18
Am nächsten Abend tauchte Gray Bennett auf. Er sah alles andere als glücklich aus.
»Wo in aller Welt hast du die ganze Zeit gesteckt?«, fragte er Jack, kaum dass er durch die Tür getreten war. »Du hast auf keinen meiner Anrufe der letzten Tage reagiert – Himmel, was ist denn mit dir passiert?«
»Autounfall.« Er bat Gray in sein Arbeitszimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Als er sich vorsichtig in seinen Schreibtischsessel sinken ließ, wünschte er sich verzweifelt, nicht derart eingeschränkt zu sein. Die blauen Flecken würden bald verblassen, aber der gottverdammte Arm würde ihm noch mindestens anderthalb Monate zu schaffen machen, hatten ihm die Ärzte prophezeit.
»Meine Güte.« Gray starrte ihn an, zog den Mantel aus und warf ihn achtlos auf die Couch. »Bist du okay?«
»Nur ein bisschen verbeult, sonst nichts.«
»Nun, ich bin wirklich froh, dass es dich nicht schlimmer erwischt hat. Aber trotzdem hättest du mich zurückrufen können. Inzwischen hat unser Projekt nämlich eine Art Eigenleben entwickelt, und es ist in deinem eigenen Interesse, immer auf dem Laufenden zu sein.«
»Ich weiß.« Nur dachte er, seit er verliebt war, eher an andere Dinge als an Politik. »Jetzt setz dich endlich hin und erzähl mir, was ich wissen muss.«
Gray machte es sich in einem Clubsessel bequem, schlug die Beine übereinander und wippte mit einem Fuß.
»Irgendwas, worüber ich mir Sorgen machen muss?«, fragte Jack ihn ruhig.
»Ich habe eben einen Anruf aus New York bekommen. Deshalb bin ich hier. Man erzählt sich, du und Blair hättet Eure Verlobung gelöst. Willst du mir vielleicht erzählen, was das zu bedeuten hat?«
Das Telefon neben Jacks Ellbogen fing an zu klingeln, aber statt an den Apparat zu gehen, drückte er einfach auf einen Knopf. »Wir haben uns getrennt. Das heißt, ich habe mich von ihr getrennt. Die Verlobung war ein Riesenfehler, und wie meistens in solchen Fällen habe ich das erst erkannt, nachdem jemand verletzt worden war. Ich bedaure, was passiert ist, aber es war eindeutig die richtige Entscheidung, einen Schlussstrich unter diese Beziehung zu ziehen.«
Grays Fuß hörte auf zu wippen. »Ich bin zuallererst dein Freund, also muss ich diese Fragen stellen. Wie geht es dir?«
»Gut. Abgesehen davon, dass ich mich ziemlich beschissen fühle, weil ich Blair das angetan habe.«
»Tja, tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat. Sie ist nämlich eine wirklich tolle Frau.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Aber ich bin auch dein politischer Berater, weshalb ich Klartext mir dir reden muss.«
»Schieß los.«
Jack zupfte an der Schlinge und brachte in dem Bemühen, den Druck auf seine Schulter ein wenig zu mildern, seinen gebrochenen Arm in eine andere Position. Ein Gespräch mit Gray war längst schon überfällig, und wenn nötig, nähme er sich die nächsten ein, zwei Stunden Zeit.
