschön. Ja, ich habe sie gebeten, noch mal mit mir auszugehen. Und ja, ich passe auf sie auf. Sonst noch was?«

Verflucht.

»Bist du sicher, dass sie dir gefällt?«

»Ah, ja. Was soll einem denn nicht an ihr gefallen?« Er machte eine Pause. »Hast du ein Problem damit? Ich dachte, es wäre deine Idee gewesen, uns einander vorzustellen.«

Ja, er hatte ein Problem damit, aber schließlich hatte ihm Callie bereits erklärt, dass sie die Absicht hatte, noch mal mit Gray auszugehen. Und mit welchem Recht wollte Jack ihr vorschreiben, mit wem sie sich treffen durfte oder nicht? Selbst wenn er seine Verlobung lösen würde, wüsste sie es sicher nicht zu schätzen, schreckte er ihre Verehrer ab.

»Nein, alles okay.« Er nahm den nächsten großen Schluck aus seinem Glas. »Hör zu, wie schlimm wäre es, wenn ich als Single kandidieren würde?«

Es folgte ein Augenblick der Stille, als wäre Gray von dieser Frage überrascht. »Ich glaube, das wäre kein allzu großes Problem. Natürlich wäre es ein Pluspunkt, wenn du eine Familie hättest, vor allem bei deiner wilden Vergangenheit. Die Wähler lieben Kandidaten mit Ehefrauen und Kindern, das vermittelt Ihnen das Gefühl von Stabilität. Außerdem wärst du mit einer Familie glaubhafter, wenn es um Themen wie Ausbildung und Gesundheitsvorsorge geht. Aber darüber brauchen wir uns ja keine Gedanken zu machen, denn schließlich hast du Blair.« Wieder legte Gray eine kurze Pause ein, bevor er wissen wollte: »Richtig?«

»Ich rufe dich morgen noch mal an.«

»Was ist los, Jack?«

»Wir sprechen uns morgen.« Damit drückte Jack den roten Knopf des Telefons.

Wenn er aus New York zurückkäme, würde er Callie seine Gefühle offenbaren. Ob sie ihm wohl eine Chance gäbe, wenn er ihr alles erklärte? Sicher war das nicht, weil schließlich seine Vergangenheit eine eindeutige Sprache sprach. Und nach seinem Benehmen heute Abend war er auch nicht sicher, ob sie überhaupt noch mit ihm sprach.

Außerdem hatte sie vor, mit Gray Bennett auszugehen.

Unbehaglich griff er erneut nach seinem Glas. Was hatte er ihr überhaupt zu bieten? All die anderen Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war, hatten sich mit Schmuck, Klamotten, Reisen, schicken Einladungen begnügt. All das konnte er problemlos bieten, nur waren Callie diese Dinge vollkommen egal.

Aber wenn er all den Schnickschnack wegließ, was bliebe ihr dann? Nur er allein. Ein vom Ehrgeiz getriebener Mann. Jemand, der sich in den vergangenen zehn Jahren rund um die Uhr abgerackert hatte und auch nicht so wirkte, als ob er die Absicht hätte, es in Zukunft etwas gemächlicher anzugehen. Ein Typ, der über fünfzehn Jahre lang ohne jede Rücksicht auf den Gefühlen seiner Gespielinnen herumgetrampelt war und jetzt auch noch drei Wochen nach seiner Verlobung seine vermeintliche zukünftige Ehefrau verstieß.

Na, wenn sie davon nicht beeindruckt war.

Er starrte reglos vor sich hin.

Es wäre durchaus möglich, dass ihm Callie nicht den Vorzug vor dem guten Gray oder jemand anderem gab, auch wenn sie von seinem Kuss anscheinend durchaus angetan gewesen war. Und wer sollte ihr das verdenken? Sicher reichten sein beruflicher Erfolg und seine Weltgewandtheit ihr nicht aus. Denn sie würde mehr von einem Mann erwarten als einen angesehenen Namen und eine dicke Brieftasche. Und, verdammt, sie hatte auch mehr verdient.

Der Zorn stieg wie eine dunkle Woge in ihm auf und hinterließ auf seiner Zunge einen bitteren Geschmack.

Er verstärkte den Griff um sein inzwischen leeres Glas, beäugte die Wand gegenüber seinem Schreibtisch, sprang von seinem Stuhl und schleuderte das Glas kraftvoll durch den Raum. Es zersprang mit einem lauten Klirren, und tausend kleine Scherben flogen durch die Luft.

Nur unwesentlich besänftigt ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen und raufte sich das Haar.

Früh am nächsten Morgen hockte Callie auf der Bank vor ihrem Fenster und betrachtete die Limousine, die am Fuß der Eingangstreppe hielt. Auf der anderen Seite des Flures wurde Jacks Zimmertür geöffnet, wieder zugemacht, jemand lief mit schweren Schritten auf die Treppe zu, und als gälte es, keine Sekunde zu verlieren, schoss die Limousine einen Moment später die Einfahrt hinab.