»Über die Bedeutung der gelösten Verlobung reden wir gleich. Erst mal zu der Wahl. Langsam sollten wir Nägel mit Köpfen machen. Obwohl es noch über ein Jahr bis zur offiziellen Eröffnung des Wahlkampfs ist, machen bereits die ersten Spekulationen die Runde. Deshalb will ich von dir wissen, ob du noch immer die Absicht hast zu kandidieren.«
»Solange nicht irgendwas Dramatisches passiert, auf jeden Fall.«
»Gut. Dann werde ich mich in aller Stille nach einem einheimischen Wahlkampfmanager umsehen. Ich kenne ein paar gute Leute, die hoffentlich noch nicht alle irgendwo untergekommen sind. Auch das ist ein Grund, weshalb du dich jetzt endgültig entscheiden musst.« Gray bildete ein Dreieck mit den Händen und blickte seinen Freund über die Fingerspitzen hinweg an. »Und jetzt zu Blair. Ich bin froh, dass ihr die Verlobung nicht schon öffentlich bekannt gegeben hattet und dass, wenn du schon so dicht vor Beginn des Wahlkampfs eine Verlobung lösen musstest, sie das Opfer war. Denn sie ist eine echte Dame und vor allem durch und durch integer, weshalb ich nicht glaube, dass sie mit der Geschichte ihres gebrochenen Herzens hausieren gehen wird.«
Jack nickte zustimmend. »So was würde Blair nie tun. Es gibt also nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen.«
»Vielleicht in Bezug auf sie.« Gray stand auf und fing an, vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Trotzdem müssen wir eine gewisse Schadensbegrenzung betreiben. Weil schließlich auch andere Leute wissen, dass du sie gebeten hattest, dich zu heiraten. Und wenn herauskäme, dass eine andere Frau der Grund für die Lösung der Verlobung war …«
»Wer hat etwas von einer anderen Frau gesagt?«
Gray bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Versuch am besten gar nicht erst, mir etwas vorzumachen, ja?«
»Ich streite es ja gar nicht ab. Aber ich will wissen, wer es dir verraten hat.«
»Karl Graves.«
Jack presste die Lippen aufeinander. »Dann weiß also bereits ganz Manhattan darüber Bescheid?«
»Das glaube ich nicht. Ich kenne ihn schon eine ganze Weile, und er hat mich angerufen, weil er sich Sorgen um Blair gemacht hat und von mir wissen wollte, was in aller Welt zwischen euch beiden vorgefallen ist.« Gray stützte seine Hände auf der Schreibtischplatte ab und beugte sich nach vorn. »Was ich damit sagen will, ist, dass das genau die Art von playboyhaftem Benehmen ist, über das am besten nicht den Zeitungen berichtet wird. Ich denke, die Gespräche mit der Presse übernehme erst mal ich. Dann kann ich mögliche Anfragen der Journalisten abwehren. Dadurch wärst du vorübergehend geschützt.«
»Meinetwegen«, meinte Jack, ohne ihn anzusehen.
»Hör zu, mach dir keine Gedanken. Ich komme damit schon klar. Schließlich ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dich die Leute ernst nehmen, und das kriege ich auf alle Fälle hin.«
Jack dachte an all die Schlagzeilen, für die er in den letzten Jahren gut gewesen war, und schüttelte den Kopf. Eine gelöste Verlobung passte hervorragend ins Bild. »Meine Güte, Gray, hältst du mich für verrückt, weil ich mich um dieses Amt bewerben will?«
»Nein, nur ist es einfach so, dass du ein paar Probleme überwinden musst, wenn du eine Chance haben willst.« Er richtete sich wieder auf. »Du hattest noch nie ein politisches Amt, und das spricht gegen dich. Du bist ein erfolgreicher Geschäftsmann, und der Name deiner Familie arbeitet natürlich auch für dich, nur ist es einfach so, dass dich die Presse wegen deiner wilden Jahre auseinandernehmen wird. Wobei es durchaus von Vorteil ist, dass, solange du mit Blair zusammen warst, immer nur positiv über dich berichtet worden ist. Ich bin momentan einfach etwas in Sorge, dass durch die Geschichte mit Blair eine Lawine losgetreten wird, bevor du auch nur halbwegs fest im Sattel sitzt. Je mehr Wähler dich kennenlernen, bevor sie an deine Vergangenheit erinnert werden, umso besser. Was eine weiterer Grund dafür ist, möglichst laut und früh bekannt zu geben, dass du kandidieren willst.«
»Du hast von Schadensbegrenzung gesprochen. Soll ich mit Blair reden?«
»Nein, über sie mache ich mir wirklich keine Gedanken.« Doch nach einer kurzen Pause fügte Gray hinzu: »Ich möchte, dass du mit Callie sprichst.«
Jack runzelte die Stirn. »Worüber?«
»Sie ist diejenige, derentwegen du die Verlobung mit Blair gelöst hast, stimmt’s?« Als Jack nickte, meine Gray: »Hast du die Absicht, längerfristig mit ihr zusammen zu sein? Oder ist das mit ihr nur ein vorübergehender Flirt?«
»Was zum Teufel ist denn das für eine Frage?«
»Eine verdammt wichtige. Weshalb du mir vielleicht auch später irgendwann erzählen wirst, warum du mich mit der Frau verkuppeln wolltest, obwohl sie dir anscheinend selbst gefällt.«
Jack stand auf, trat vor die Bar und sah Gray fragend an. »Möchtest du einen Bourbon?«
»Bradford’s?«
»Gibt es bei mir jemals einen anderen?«
Er reichte Gray sein Glas, und sie nahmen beide wieder Platz.
»Callie ist viel mehr für mich als nur ein One-Night-Stand. Ich habe mich in sie verliebt.«
Gray wollte gerade den ersten Schluck von seinem Bourbon trinken, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und starrte den Freund mit großen Augen an. »Mein Gott. Du meinst es wirklich ernst.«
»Allerdings. Sie ist alles, wonach ich nicht gesucht habe, und zugleich alles, was ich will.«
Gray schüttelte den Kopf. »Das freut mich für dich. Wirklich. Wenn ich ein bisschen überrascht aussehe …«
Jack lachte fröhlich auf. »Ist das total verständlich. Und denk dran, wenn mir so was passieren kann, kann es auch dir …«
»Sprich den Satz am besten gar nicht erst zu Ende aus.« Gray nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und knirschte mit den Zähnen. »Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Ich nehme also an, dass Callie im Wahlkampf eine Rolle spielen wird. Sie muss allerdings wissen, worauf sie sich einlässt, wenn sie bei dir bleibt. Denn dann wird sie schließlich in sämtliche Scharmützel einbezogen werden, und es wäre ein Gebot der Fairness, dass du ihr das sagst.«
Jack nickte widerstrebend mit dem Kopf. Das Letzte, was er wollte, war, sie in den Medienrummel um seine Person hineinzuziehen, nur musste er sich eingestehen, dass das unvermeidbar war.
»Ich werde mit ihr reden«, sagte er deshalb.
»Außerdem wäre es hilfreich, etwas über ihren Hintergrund zu wissen.«
»Das ist kein Problem.« Schulterzuckend gab er dem Freund eine knappe Zusammenfassung ihres Lebenslaufs.
»Und was ist mit ihrer Familie?«
»Darüber redet sie nicht gern.«
»Finde heraus, warum.«
»Gray, ich werde bestimmt nicht hinter meiner …« Er war sich nicht sicher, als was er sie bezeichnen sollte. Freundin? Geliebte? Diese Worte klangen viel zu schwach für das, was er empfand, wenn er mit ihr zusammen war.
Während er nach Worten suchte, meinte Gray in ruhigem Ton: »Wir müssen einfach wissen, wer sie ist.« Und als Jack vernehmlich fluchte, fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Dies ist erst der Anfang. Hast du überhaupt schon mal darüber nachgedacht, was dieser Wahlkampf aus deinem Leben machen wird? Bist du dir wirklich sicher, dass du dich derart durchleuchten lassen willst?«
»Ich weiß, dass ich Gouverneur von Massachusetts werden will.« Jack hob sein Glas an seinen Mund. »Und dafür werde ich alles Erforderliche tun. Aber ich will nicht, dass Callie in diese Schlammschlacht einbezogen wird. Ich bin bereit, die Schläge einzustecken, aber ich werde nicht dulden, dass irgendwer sein Mütchen an ihr kühlt.«
Gray zögerte. »Hör zu, vielleicht solltest du noch ein bisschen darüber nachdenken, was die Kandidatur für euch beide zu bedeuten hat. Du weißt, ich werde es dir nicht verdenken, wenn du es dir noch einmal anders überlegst. Du kannst noch immer einen Rückzieher machen, solange du deine Kandidatur nicht offiziell bekannt gegeben hast.«
In diesem Augenblick klopfte jemand von außen an die Tür.
»Herein«, bat Jack.
Callie streckte den Kopf herein. »Gray! Ich wusste gar nicht, dass Sie heute vorbeikommen. Werden Sie mit uns zu Abend essen?«
Gray sah sie mit einem freundlichen Lächeln an, trank den Rest von seinem Bourbon und stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab.