Callie machte die Augen zu und presste ihre Stirn gegen das Fensterglas.

Als kleines Mädchen hatte sie viel Zeit allein verbracht, weil sie ein Einzelkind mit einer seltsamen Familie gewesen war. Der Trend zum Alleinsein hatte sich auch während ihrer Schulzeit und des Studiums fortgesetzt, und nach der Aufregung um die Erkrankung und den Tod der Mutter hatte sie den Frieden und die Einfachheit des Alleinlebens geschätzt und sich langsam an ein Leben gewöhnt, das nicht mehr nur aus Leid bestand.

Aber selbst gewählte Einsamkeit war etwas anderes, als wenn einen jemand alleineließ.

Sie versuchte, sich Blairs Reaktion aufs Jacks Geständnis vorzustellen. Natürlich würde er erklären, der Kuss hätte ihm nichts bedeutet, wäre ein Fehler gewesen, und es käme nicht noch einmal vor. Wie sollte er es sonst erklären? Finge Blair bei dem Gespräch wohl an zu weinen, würfe sie ihn vielleicht sogar raus? Oder war sie ein genauso kalter Fisch wie die Frau, von der Jack großgezogen worden war?

Wie gern hätte sie Jack Vorhaltungen gemacht. Schließlich hatte er sie alle drei in diese unangenehme Situation gebracht. Aber schließlich hatte auch sie selbst eine aktive Rolle bei dieser Farce gespielt. Vorgestern Abend in der Küche hatte sie ihn erst dazu gebracht, sie abermals zu küssen, weshalb sie ganz bestimmt kein unschuldiges Opfer war. Sie hatte aktiv zu seinem neuerlichen Fehltritt beigetragen, und die Vorstellung, dass sie in die Beziehung zweier Menschen eingedrungen war, verursachte ihr Übelkeit. Der Spruch, dass zwischen zwei Menschen irgendwas nicht stimmen konnte, wenn einer den anderen betrog, klang mit einem Mal erschreckend hohl.

Es gab nicht viel in Callies Leben, was sie wirklich bedauerte. Aber als sie jetzt im hellen Licht des Morgens, umgeben von lauter Dingen, die sie an Jack erinnerten, am Fenster saß, wünschte sie sich, sie wäre diesem Mann niemals begegnet. Dann hätte sie einfach weiter glücklich und zufrieden wie eine Einsiedlerin gelebt.

Stattdessen war sie innerlich zerrissen.

Während sie weiter an Jack dachte, fielen ihr alle möglichen Szenarien ein, von denen eins so unerträglich wie das andere war. Sie hatte das Gefühl, als säße sie bereits seit Stunden auf der Bank, und blickte auf die Uhr. Es war erst dreißig Minuten her, seit sie aufgestanden war.

Wie sollte sie den Tag – und noch schlimmer, die nächste Nacht – nur überstehen? Obwohl sie sich dafür hasste, wusste sie, dass sie einfach die Zeit totschlug, bis Jack wieder nach Hause kam. Und genau, wie es einen Unterschied zwischen bewusstem Alleinsein und Fallengelassen-Werden gab, gab es auch einen Riesenunterschied zwischen dem Bewusstsein, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab, und dem sicheren Wissen, dass er tatsächlich mit ihr zusammen war.

Callie dachte an all die Male, an denen ihre Mutter einen Besuch erwartet hatte, der am Ende nicht erschienen war. An all die Abende, an denen sie neben dem Telefon gesessen hatte, ohne dass ein Anruf gekommen war. An all die großen und kleinen Formen des Verraten-Werdens, die damit einhergegangen waren, dass sie immer nur die Nummer zwei gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr Leben nur halb gelebt, denn sie hatte sich an einen Mann geklammert, der nie wirklich ihr Mann gewesen war. Nachdem sie jahrelang hatte mit ansehen müssen, wie sich eine solche Beziehung auf einen Menschen auswirkte, war sie sicher davon ausgegangen, ihre Lektion gelernt zu haben und vor Männern, die gebunden waren, auf der Hut zu sein.

Sie machte die Augen zu, drückte ihre Wange an das Fensterglas und dachte an eine Szene aus ihrer Kindheit zurück.

Es war ihr Geburtstag gewesen. Sie war neun geworden, und ihre Mutter hatte einen Vanillekuchen mit Schokoladenglasur gebacken und drei Teller auf den kleinen Küchentisch gestellt. Callie hatte gewusst, was das bedeutete, und ihre Aufregung nur mühsam unter Kontrolle halten können.

Er würde kommen. Dieses eine Mal würde ihr Vater wirklich kommen.