»Nein, ich wollte gerade gehen.« Er nahm seinen Mantel von der Couch. »Wir telefonieren, Jack.«
Jack nickte, starrte dabei aber Callie an, und als sie allein waren, wollte sie stirnrunzelnd von ihm wissen: »Warum siehst du mich so an?«
Weil ich bereit bin, jeden umzubringen, der versucht, dir auch nur ein Haar zu krümmen.
»Jack?«
Er winkte sie mit seinem gesunden Arm zu sich heran. »Tut mir leid. Komm her, damit ich dich küssen kann.«
Sie machte die Tür hinter sich zu, und sein Blut fing an zu rauschen, als er sah, wie sie in seine Richtung kam. Er hatte inzwischen so oft mit ihr geschlafen, dass es kaum zu glauben war, dass sie ihn noch mindestens so faszinierte wie am ersten Tag. Dass er sie, nachdem er sie bekommen hatte, noch immer derart begehrte, kam ihm wie das reinste Wunder vor.
So etwas nannte man Liebe, dachte er.
Er zog sie auf seinen Schoß, bevor er mit der Hand über ihren Oberschenkel glitt. »Weißt du was?«
»Was?«
»Du bist wunderschön.« Er küsste sie zärtlich auf den Mund, und als sie sich an ihn schmiegte, dachte er an sein Gespräch mit Gray zurück. War ihm wirklich klar, was eine Kandidatur bedeutete? Butch Callahan gäbe bestimmt nicht kampflos auf, und all die anderen Kandidaten wären auf das Amt des Gouverneurs nicht weniger erpicht als er.
Was hieß, dass bald die Samthandschuhe ausgezogen würden. Denn um zu gewinnen, wäre seinen Konkurrenten sicher jedes Mittel recht.
Die Frage war die, wie wichtig war ihm selbst ein Sieg? Und welche Opfer nähme er dafür in Kauf?
»Jack?«
»Hmmm?«
»Fährst du auch manchmal weg? Ich meine, machst du jemals Urlaub oder so?«
Er schob ihr Haar von ihrem Hals und presste den Mund an seine Lieblingsstelle direkt hinter ihrem Ohrläppchen. »Warum?«
»Vielleicht könnten wir ja nach den Feiertagen rauf in den Norden fahren. Nur für ein Wochenende. Dann wären wir gar nicht so lange …«
Er unterbrach sie mit einem endlos langen Kuss. »Lass uns eine Woche fahren.«
Als er ihr breites Lächeln sah, dachte er, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, wenn sie sogar noch länger wegbleiben würden.
Ein paar Tage später lagen sie in ihrem Bett, und obwohl Callie bereits die Augen zugefallen waren, meinte Jack: »Ich möchte dich was fragen.«
»Was?«
»Warum hast du so lange gewartet, bevor du zum ersten Mal mit einem Mann ge…, intim geworden bist?«
Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte. Natürlich würde sie die Wahrheit sagen, nur wusste sie nicht, wie.
»Nun, abgesehen davon, dass ich ein ziemlich zurückhaltender Mensch bin, musste ich neben dem College und der Uni immer arbeiten, hatte also praktisch rund um die Uhr zu tun. Und als ich mit meinem Studium fertig war, wurde meine Mutter krank. Sie hatte Multiple Sklerose, und je schlechter es ihr ging, umso seltener konnte ich sie alleinlassen. Für eine Pflegerin hat uns das Geld gefehlt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Für eine Beziehung braucht man Zeit und Energie, und ich hatte weder das eine noch das andere.«
»Du hättest dich nicht allein um deine kranke Mutter kümmern müssen sollen«, erklärte er in missbilligendem Ton. »Was war mit deinem Vater? Wo hat er damals gesteckt?«
»Er war, ähm, in einer schwierigen Situation.«
Jack stützte seinen Kopf auf seine gesunde Hand, legte den Gips auf dem Kopfkissen ab und bedachte sie mit dem für ihn typischen durchdringenden Blick.