In einer Art von Rollentausch hatte ihre Mutter ihr geholfen, ein hübsches Kleid herauszusuchen, hatte ihr die Haare aufgedreht und zu zwei Zöpfen aufgesteckt. Ihre Mutter war den ganzen Tag gut gelaunt gewesen, und Callie hatte sich bemüht, es zu genießen, denn sie hatte gewusst, die gute Stimmung hielte garantiert nicht endlos an.

Das tat sie nämlich nie.

Sie hatten im Wohnzimmer gesessen, und ihre Mutter hatte ein ums andere Mal dieselbe Zeitschrift durchgeblättert und Callie wegen ihres guten Kleids gezwungen, mit ihren Stofftieren auf dem Stuhl statt auf dem Fußboden zu spielen. Dann hatte das Telefon geklingelt, und sie hatte den Atem angehalten, als ihre Mutter an den Apparat gegangen war. Ihre Stimme hatte einen angespannten Klang gehabt, und sie hatte Callie mit einem erstarrten Lächeln angesehen, das ihr verraten hatte, dass sich ihre Pläne geändert hatten und dass ihre Mutter sich bemühte, nett zu ihr zu sein und den Anrufer nicht vor ihr anzuschreien.

Dann hatte sich ihre Mutter mit dem Telefon ins Schlafzimmer zurückgezogen, eilig die Tür hinter sich zugemacht, und während ihre gedämpfte, wütende Stimme durch das Holz gedrungen war, war Callie in die Küche gegangen und hatte den dritten Teller wieder weggeräumt. Auch die sorgsam gefaltete Serviette, das Messer aus rostfreiem Stahl, die nicht dazu passende Gabel und den Löffel hatte sie wieder weggelegt. Da sie noch zu klein gewesen war, um den Teller in den Schrank zurückzustellen, hatte sie ihn kurzerhand unter der Spüle versteckt.

Nach einer Weile war ihre Mutter mit geröteten Augen und verquollenem Gesicht wieder aus dem Schlafzimmer gekommen, hatte den Kuchen auf den Tisch gestellt, die Kerzen angezündet, und sie hatte sie ausgeblasen und ihre Geschenke ausgepackt, ohne dass es ein wirkliches Fest für sie gewesen war.

Dann war sie früh ins Bett gegangen und Stunden später wieder wach geworden, als ihre Zimmertür aufgegangen war. Das Licht aus dem Flur war auf ihre Bettdecke gefallen und hatte die dunkle Silhouette ihrer Mutter eingerahmt. Das Erste, was Callie an ihr aufgefallen war, war das nachmittags zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckte, jetzt aber unordentliche Haar. Es hatte wie ein zerzauster Heiligenschein um ihren Kopf gelegen und wie eine zerrupfte Krone ausgesehen.

»Steh auf, Callie«, hatte ihre Mutter sie mit bebender Stimme gedrängt.

»Was ist los?«

»Wir müssen noch mal weg.« Ihre Mutter war vor ihren Schrank getreten, hatte wahllos Pullover und Hosen daraus hervorgezerrt und auf den Fußboden geworfen. »Los, beeil dich. Zieh dir etwas an.«

Callie hatte gewusst, dass es nicht ratsam wäre, weitere Fragen zu stellen. Wenn ihre Mutter in dieser Stimmung gewesen war, hatte man am besten einfach nur gehorcht. Und in jener Nacht, als sie zornentbrannt an ihrem Bett gestanden hatte, war es schlimmer gewesen als jemals zuvor.

Draußen auf der Straße, im kalten Januarwind, hatte ihre Mutter ein Taxi herangewinkt. Sie hatten sich in den Fond gesetzt, ihre Mutter hatte krächzend eine Adresse genannt, die Callie nicht gekannt hatte, und auf der zehnminütigen Fahrt, während der das Taxi ein ums andere Mal an irgendwelchen Ampeln angehalten hatte, hatte sie sich gewünscht, sie gingen wieder heim. Sie hatte an ihr warmes Bett gedacht, um sich vom Geruch des Taxis und dem unverständlichen Gemurmel ihrer Mutter abzulenken, denn beides hatte ihr Angst gemacht.

Schließlich hatte das Taxi vor einem großen Privathaus in einer Straße angehalten, die viel prachtvoller als die Straße gewesen war, in der ihre eigene Wohnung lag. In diesem Teil der Stadt lag kein Abfall in den Rinnsteinen, und all die prachtvollen Gebäude waren weihnachtlich geschmückt. An sämtlichen Haustüren hatten große Kränze mit hübschen Samtschleifen gehangen, und durch die großen, blank geputzten Fenster hatte man die flackernden Kerzen an den riesigen Weihnachtsbäumen gesehen.

Ihre Mutter hatte ihre Hand genommen und war die Treppe zur Haustür hinaufmarschiert. Als sie vor die schimmernde Tür getreten waren, hatte ihre Mutter die Hand nach dem Messingklopfer ausgestreckt, und Callie hatte gehofft, sie mache ihn nicht kaputt. Es war ein goldener Löwenkopf mit einem Nasenring gewesen, und er hatte weniger erschreckend als vielmehr majestätisch ausgesehen.

Ihre Mutter hatte den Ring ergriffen, und Callie hatte sich für das Geräusch gewappnet, wenn er gegen die schwere Holztür fiel. Dann aber war ihre Mutter mit einem Mal erstarrt. Hatte einfach dagestanden, eine Hand an dem erhobenen Klopfer, die andere auf Callies Arm.

Sie hatte ihren Arm so fest umklammert, dass es angefangen hatte zu kribbeln, und Callie hatte wimmernd ausgestoßen: »Mami, du tust mir weh.«

Ihre Mutter hatte den Kopf gesenkt und geblinzelt, als hätte sie sich gefragt, was Callie neben ihr vor dieser Haustür tat. Dann war die Tür plötzlich geöffnet worden, der Ring war ihrer Mutter aus der Hand gerutscht und gegen das Holz gekracht.

Hinter der Tür hatte ein Paar gestanden, wie man sie sonst nur in der Zeitung und im Fernsehen sah. Die Frau hatte einen langen, dunklen Pelzmantel getragen und der Mann einen Smoking und einen weißen Schal um seinen Hals.

Sie hatten genauso überrascht wie ihre Mutter und sie selbst gewirkt.

»Guten Abend«, hatte der Mann höflich gegrüßt und sich leicht aus der Hüfte heraus vor ihnen verbeugt. Dann hatte er die Tür ein bisschen weiter aufgemacht, und zusammen mit dem Licht aus dem Foyer war eine wunderbare Wärme aus dem Haus geströmt. Nachdem seine Gattin durch die Tür getreten war, hatte er sie geduldig weiter aufgehalten. »Madam?«

»Wir …« Ihre Mutter hatte eine kurze Pause gemacht. »Wir gehen nicht rein.«

Der Mann hatte die Stirn gerunzelt, während er von seiner Frau weitergezogen worden war, und bevor die Tür wieder ins Schloss gefallen war, hatte Callie einen kurzen Blick auf die Menschen in dem Haus erhascht. Sie alle waren wunderschön gewesen. Wie die Figuren auf einer Hochzeitstorte, hatte sie gedacht.

Ihre Mutter hatte einfach vor sich hingestarrt, und sie selbst hatte verfolgt, wie das Paar, das aus dem Haus gekommen war, in einem anderen eleganten Haus mit einem hübschen Kranz verschwunden war. Sie hätte sich die Gegend gern genauer angesehen, aber der eisige Wind war durch ihren Mantel gedrungen, sie hatte gezittert wie Espenlaub und sich gefragt, warum ihre Mutter nicht zu frieren schien. Sie hatte nicht mal einen Mantel angehabt.

»Können wir jetzt wieder nach Hause gehen, Mami?«

»Ja.«

Ehe ihre Mutter die Treppe wieder hinuntergegangen war, hatte sie noch einmal reglos durch die großen Fenster des Hauses gesehen, und auch Callie hatte sich, neugierig, was ihre Mutter derart faszinierend fand, auf die Zehenspitzen gestellt und hineingeschaut.

Und dann hatte sie ihren Vater im Gedränge all der eleganten Menschen ausgemacht.

»Da ist Daddy!« Vor lauter Aufregung war sie auf und ab gehüpft. »Lass uns zu Daddy gehen.«

Ihre Mutter hatte sie eilig zum Schweigen gebracht. »Jetzt komm.«

»Ich will aber zu Daddy!«

Ihre Mutter war die Treppe wieder heraufgelaufen gekommen und hatte sie hinter sich her auf den Bürgersteig gezerrt, und Callie hatte jämmerlich geschluchzt: »Aber warum können wir nicht zu Daddy gehen?«

Plötzlich hatte sich ihre Mutter vor sie hingehockt.

»Ich habe nein gesagt«, hatte sie sie angezischt, Callie bei den Schultern gepackt und sie unsanft geschüttelt. »Wir gehen nicht in dieses Haus. Hast du mich verstanden? Er hätte dich heute Abend sehen können, aber er hat seine Chance nicht genutzt!«

Callie war in Tränen ausgebrochen.

Sofort war ihre Mutter verstummt und hatte sie mit einem unglücklichen Seufzer in den Arm genommen. »Tut mir leid, Schätzchen. Es tut mir furchtbar leid.«

Abrupt kehrte Callie in die Gegenwart zurück. Ihr Vater hatte sie an keinem ihrer Geburtstage besucht. Er hätte siebenundzwanzig Mal die Gelegenheit dazu gehabt, sie aber kein einziges Mal genutzt.