»Dann hast du sie also wirklich ganz allein versorgt?«
»Ich hatte keine andere Wahl«, erklärte sie. »Ich habe mich einfach durchgewurschelt, mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg. Oft habe ich den Druck fast nicht mehr ausgehalten und hätte alles getan, um von meiner Mutter fortzukommen. Ich habe noch immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, was mir damals manchmal für Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Sie hat es sich schließlich nicht ausgesucht, krank zu werden, zu leiden, immer hilfloser zu werden, bis sie starb. Doch ich kam mir so … gefangen vor. Ich wollte sie nicht alleinlassen, denn ich hatte Angst, dann würde irgendwas passieren, aber manchmal wollte ich einfach nur noch raus. Ich schätze, ich hätte es besser machen können. Ich …«
»Du bist bei ihr geblieben«, widersprach er ihr. »Das ist das Einzige, was zählt.«
Sie seufzte leise auf. »Ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen und es besser machen.«
»Ich finde, du bist zu streng mit dir.« Er küsste sie sanft auf den Mund. »Und ich verstehe einfach nicht, wie dein Vater tatenlos mit ansehen konnte, dass du dich derart abgerackert hast.«
»Ehrlich gesagt hätte es die Dinge nur verkompliziert, wenn er bei uns gewesen wäre. Denn wenn er da war, hat das unser Leben nicht gerade einfacher gemacht.«
»Was war er für ein Mensch?«
Sie blickte unter die Decke und kam zu dem Ergebnis, dass es wahrscheinlich in Ordnung wäre, gäbe sie ein paar anonyme Einzelheiten preis. »Er war … überlebensgroß. Immer wenn ich mit ihm zusammen war, hatte ich das Gefühl, in der Nähe eines bedeutenden Menschen zu sein. Er war fast so groß wie du, und im Vergleich zu ihm habe ich mich immer vollkommen bedeutungslos gefühlt.«
»Standet ihr zwei euch nahe?«
»Ganz im Gegenteil. Er war sehr selbstbewusst, außer wenn er versuchte, sich mit mir zu unterhalten, denn dann brachte er nur mit Mühe einen Ton heraus. Ich glaube, er ist mir aus dem Weg gegangen, weil ihm nicht gefallen hat, wie er sich fühlte, wenn er mit mir zusammen war. Einflussreiche Menschen fühlen sich nur wohl, wenn sie sich und ihre Umgebung völlig unter Kontrolle haben, glaube ich.«
»Trotzdem finde ich es einfach schändlich, wie er sich verhalten hat«, murmelte Jack. »Womit hat er seinen Lebensunterhalt verdient?«
Sie sah ihm ins Gesicht und suchte nach einer Möglichkeit, das Thema zu beenden. »Er war Geschäftsmann. Aber über diesen Aspekt seines Lebens weiß ich nicht besonders viel.«
»War er oft dienstlich unterwegs?«
»Ich nehme an, das kann man sagen.«
»Und in welchem Bereich hat er gearbeitet?« Als sie ihm keine Antwort gab, runzelte Jack die Stirn. »Du lässt ziemlich viel bei deiner Erzählung aus, nicht wahr?«
Sie schwieg weiter, woraufhin er sie reglos anstarrte.
»Lass uns von etwas anderem reden«, schlug sie schließlich leise vor.
»Okay.«
Sie atmete erleichtert auf, bis er von ihr wissen wollte: »Und warum willst du mir nichts von deinem Vater erzählen?«
Sie spürte, dass sie in eine Abwehrhaltung ging. »Ich will einfach nicht über ihn reden, okay?«
»Vertraust du mir nicht?«
»Was soll das heißen?«
»Wenn du mich das fragen musst, glaube ich, dass ich die Antwort darauf weiß.« Er rollte sich auf den Rücken.
»Ich habe einfach keine Lust, über den Mann zu reden.«
Er drehte seinen Kopf und sah sie wieder an. »Aber vielleicht will ich ja einfach wissen, wer er war.«
Sie setzte sich auf und schlang sich die Arme um die Knie. »Was spielt das denn für eine Rolle? Er ist tot, und die Probleme, die ich mit ihm hatte, liegen hinter mir. Deshalb ist das Thema für mich abgehakt.«
Wieder folgte eine lange Pause.