Sie atmete tief durch und strich sich die Haare aus der Stirn.

Gott, sie hasste die Erinnerung an die Vergangenheit. Sie stellte immer schlimme Dinge mit ihr an, gab ihr das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Lappen in den Hals gestopft und als bekäme sie deshalb nur noch mit größter Mühe Luft.

Sie sprang von der Bank, zog sich an und ging in ihr Atelier. Als sie durch die Garage ging, beschloss sie, ein bisschen Musik zu hören und sich die alten Dokumente anzusehen. Sie ging die CD-Sammlung neben der Stereoanlage durch, beschloss, dass Norah Jones nur dann die Richtige wäre, wenn sie vollends in Selbstmitleid versinken wollte, schob stattdessen eine CD mit schwungvollem Big-Band-Swing in das Gerät und nahm vor der Kiste, die sie bereits geöffnet hatte, auf dem Sofa Platz.

Sie hatte angefangen, die Papiere chronologisch zu sortieren, und war wirklich fasziniert von dem bunten Sammelsurium aus Dokumenten, auf das sie gestoßen war. Es gab handgeschriebene Quittungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, einen Kaufvertrag aus dem Jahr 1871 für das Grundstück, auf dem heute Buona Fortuna stand, ein auf den Namen Phillip Constantine Walker ausgestelltes Harvard-Diplom aus dem Jahr 1811 und ein Stück Papier mit einer kaum leserlichen Unterschrift.

Sie griff blind in die Kiste, zog einen Stapel Papiere daraus hervor und legte sie in ihren Schoß. Das oberste Blatt war der Anfang der Bestandsaufnahme eines Haushalts, und lächelnd ging sie die Liste der Betttücher, Tischdecken und Möbelstücke durch. Der angegebene Wert der jeweiligen Dinge war einfach unglaublich – zwanzig Dollar für einen Mahagoni-Schreibtisch und zehn Cent für eine Wolldecke. Angesichts der Schrift und des verwendeten Papiers stammte die Liste wahrscheinlich aus dem späten neunzehnten Jahrhundert und stellte eine Aufzählung des Inventars von Buona Fortuna dar. Hoffentlich fände sie später noch den Rest des Dokuments.

Es folgten fünf weitere Seiten dieser Liste, darunter eine mit lauter Küchenutensilien, das nächste Blatt jedoch war offenbar ein Brief. Er war älter als die Liste, und die Schrift war schwer zu lesen, weil die Buchstaben verschnörkelt waren und die Tinte stark verblichen war. Callie kniff die Augen zu und starrte auf das Blatt.

Während ich vergeblich darauf hoffte, statt der dunklen Schatten dein liebreizendes Gesicht vor meinem Fenster zu erblicken, sann ich über die Liebe nach und verspürte große Angst vor einem furchtbaren Verlust. Zur Erlangung meiner Unabhängigkeit ziehe ich jetzt in den Krieg, wobei ich dieses Opfer ohne dich nicht bringen kann. Ich habe deiner vergeblich geharrt, und jetzt muss ich mit meinem Trupp gen Norden ziehen, nach Concord. Sorge dich nicht. Unser Geheimnis ist sicher. Dein General wird nie etwas erfahren. Zumindest nicht von mir.
N.W.

Callie las den Brief ein zweites Mal und blickte überrascht auf das Porträt.

Konnte das Schreiben von Nathaniel dem Ersten sein? Hatte er es auf dem Weg in die Schlacht von Concord verfasst?

Oder dachte sie wieder mal an Zebras, nur weil sie auf Hufspuren gestoßen war?

Sie legte das Blatt neben sich, ging eilig die restlichen Papiere, die auf ihren Beinen lagen, durch, legte sie unsortiert zur Seite und zog einen Stapel Dokumente nach dem anderen aus der Kiste, ohne dass sie dabei auf die erste Seite des Schreibens stieß.

»Verdammt.«

Wieder dachte sie über den Inhalt des Fragmentes nach. Ihre Kenntnisse in amerikanischer Geschichte waren nicht besonders ausgeprägt. Natürlich wusste sie, wer Nathaniel Walker gewesen war, und erinnerte sich auch noch ansatzweise an die Schlacht von Concord. Doch wer war der General, mit dem er in den Kampf gezogen war?

Grace, dachte sie. Grace wüsste es bestimmt.

Eilig stand sie auf und ging zurück ins Haus, um ihr Adressbuch aus ihrem Schlafzimmer zu holen, doch als sie in die Küche kam, stieß sie auf eine unglückliche Elsie, die mit Thomas sprach.

»Was ist los?«, wollte sie von der Sekretärin wissen.

Elsie blickte Thomas an, der gerade frischen Spinat in der Spüle wusch.

Mit einem resignierten Schulterzucken meinte er: »Mr Walker ist heute vor fünf Jahren gestorben. Der gnädigen Frau geht es an seinem Todestag immer ziemlich schlecht.«

Callie war überrascht. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass Jacks Mutter zu ehrlicher Trauer fähig war.

Thomas wandte sich wieder Elsie zu. »Versuchen wir es mit dem Côte Basque. Sagen Sie Billy, ich hätte Sie geschickt. Er ist mir noch was schuldig und soll sie deshalb kurzfristig dazwischennehmen. Und dann rufen Sie Curt Thorndykes Mutter Fiona an. Die beiden können gemeinsam in der Vergangenheit schwelgen, was ihr sicher gefallen wird.«

Elsie atmete tief durch. »Okay.«

»Und nehmen Sie, was sie gesagt hat, nicht persönlich. Sie wissen, wie sie ist.«

»Allerdings. Obwohl es mir, offen gestanden, nicht wirklich gefällt, wenn sie in dieser Stimmung ist.«

Nachdem die andere Frau gegangen war, sagte Thomas: »Ich wollte gerade zu Ihnen raufkommen. Gray Bennett hat für Sie angerufen. Ich habe seine Nummer auf dem Block da drüben notiert.«

»Oh, danke. Ich habe das Klingeln des Telefons oben im Atelier gehört, hätte es aber irgendwie nicht richtig gefunden, einfach dranzugehen.« Sie riss das oberste Blatt vom Block und dachte, dass der heutige Abend zum Ausgehen wie geschaffen war. Denn vielleicht würde sie dann nicht mehr die ganze Zeit an Jack denken.

Sie war bereits wieder auf dem Weg nach draußen, als sie sich dran erinnerte, was Gray über Nathaniel den Sechsten erzählt hatte. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber was war er für ein Mensch? Ich meine, Mr Walker.«

Thomas stellte das Wasser ab und lehnte sich an der Arbeitsplatte an.

»Er hat sehr vielen Menschen viel Gutes getan. Und er hat Mrs Walker geliebt. Hat immer gesagt, sie wäre das Beste, was er je geschaffen hat.« Er machte eine Pause, und Callie hatte keine Ahnung, ob er versuchte, sich an die alten Zeiten zu erinnern oder überlegte, wie sich seine Antwort am besten formulieren ließ. »Er war ein attraktiver Mann. Und ein toller Sportler. Ist ganz plötzlich gestorben. Wachte eines Morgens auf und fühlte sich topfit. Zwanzig Minuten später fanden sie ihn leblos unter der Dusche. Hirnaneurisma. Er war auf der Stelle tot.«

Obwohl er mit ruhiger Stimme sprach, schüttelte der Mann den Kopf, als betrauere er noch immer den Verlust.

»Er hat mich wirklich gut behandelt. Ich habe ihn in Osterville kennengelernt. Dort hat er den Sommer verbracht, in dem ich nach meiner Zeit bei der Marine einen Job als Caddie im Wianno Club hatte. Eines Nachmittags im Juli trug ich seine Tasche. Es war ein wirklich heißer Tag. Weit über dreißig Grad und nicht der kleinste Lufthauch, aber er war trotzdem fest entschlossen, die achtzehn Löcher durchzuziehen. Irgendwann gaben die anderen aus seiner Gruppe und deren Caddies auf, aber er und ich haben die gesamte Runde absolviert. Danach hat er niemand anderen mehr seine Tasche tragen lassen. Wir beide waren ein eingeschworenes Team, den ganzen Sommer lang. Und Ende August wollte er von mir wissen, was ich weiter vorhabe. Ich habe ihm erzählt, dass ich gerne koche, und er hat mich mithilfe eines Stipendiums – von dem ich vermute, dass er es extra meinetwegen eingerichtet hat – am Culinary Institute of America untergebracht. Nach meiner Ausbildung habe ich in ein paar Restaurants in New York City gearbeitet. Ich war wirklich gut. Bis ich meinen Arm verlor.«

Thomas sah an sich herab. »Eine unglückliche Bewegung auf meinem Motorrad und aus einem Spitzenkoch wurde jemand, der nicht mal mehr alleine eine Flasche Wein aufbekommen hat.«

Sein Lächeln wirkte ein wenig verhalten, und sie dachte, dass sie wahrscheinlich nicht einmal erahnen konnte, was er hatte durchmachen müssen, bis er über den Verlust der Gliedmaße halbwegs hinweggekommen war.

»Aber wie dem auch sei, nach meiner Genesung bekam ich einen Brief von ihm. Wir hatten die Verbindung nie abreißen lassen, und er hatte erfahren, was geschehen war. Zwei Tage später rief er an und bot mir einen Job als Küchenchef bei ihm zuhause an. Das ist inzwischen beinahe dreißig Jahre her. Ich werde gut bezahlt. Habe meine eigene Küche. Bin ein rundum zufriedener Mann.«

Als wären ihm seine Worte peinlich, setzte er ein etwas schiefes Grinsen auf.