»Ich glaube, wir müssen miteinander reden, Callie«, meinte er schließlich in einem so grimmigen Ton, dass sie erschreckt zusammenfuhr.
»Worüber?«
»Über uns. Über die Zukunft.«
Sie sah ihn über ihre Schulter hinweg an. Er hatte seinen Kopf auf seine gesunde Hand gelegt, und seine nackte Brust war nur teilweise von ihrem Federbett bedeckt.
»Und wie stellst du dir die Zukunft vor?«, fragte sie und hoffte voller Inbrunst, dass sie die Antwort auch ertrug. Am Abend des Unfalls hatte er gesagt, er dächte, dass er sie liebe, aber bisher hatten sie nicht darüber gesprochen, wie es weitergehen sollte, wenn die Arbeit an dem Bild beendet war.
»Hast du schon einmal daran gedacht, dauerhaft nach Boston umzuziehen?«, wollte er von ihr wissen. »Du könntest hier genauso gut arbeiten wie in New York.«
Langsam kehrte ihr Lächeln zurück. »Das stimmt.«
»Und wir könnten uns weiter regelmäßig sehen.«
Sie atmete erleichtert auf. »Das würde mir gefallen. Das würde mir wirklich gefallen.«
Er packte sie und zog sie abermals auf sich herab.
»Mir auch«, erklärte er ihr dicht an ihrem Mund, gab ihr einen Kuss, machte sich dann allerdings wieder von ihr los.
»Wegen der Wahl.« Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Falls ich entscheide zu kandidieren, wird es sicher ganz schön hart. Und falls du mich dabei unterstützen willst, musst du dafür gewappnet sein.«
»Du meinst, ich soll in Deckung gehen, falls sie mit Tomaten nach uns werfen?«
»Nun, ja.« Er lachte leise auf. »Aber ich dachte eher an die Presse. Du solltest dafür gewappnet sein, dass sie Nachforschungen über dich anstellen.«
Eine Woge der Angst stieg in ihr auf und löschte die Erleichterung, die sie noch einen Augenblick zuvor empfunden hatte, aus.
»Was willst du damit sagen?«
»Die Medien und meine politischen Gegner werden mich völlig auseinandernehmen. Meine Vergangenheit, unsere Beziehung, dein Hintergrund – mit alldem werden sie sich gründlich beschäftigen.«
Sie fuhr auf und versuchte, sich vorzustellen, was passieren würde, grübe jemand in ihrer Vergangenheit. Das Geheimnis ihres Vaters, das sie jahrelang gehütet hatte, wäre ein gefundenes Fressen für die Journaille. Sie konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen.
Und dann war da auch noch Grace. Sie hatte ihr versprochen, sie niemals zu verraten, und obwohl sie ihre Halbschwester nicht vorsätzlich verkaufen würde, liefe es am Ende auf dasselbe hinaus. Dann erführe die ganze Welt von der Untreue ihres Vaters, und Grace würde die Zielscheibe weiterer Enthüllungsgeschichten sein.
Auch Jack setzte sich auf, denn er hatte ihre Besorgnis offenbar gespürt. »Natürlich werden sie sich vor allem auf mich stürzen, und Gray und ich werden uns schützend vor dich stellen.«
Sie sah ihn durchdringend an. »Du hast gesagt, falls du kandidierst. Besteht also auch die Möglichkeit, es nicht zu tun?«
Er wirkte ehrlich überrascht. »Warum sagst du mir nicht einfach, was dir solche Sorgen macht?«
Als sie daran dachte, ihm alles zu erklären, schnürte sich ihre Kehle zu. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie weiterschwieg. Schließlich betraf die Angelegenheit auch ihre Schwester Grace, und auch wenn Jack und sie befreundet waren, wusste Callie nicht, wie innig diese Freundschaft war. Außerdem hatte sie Grace versprochen, mit keinem Menschen über die Vergangenheit zu reden, und stünde auch weiterhin zu ihrem Wort.
»Ich will einfach nicht, dass irgendwer in meinem Leben rumschnüffelt«, gab sie zurück. »Das ist alles.«
Jack runzelte die Stirn und sah sie reglos an. »Was genau hast du zu verbergen?«
Sie wandte sich ab.
»Sag es mir, Callie.«
»Ich kann nicht.«
Wieder senkte sich angespannte Stille über den halbdunklen Raum.
»Warum nicht?«
Als sie weiterschwieg, schwang er sich aus dem Bett und zog seine Hose an.
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß nicht, was in deiner Vergangenheit geschehen ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas derart Schlimmes war, dass du es mir nicht erzählen kannst.«
»Jack, bitte sei nicht so.« Sie streckte ihre Arme nach ihm aus, doch er machte einen Schritt zurück und schob seine gesunde Hand in den Ärmel seines Hemds. »Hör zu, ich weiß nicht, warum du einen derartigen Wirbel darum machen musst. Schließlich hast du noch nicht endgültig entschieden, ob du kandidieren willst, oder?«
Er sah sie böse an. »Worüber ich mir momentan Gedanken mache, ist, wie wenig Vertrauen du zu mir hast.«
»Aber ich vertraue dir.«
»Dann sprich mit mir.«
Sie schwieg erneut, und er wandte ihr den Rücken zu.
»Verdammt«, murmelte er, während er in seine Slipper stieg. »Ich war überzeugt davon, dass du mir gegenüber immer ehrlich bist. Ich kann einfach nicht glauben, was du jetzt für ein Theater machst.«
Was machte sie denn für ein Theater? Als hätte sie darum gebeten, Tochter eines Vaters zu sein, der über ihre bloße Existenz entsetzt gewesen war.
Mit einem Mal empfand sie heißen Zorn, sprang aus dem Bett und hüllte sich in eine Decke ein.
»Worum geht es dir wirklich, Jack? Machst du dir nur Sorgen um uns? Oder hast du vielleicht Angst, dass dein Erfolg bei den Wählerumfragen durch mich geschmälert wird?«
Er hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich werde versuchen zu vergessen, was du da gerade gesagt hast.«
Sie kniff die Augen zu und wünschte sich, sie könnte diesen Satz zurücknehmen.
»Es tut mir leid.«
»Mir auch.« Damit marschierte er zur Tür.
»Jack, warte …«
»Ich möchte jetzt lieber nicht mehr reden, wenn du nichts dagegen hast.«
Nachdem er gegangen war, setzte sich Callie wieder aufs Bett, machte die Augen zu und spürte dem wilden Klopfen ihres Herzens nach.
Sie war so darauf gedrillt, das Geheimnis ihres Vaters zu bewahren, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemandem seinen Namen zu enthüllen. Nicht mal Jack.
Gott, wie früh und gut hatten ihre Eltern sie darauf trainiert.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie, als sie elf gewesen war, mit ihrer Mutter an der Grand Central Station gestanden hatte. Während sie auf ihren Zug gewartet hatten, hatte sich in ihrer Nähe ein Geschäftsmann die Schuhe putzen lassen. Der Mann hatte eine Zeitung vor dem Gesicht gehabt, aber sie hatte gewusst, dass er jemand wie ihr Vater war, weil er dieselbe Art von Kleidern trug.
Sie hatte ihn beobachtet und sich gefragt, was für ein Gefühl es war, sich die Schuhe putzen zu lassen, während man sie an den Füßen hatte, als er plötzlich die Zeitung umgeblättert hatte, woraufhin ein Foto ihres Vaters auf der Rückseite zu sehen gewesen war. Aufgeregt war sie zu dem Mann gelaufen und hatte ihm stolz erklären wollen, wer ihr Vater war.
Ihre Mutter hatte sie zurückgezerrt und dem Mann lächelnd erklärt: »Sie denkt, dass jeder Mann, der eine Krawatte trägt, ihr Vater ist.«
»Das tue ich nicht.«
»Bitte entschuldigen Sie uns.«
Der Mann hatte genickt und sich wieder seiner Lektüre zugewandt, aber während Callie von ihrer Mutter fortgezogen worden war, hatte er eine Ecke seiner Zeitung sinken lassen und ihnen nachgesehen. Ihre Mutter hatte seinen neugierigen Blick bemerkt, Callie in eine Ecke gedrängt und ihm so gut es ging die Sicht auf sie versperrt.