Sie lächelte ebenfalls. »Klingt, als würden Sie ihn vermissen.«

»Ja, wahrscheinlich. Er war immer gut zu mir, obwohl er anderen gegenüber manchmal ziemlich … schwierig war.« Er klappte den Mund zu, als ob er zu viel gesagt hätte. »Hören Sie, falls Sie ungestört telefonieren wollen, gehen Sie einfach in die Bibliothek.«

Callie dankte ihm, und als sie mit ihrem Adressbuch wieder nach unten kam, suchte sie den ihr gewiesenen Raum, ließ sich in einen ledernen Clubsessel sinken und griff nach dem Telefon. Gray kam an den Apparat und lud sie für sieben Uhr zum Abendessen ein, was sie dankend annahm.

Als Nächstes rief sie bei der Hall Foundation an und wurde von Graces Assistentin direkt durchgestellt.

»Callie! Wie geht es dir? Ich komme gerade von einer Reise zurück und hätte dich heute auch noch angerufen. Ich finde es nämlich furchtbar aufregend, dass du den Job bei Jack angenommen hast.«

»Ich muss mich bei dir bedanken, weil du ein gutes Wort für mich eingelegt hast.«

»Das war ja wohl das Mindeste. Wie kommen du und Nathaniel miteinander klar?«

»Bestens. Er ist ziemlich ruhig, aber folgt mir überallhin mit den Augen.«

Grace lachte fröhlich auf. »Und wie behandelt dich der Rest der Familie?«

Callie senkte ihre Stimme auf ein Flüstern, ehe sie gestand: »Der Umgang mit Mrs Walker ist eine ziemliche Herausforderung für mich.«

»Das kann ich mir vorstellen. Und wie läuft es mit Jack?«

»Gut. Okay. Er ist … wirklich nett. Aber wie geht es dir?«

Es folgte eine kurze Pause.

»Ehrlich gesagt nicht ganz so gut. Ich habe das Gefühl, als ob jeder, den ich kenne, versuchen würde, ein Stückchen von mir zu verkaufen. Trotz der Verschwiegenheitsklausel in unserem Scheidungsabkommen droht mein Exmann, ein Buch über intime Details unserer Ehe zu verfassen, einer meiner ehemaligen Projektleiter ist mit einem Enthüllungsbericht über die Hall Foundation hausieren gegangen, und ich musste eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken, und einer unserer alten Portiers hat einen Ghostwriter engagiert, der ein Buch über seine Arbeit in meinem Gebäude schreiben soll. In dem es natürlich auch um mich und meine Ehe gehen wird.«

Callie schüttelte den Kopf. »Das ist ja schrecklich, Grace, vor allem nach dem, was du gerade durchgemacht hast. Du bist bestimmt total erschöpft.«

»Und ob. Denn natürlich hat sich auch die Presse auf all diese Buchvorhaben gestürzt. Inzwischen ist mein zweiter Vorname ›kein Kommentar‹.« Es folgte eine kurze Pause. »Weißt du, Callie, du bist diejenige, die mir, der Stiftung und auch meiner Mutter am meisten hätte schaden können. Du hättest deine Geschichte mühelos zu Geld machen und den Ruf unseres Vaters in den Schmutz ziehen können, aber hast es nicht getan. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.«

Callie lächelte.

»Ich würde dich niemals verraten, Grace. Ich werde niemals auch nur einer Menschenseele irgendwas davon erzählen. Du kannst mir vertrauen.«

»Weißt du, das haben im Verlauf der Jahre jede Menge Leute zu mir gesagt. Aber wenn du es sagst, dann glaube ich es auch.« Wieder verstummte Grace für einen Augenblick. »Ich habe nicht viel Erfahrung darin, anderen zu vertrauen. Abgesehen von Ross und jetzt auch dir.«

»Ross?«

»Du erinnerst dich doch sicher noch an meinen Bodyguard?«

»Oh, ich dachte, er hätte anders geheißen.«

»Stimmt. Aber inzwischen heißt er Ross.«

Callie hätte gerne nach dem Grund dafür gefragt, wollte allerdings nicht neugierig sein.