Sie war völlig außer sich gewesen und hatte sie angefaucht: »So etwas darfst du nicht tun. Du weißt doch, dass dein Vater ein Geheimnis ist. Ein Geheimnis, von dem niemand außer uns dreien etwas wissen darf.«
Natürlich hatte Callie das gewusst, allerdings war sie es einfach leid gewesen, jedes Mal den Mund zu halten, wenn die Sprache auf ihren Erzeuger kam. Niemand außer ihr musste vor aller Welt verbergen, wer sein Vater war.
»Ich habe es doch nur einem Fremden erzählt.«
»Aber was passiert, wenn man ein Geheimnis ausplaudert?«, hatte ihre Mutter sie gefragt.
»Dann braucht man es nicht länger zu bewahren«, hatte sie erwidert und trotzig die Hände in die Hüften gestemmt.
»Nein. Nein – Callie, sieh mich an. Soll ich dir sagen, was passiert, wenn man ein Geheimnis verrät? Dann verliert man etwas ganz Besonderes.«
Callie hatte starrsinnig den Kopf geschüttelt. Sie hatte von den ständigen Ermahnungen und dem dämlichen Geheimnis endgültig genug gehabt. Vor allem hatte sie noch nicht einmal etwas davon, dass sie immer ein braves Mädchen war. Denn obwohl sie immer tat, was man ihr sagte, sah ihr Vater ihr noch nicht mal in die Augen, wenn er bei ihnen erschien.
»Ich meine es ernst, Callie.«
In dem Moment war es ihr vollkommen egal gewesen, wie streng ihre Mutter war. »Na und? Selbst wenn ich Daddy verliere, wenn ich jemandem von ihm erzähle, wen interessiert das schon?«
Ihre Mutter hatte ihre Schultern gepackt und ihr Gesicht so dicht an sie herangeschoben, dass sich ihre Nasen fast berührt hatten. »Wenn du jemandem von ihm erzählst, werden wir beide ihn verlieren«, hatte sie erklärt, und als Callie in ihr bleiches Gesicht gesehen hatte, hatte sie resigniert.
Callie kehrte in Gedanken in die Gegenwart zurück und hörte, wie Artie im Schlaf auf die Jagd nach Murmeltieren ging. Sie blickte über den Bettrand, sah, dass seine Pfoten zuckten, und hörte das aufgeregte Fiepen, das aus seiner Kehle drang.
Gott, sie wünschte sich, sie könnte etwas anderes von sich erzählen. Doch das konnte sie nicht.
Und das jahrelange, sorgsam antrainierte Schweigen brach sich nicht so leicht. Nachdem sie ihr Geheimnis ein Leben lang gehütet hatte, fühlte es sich irgendwie nicht richtig an, es einem Menschen zu erzählen, selbst wenn dieser Mensch Jack Walker war.
Wenn sie sich einem Menschen anvertrauen konnte, dann ja wohl auf alle Fälle ihm.
Aber was war mit der Wahl? Mit den Medien? Es war gar nicht sicher, dass ein Journalist ihr auf die Schliche kommen würde. Wäre sie jedoch bereit, das Wagnis einer Enthüllung einzugehen, obwohl dadurch nicht nur der Seelenfrieden, sondern auch die Sicherheit ihrer Schwester in Gefahr geriet?
Artie zuckte zusammen und stieß ein halbes Bellen aus.
»Wach auf«, murmelte sie, beugte sich erneut über den Bettrand und tätschelte den Hund. »Los, wach auf.«
Er machte vorsichtig die Augen auf und sah sie dankbar an. Vielleicht hatten dieses Mal ja die Murmeltiere Jagd auf ihn gemacht.
Plötzlich hatte sie das Gefühl zu wissen, wie das war. Sie war schon seit geraumer Zeit vor dem zweifelhaften Erbe ihres Vaters auf der Flucht, aber verdammt, bisher hatte die Geschichte sie noch immer eingeholt.
Sie strich Artie über den Kopf, bis er die Augen wieder schloss, drückte ein Kissen gegen das Kopfteil des Betts, lehnte sich dagegen, starrte auf den Caravaggio über dem Kamin und wog in der Stille ihres Zimmers ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart gegeneinander ab.