Deshalb unterhielten sie sich noch ein wenig über ganz banale Dinge, bis sie schließlich sagte: »Hör zu, es gibt da was, was ich dich fragen wollte. Ich bin ein paar alte Papiere der Familie Walker durchgegangen und habe das Fragment eines Briefs entdeckt, den der erste Nathaniel Walker einer Frau geschrieben hat. Zumindest denke ich, dass es Nathaniel der Erste war, obwohl ich mir nicht sicher bin. In dem Brief werden die Schlacht von Concord und ein General erwähnt. Kannst du dich daran erinnern, mit wem Walker bei Concord in die Schlacht gezogen ist? Bevor er von den Briten gefangen genommen worden ist?«

»Sicher. Mit General Rowe. Das war ein wohlhabender Gentleman aus Boston. Einer der Gründerväter.« Graces Stimme bekam einen aufgeregten Klang. »Aber erzähl mir mehr von diesem Brief.«

Callie schilderte ihr die Einzelheiten, und die beiden Frauen tauschten sich über verschiedene Punkte aus.

»Die Sache ist die …« Callie zögerte. »Der Brief hat sehr intim gewirkt. Aber er hat erst nach dem Unabhängigkeitskrieg geheiratet, korrekt?«

»Das stimmt. Eine gewisse Jane Hatte. Damals war er bereits Ende vierzig, das war in jener Zeit uralt. Sie hatten vier Kinder.«

»Dann war er also vielleicht doch nicht der Verfasser dieses Briefs. Oder er hat ihn an Jane geschrieben«, gab Callie zu bedenken.

Grace lachte leise auf. »Das wage ich zu bezweifeln. Denn die Schlacht von Concord fand 1775 statt, und als die beiden 1793 geheiratet haben, war sie gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wenn der Brief für sie bestimmt gewesen wäre, hätte er einer Zweijährigen geschrieben, und das kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor.«

»Nun, ich hoffe, ich finde auch noch den Rest des Briefs.«

»Das hoffe ich auch. Das könnte eine wirklich große Sache werden. Ein Briefwechsel zwischen Walker und einer Zeitgenossin würde ungeheure Aufmerksamkeit bei den Historikern erregen, vor allem, wenn er der Beweis für eine bisher unbekannte Beziehung wäre.« Und nach einer Pause fügte Grace hinzu: »Sag mir, was hältst du von dem Porträt, nachdem du die Chance hattest, es dir ganz genau aus nächster Nähe anzusehen?«

»Copley ist eindeutig ein Genie. Ohne den alten Lack kommen die von ihm benutzen Farben, vor allem an den dunkleren Stellen des Gemäldes, erst richtig zur Geltung. Es ist wirklich phänomenal. Er bringt es fertig, so zu malen, dass ein schwarzer Ärmel einen Schatten wirft. Und seine Pinselführung ist unglaublich.«

»Irgendwas, was problematisch ist?«

»Nein. Nicht wirklich. Die Leinwand ist noch gut in Schuss, und auch die Farbe ist an den meisten Stellen noch sehr gut erhalten. Es gibt nur einen kleinen Bereich, der mir Sorgen macht, aber ich glaube, dass das keine große Sache ist. Vielleicht wurde die Stelle übermalt.«

»Wirklich?«

»Aber ich bin mir nicht sicher. Erst mal säubere ich die Ränder, deshalb wird es noch eine Weile dauern, bis ich an der fraglichen Stelle bin und Genaueres erkennen kann. Bis jetzt ist es nur so ein Gefühl.«

»Unterschätz dich nicht«, bat Grace. »Manchmal fallen einem geschulten Auge überraschende Dinge auf.«

»Vielleicht.«

»Weißt du was? Nach Thanksgiving komme ich nach Boston. Zu der Party der Walkers. Jack hat mich und Ross zu euch eingeladen.«

»Oh. Ich meine, das ist wirklich toll!« Dies war das erste Mal, dass Callie von einer Party hörte, und ihr dämmerte, dass es wahrscheinlich besser wäre, wenn sie über die Feiertage wieder nach New York fahren würde. Falls Jack Übernachtungsgäste eingeladen hatte, bräuchte er vielleicht den Raum, in dem sie augenblicklich schlief.

Dann runzelte sie sorgenvoll die Stirn. »Warte. Dein Bodyguard kommt mit? Brauchst du denn noch immer Schutz?«

»Tatsächlich ist er inzwischen viel mehr als nur mein Bodyguard.« Plötzlich hatte ihre Stimme einen glückseligen Klang, der bereits Bände sprach.

Callie lächelte. »Klingt, als wärst du verliebt.«

»Und ob. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns darüber klar geworden sind, und wir versuchen nach wie vor, uns daran zu gewöhnen. Aber ohne ihn wäre mein Leben einfach nicht vollständig.«

»Das freut mich für dich. Wirklich.«

Schließlich legte Callie wieder auf und sah hinaus. Es war später Nachmittag und der Himmel milchig. Sie war überrascht, weil bald schon Thanksgiving war, und sie stellte sich vor, wie sie wieder in ihrer Absteige in Chelsea saß, ein Fertiggericht in die Mikrowelle schob und sich fragte, was Jack wohl gerade tat.

Keine wirklich verlockende Vorstellung, fand sie.